Rating: P12 [CN: Artensterben, Kolonialismus]
Nach dem Prompt „Banggai-Kardinalbarsch/tierische Prinzipien“ der Gruppe „Crikey!“
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"Papa, wer ist die Frau?"
Aryun hielt inne. Seine Tochter deutete auf die Statue aus Feuerstein, der er schon seit Jahren keine Beachtung mehr schenkte. Sie stellte einen Mann in zur Erde fallenden Gewändern dar, mit einem spitzen Bart - und einer auffälligen Kopfbedeckung, die in Falten zur Seite geneigt war, als trüge er ein halb geöffnetes Buch auf dem Kopf.
"Das ist ein ehemaliger König, Fischchen", sagte er, strich seiner Tochter über den Kopf und wollte weitergehen.
"König? Von Lirhajn?"
"Nein, Fischchen, das war unser König. König Suriwasi!" Aryun zwang sich zur Ruhe. Die Sechsjährige konnte noch nichts von Suriwasi wissen, dafür war sie zu jung. Sie hatte das alles nicht erlebt.
"Wir haben doch Verwalter, keine Könige mehr." Das hatte er ihr letztens erklärt, nachdem er ihr eine Gutenachtgeschichte erzählt hatte.
"Genau, Fischchen. Suriwasi war der letzte König unserer Insel."
"Wir hatten mal einen König?" Kauri sah mit großen Augen zu ihm auf.
Aryun überlegte einen Moment - doch sie hatten es heute nicht eilig. Also zog er seine Tochter zu den großen Findlingen, welche die dunkle Steinstatue in einem Kreis umgaben. Innerhalb des Rings wucherten wilde Blumen, deren Blüten Unvergänglichkeit, Stärke und Opferbereitschaft symbolisierten. Aryun ging in die Hocke und zog seine Tochter an sich, sodass sie zu dem steinernen Ebenbild hinaufsehen konnten.
"Ja, früher, Fischchen, als ich noch jung war, hatten wir einen König ..."
Missmutig sah Aryun auf den Hafen hinab.
Dort, in einer natürlichen Bucht, deren Bogen mit schiefen Stegen bestückt war, ankerten sie großen Schiffe der Eroberer. Sie waren größer als eine ihrer Hütte, viel größer, und auf ihnen standen drei oder vier Bäume mit geraden Ästen, in denen die Segel hingen.
Sie kamen von einem Ort namens Korr'dai, hatten sie gesagt, und dass sie ihnen etwas bringen wollten, das sie Fortschritt nannten. Dieser sollte alles besser machen, doch davon konnte Aryun nichts sehen.
Zuerst hatten die Fremden sich überall umgesehen. Sie hatten Nahrungsmittel getauscht und eine Magie gewirkt, die es ihnen erlaubte, mit den Einwohnern zu reden. Doch wirklich verstehen konnten sie einander nicht.
Die Fremden sagten, dass sie sie aus ihrem Elend erlösen wollten. Doch niemand von Aryuns Volk wusste, welches Elend sie meinten. Und ihr 'besseres Leben' war nicht besser!
Zum Beispiel hatten sie neue Straßen gebaut. Was auch immer sie gegen die festgetrampelte Erde gehabt hatten, sie hatten alles aufgerissen und dort Steine verlegt. Diese wurden in der Sonne jedoch unerträglich heiß, sodass man gar nicht darauf laufen konnte. Dagegen sollten Schuhe helfen. Doch um die herzustellen, musste man Rinder töten und deren Häute behandeln. Die Fremden hatten dafür den Hof beschlagnahmt, der einmal das ganze Dorf versorgt hatte, doch bis es die Schuhe gab, würde noch etwas Zeit vergehen, da die Maschinen noch nicht aufgebaut waren.
Aryuns Volk lief also neben den Straßen, zwischen deren Steinen sich ihre Karrenräder verkeilten, und litt Hunger, während die Fremden ihre alten Felder einstampften und ihnen neue Pflanzen zeigten, die man anbauten sollte, weil sie mehr Ertrag brachten. Aber sie schmeckten nicht und brauchten zu viel Wasser und ...
Kurz gesagt, König Suriwasi hatte eine heimliche Besprechung aller treuen, waffenfähigen Bewohner einberufen. Aryun war einer der ersten gewesen, die sich gemeldet hatten. Der junge Mann beobachtete die Lage schon länger mit Sorge. Sein Vater war Steinmetz gewesen, doch die Fremdlinge hatten ihn verhaften lassen, weil ihnen irgendetwas an den Statuen nicht gefiel. Die Arbeit eines ganzen Lebens hatten sie zerstört! Dabei war es für Götter unziemlich, Kleidung zu tragen. Sie kannten keine Scham, und auch ihre Statuen durften keine zeigen. Aber dem Flehen des Handwerkers hatte niemand zugehört.
Aryun hatte mit dem König darüber gesprochen - direkt unter vier Augen! - und war dann zu diesem Wachdienst eingeteilt worden. Während Suriwasi zu den anderen sprach, die gekommen waren, hielt Aryun Ausschau, um die Versammlung zu warnen, falls sich einer der Fremden nähern sollte.
Doch diese waren im Hafen damit beschäftigt, 'Waren' zu suchen. Also Dinge, die sie in ihre Heimat bringen und dort verkaufen sollten. Sie hatten dem Dorf dafür viel 'Gold' versprochen, und Aryuns Volk war froh, dass die Fremden beschäftigt waren. Gerade fingen sie offenbar Fische. Dabei hatten es ihnen die schwarz-weißen Barsche besonders angetan, die es anderswo offenbar nicht gab.
Dabei schmeckten diese nicht einmal!
"Aber sie sind hübsch!", warf Kauri ein.
"Ja, Fischchen." Aryun strich seiner Tochter über den hellen Schopf, viele Jahrzehnte später. "Sie sind sehr hübsch."
"Was ist passiert?", fragte das Mädchen ihn. "Auf der Besprechung? Was hat der König gesagt?"
"Ich war nicht dabei, erinnerst du dich? Ich habe Wache gehalten. Aber später habe ich es von den anderen gehört. Jenen, die entschieden hatten, zu helfen."
Der König hatte beschlossen, in den Krieg zu ziehen. Seinem Volk hatte er es freigestellt, ihm zu helfen. Sie wussten, dass sie gegen die Fremden nicht bestehen konnten. Was immer sie taten, würde nichts ausrichten - die Fremden hatten bessere Waffen, mehr Kämpfer, mehr Zeit ...
Aber es war eine Frage des Prinzips. Und so half Aryun mit vielen weiteren, heimlich Speere zu sammeln und sich vorzubereiten.
"Du hast für einen König gekämpft!" Kauri sah ihn wie einen Helden an. "Hast du viele böse Männer getötet?"
"Das ... erzähle ich dir, wenn du ein bisschen älter bist, ja?" Er strich über ihr Haar. "Und die Fremden waren nicht böse. Sie wollten helfen, nur waren sie darin nicht sehr gut."
"Hmm." Kauri klang nicht überzeugt. "Warum habt ihr dann gekämpft? Hättet ihr nicht reden können?"
"Sie wurden sehr böse, wenn man ihnen widersprochen hat", erklärte er sanft. Er strich den Ärmel hoch und zeigte ihr die Narbe am Unterarm. "Guck mal, da habe ich versucht, meinem Vater zu helfen, damit sie seine Werkstatt nicht kaputt machen. Aber sie wollten nicht hören, dass sie falsch lagen."
Kauri strich über die Narbe.
Aryun zog dann das Hemd hoch und entblößte das verknotete Gewebe über den Rippen.
"Au!", sagte seine Tochter erschrocken.
"Ja, au. Das ist in einem der letzten Kämpfe passiert. Deshalb lag ich im Lazarett, als alles zu Ende ging. Bei den Fremden, wohlgemerkt. Sie haben mich verletzt, aber sie haben mich auch wieder gesund gemacht. Für sie war es ein Prinzip, dass einem Verletzten geholfen wird, auch wenn er gegen sie gekämpft hat."
Die Pflegerin setzte sich vorsichtig auf seine Bettkante - unter anderem, weil seines in der Mitte des Zimmers stand.
"Euer König wurde heute geschlagen", erklärte sie mit leiser Stimme. In diesem Zimmer lagen nur Einheimische, sie war die einzige Fremde. Und die einzige, die sie hier sehen wollten, in diesem Moment.
Einer der Verwundeten schrie auf.
"Er lebt", fuhr die junge Frau leise fort. Sie hatte fast schwarzes Haar, so ganz anders als das weiße Haar und die helle Haut der Einheimischen. "Aber er hat sich ergeben, zusammen mit seinen letzten Kämpfern. Jetzt werden Verhandlungen geführt." Sie machte eine Pause. "Die Nachricht kam eben erst, also wird es noch dauern, bis sie sich geeinigt haben, aber ich denke ... das solltet ihr wissen."
"Wieso hat er sich denn ergeben?"
"Nun, Fischchen, er hatte keine Chance gegen die Fremden. Was wir von Anfang an wussten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Krieg verloren wäre."
"Aber ... warum dann kämpfen?"
"Manchmal muss man einen Kampf wagen, den man nicht gewinnen kann, einfach für's Prinzip."
"Und was ist dann passiert?"
"König Suriwasi hat einen Vertrag unterzeichnet und die Krone abgelegt. Seitdem werden wir von Verwaltern regiert."
"Von Fremden." Kauri begriff zum ersten Mal, was ein Verwalter war.
"Ja, Fischchen. Und nein. Denn die Verwalter sind verpflichtet, uns anzuhören, bevor sie Entscheidungen fällen. Das hat der König bewirkt. Denn die Fremden fanden seinen Krieg mutig."
"Ja? Aber er hat gegen sie gekämpft."
"Da geht es ums Prinzip. Natürlich waren sie Feinde, aber sie konnten seinen Mut anerkennen. Sie haben ihm versprochen, dass alles besser wird, wenn er den Krieg beendet." Aryun zog seine Tochter enger an sich. "Manchmal muss man einen Kampf wagen, den man nicht gewinnen kann, einfach für's Prinzip. Das wirst du noch verstehen. Und manchmal gewinnt man sogar, wenn man es wagt."
Danach machten sie sich auf den Weg zum Strand. Aryun arbeitete jetzt als Fischer. Während er aus der Bucht fuhr, um die Netze aus seinem kleinen Boot auszuwerfen, blieb Kauri am Strand, immer in Sichtweite. Aryun lauschte dem gierigen Kreischen der Möwen und sah immer wieder zu seiner Tochter, die im Sand spielte und dann in den vorderen Wellen herumsprang.
Nervös drehte er ab und fuhr näher ans Ufer. Er mochte es nicht, wenn sie ins Meer ging. Zwar konnte sie recht gut schwimmen, aber die Strömungen hier draußen konnten wild werden. Besonders bei den großen Steinen, wo sie nun herumkletterte.
Sein Herz blieb fast sehen, als Kauri mit einem Mal in ein Wasserloch zwischen den Felsen sprang. Aryun ruderte sofort auf den Strand zu. Zum Glück erschien sein Mädchen wieder, ehe er weit vorangekommen war. Sie trug etwas in den Händen und schleppte es aus dem Gefängnis der Felsen zum Meer, wo sie es in die Wellen tauchte.
"Was machst du?", rief er ihr zu, als er wenig später in Hörweite war.
Kauri winkte ihm grinsend. "Da waren Fische."
"Dann lass die Fische in Ruhe!" Er versuchte, seinen Zorn unter Kontrolle zu halten, doch sein Herz raste. "Du sollst doch am Strand bleiben."
"Aber das waren die hübschen", protestierte sie. "Sie kamen da nicht raus und es wird Ebbe."
Er beobachtete, wie sie sich erneut bückte und einen der dreieckigen, gestreiften Fische aus dem Wasserloch holte, um ihn in beiden Händen, mit tapsenden Schritten, zum rettenden Meer zu tragen. Eine längliche, weißgepunktete Schwanzflosse zappelte zwischen ihren Fingern.
Aryun seufzte, während er seine Tochter betrachtete. Sie winkte den beiden geretteten Fischen und rief ihnen zu, dass sie die Fallen der Fremden meiden sollten.
Es war unwahrscheinlich, dass das den beiden gelingen würde. Sie würden verschwinden, wie so viele ihrer Art. Aber trotzdem lächelte Aryun. Manchmal musste man etwas Aussichtloses tun. Aus Prinzip.