Rating: P12 [CN: Erwähnung von versuchtem Kindsmord]
Nach dem Prompt „Meerechse“ der Gruppe „Crikey!“
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"Sie heißt Alofa. Eine sehr gute Fischerin, du wirst sehen. Eine großartige Partie!"
Natano rührte sich nicht. So sehr sich sein Vater auch bemühte, der Junge wollte ihm unbedingt seinen Zorn zeigen. Mit verschränkten Armen, einen finsteren Blick im Gesicht, sah er zum fernen Strand. Sie hätten die Insel bald erreicht.
"Nun lächel doch mal!", versuchte es seine Mutter. Sie zog an der Kette, die Natano um den Hals trug, doch er schüttelte sie unwirsch ab. Schlimm genug, dass er in ein Boot hatte steigen müssen. Er wollte sich auch nicht vermählen, noch dazu mit einer Frau, die er noch nie getroffen hatte!
Er wollte gar nicht heiraten. Da er sich nicht in der Probe bewiesen hatte, indem er sich ein Leben auf einer Insel aufbaute, stand ihm das auch nicht zu. Er war schon daran gescheitert, seine Heimat zu verlassen. Der Ozean mit seinen plätschernden Wellen hatte ihn abgeschreckt. Da die Mädchen ihn seitdem erst recht als Feigling verachteten, hatte er sich mit seinem einsamen Schicksal abgefunden.
Bis seine Eltern mit diesem Mädchen angekommen waren. Alofa also. Sie stammte von einer Insel weit im Osten, die zu erreichen sie fast zwei Tage gekostet hatte.
Alofa war bekannt, weil sie sich als Mädchen in der Probe bewiesen hatte. Und zu ihr sollte Natano nun, als einziger Junge im Umkreis, der die Probe nicht abgeschlossen und deshalb keine Wahl hatte. Die Überfliegerin und der Feigling. Ein lächerliches Märchen!
Als sie anlandeten, verspürte er trotzdem Erleichterung. So konnte er sogar lächeln, als die Dorfbewohner sie empfingen. Es gab gewürzte Kokosnussmilch und gegrillten Fisch auf Bananenblättern. Natano langte fleißig zu. Er hatte während der Nacht auf See vor lauter Angst nichts essen können. Es ging, wenn jemand anderes am Ruder saß, aber er hatte zuvor noch nie auf See geschlafen. Umringt von den finsteren Wellen wäre er fast wahnsinnig geworden. Wieder Sand zwischen den Zehen zu fühlen verschaffte ihm ein Hochgefühl, das jedoch verflog, als Alofa angekündigt wurde.
Er erkannte sie sofort, als sie aus dem Dorf kam, denn die dunkelhaarige Frau trug ebenfalls eine Blumenkette. Dicktes, dickes Haar versteckte ihr Gesicht. Natano trat nervös vor und erstarrte, als Alofa den Kopf hob.
Sie war hässlich! Natano war sich bewusst, dass er keine Anforderungen stellen konnte, doch der Schock ließ ihn mit offenem Mund gaffen. Die Nase war platt, eine Scharte teilte die Oberlippe und offenbarte die Zähne. Dazu, das hatte er gesehen, war Alofa klein und eher dick, mit unansehnlichen Narben, die das Bein überzogen. Das hätte er übersehen können, doch der Anblick ihres Gesichtes nahm ihm die Luft.
"Du ... musst Natano sein."
Als ihre leise Stimme erklang, riss er sich aus der Starre. Alofa lächelte nicht. Sie neigte jedoch den Kopf höflich.
"Willst ... du tanzen?"
Ein Teil von ihm hoffte, dass sie wider die Tradition ablehnen würde.
"Gerne." Sie sah ihn nicht an, was es besser machte. Er ergriff ihre Hände, leitete sie unter dem Klatschen der Dorfbewohner in die Mitte und führte sie im Tanz. Beim Salz der See, sie war ungeschickt! Alofa stolperte über ihre Füße, verlor den Rhythmus. Würden nicht alle ihnen zusehen und über die beiden jungen Leute tuscheln, Natano hätte sie von sich gestoßen.
"Du willst auch nicht hier sein, oder?" Alofas Stimme war traurig. Vermutlich hatte sie die Probe nur gemacht, weil kein Junge im Dorf sie wählen würde. Widerwillig spürte Natano Mitleid in sich aufsteigen. Das arme Mädchen konnte ja auch nichts für sein Aussehen. Aber wieso musste er dann den großen Retter spielen? Er war kein nobler Held wie in den Märchen, und sie keine verwunschene Prinzessin, die nach einem Kuss schöner sein würde.
Sie zu küssen! Zum Glück wurde dergleichen beim ersten Treffen nicht erwartet.
Allerdings wartete sie, noch immer mit abgewandtem Blick, auf seine Antwort.
"Nun ...", begann er vorsichtig. "Das verstehst du sicher, oder?" Das würde sie sicherlich falsch verstehen, und so sprach er schnell weiter: "Unsere Eltern haben das hier arrangiert. Vor einer Stunde wusste ich nicht mal deinen Namen. Ich ..." Er wusste nicht mehr, was er sagen wollte. Also wirbelte er Alofa herum, zum Takt der Trommeln.
Sie nickte langsam. "Ich wollte die Probe auch nicht bestehen. Aber jetzt, wo ich es habe, wird das hier irgendwie von mir erwartet."
Er lachte unwillkürlich auf. "Wie macht man die Probe denn aus Versehen?!"
Zum ersten Mal sah sie ihn an und ein Lächeln huschte über ihren missgeformten Mund. "Ich reise gerne und wohne dann auch oft längere Zeit auf einer Insel, wo mich niemand nervt. Irgendwann hat wohl jemand spitzgekriegt, dass ich dabei natürlich auch mein eigenes Essen fange und einen Unterstand baue - und da haben sich meine Eltern dafür eingesetzt, dass das beim Rat anerkannt wird."
Erstaunt sah er sie an. Offenbar hatten Alofas Eltern, ebenso verzweifelt wie seine eigenen, nach jedem Strohhalm gegriffen. Doch er hatte bei der Erzählung aufgemerkt. "Du ... reist gerne?"
"Ich halte es nie lange auf einer Insel aus!" Im Licht der bereits entzündeten Fackeln glänzten ihre Augen. "Am liebsten würde ich auf dem Kanu wohnen!"
Natano senkte den Blick. Auf einem Kanu wohnen? Die Götter hatten einen bitteren Humor. Er, der das Meer fürchtete, sollte nun bald eine Frau nehmen, die das Land zu meiden schien? Die beiden Gegensätze, wie in der Geschichte von Flamme und Regen, die einander liebten, aber nicht zusammen sein konnten. Nur dass die reale Geschichte von ihnen beiden dagegen ein lächerliches Märchen war.
Der nächste Schritt waren drei Tage, die die jungen Leute einander kennenlernen sollten. Unter den wachsamen Blicken der Dorfgemeinschaft suchten Natano und Alofa bereits am nächsten Morgen verzweifelt nach einem Ort, wo ihnen keine fernen, nur spärlich verborgenen Neugierigen folgten, ohne sich dabei in das Dickicht der Mangroven zurückzuziehen, was nur zur Gerede führen würde.
Normalerweise hätten Pärchen das wohl vermieden, um die Ehre der Frau zu schützen. In diesem Fall wollte Natano nicht einmal Gerüchte darüber, dass er Alofa nähergekommen sein könnte.
Sie schlenderten am Strand entlang, nicht dort, wo die Fischer am Sandstreifen abfuhren, sondern auf den dunklen Klippen, wo die Meerechsen saßen. Kolonien der schwarzen Tiere sonnten sich hier, nachdem sie von einem Tauchgang zurückgekehrt waren.
Natano tänzelte eher widerstrebend zwischen den Tieren hindurch. "Die sind eine echte Plage."
"Keineswegs", sagte Alofa. Es war das erste Mal, dass sie sofort antwortete und nicht leise sprach, wie bisher.
Natano drehte sich interessiert um. "Nicht?"
"Nein. Die meisten mögen sie nicht, weil sie hässlich sind, aber ... es sind tolle Tiere." Alofa senkte den Blick wieder und ließ sich die Haare ins Gesicht fallen.
"So schnell kommst du mir nicht davon!", rief Natano belustigt. "Was findest du in den Echsen?" Er betrachtete die schwarzgrünen Tiere mit ihren gedrungenen Gesichtern, der breiten Brust, den trägen Bewegungen.
"Na ja ... Sie sehen nicht besonders toll aus, wenn sie sich in der Sonne aufwärmen. An Land sind die träge, aber das liegt daran, dass das Wasser so kalt ist. Als Echsen werden sie bei Kälte langsamer. Trotzdem gehen sie immer wieder in den Ozean."
Alofa trat an die Steine, über die teilweise Wasser leckte. Natano folgte ihr, hielt aber Abstand. Fröstelnd sah er auf das grünliche Wasser. "Das kann ich auch nicht verstehen", murmelte er. "Wer geht schon freiwillig ins Meer?"
Alofa schien seinen Unterton gehört zu haben, denn sie drehte sich um. "Du magst das Meer nicht? Wieso denn das?"
"Ich ..." Er seufzte. Sie gehörte zu den wenigen Leuten in seinem Leben, die diese peinliche Geschichte noch nicht kannten. Im Gegensatz zu ihr sah er sehr gut aus, sein Makel war geheimer, verborgen. Zuhause wusste es jetzt, doch hier war es noch anders. Noch. Nun musste er ihr die Wahrheit sagen. "Als ich klein war, bin ich fast ertrunken. Ich konnte noch nicht schwimmen, aber ein Tsunami traf uns."
"Ich erinnere mich", murmelte Alofa. "Wurdest du damals ins Meer gezogen?"
Es war eine seiner ältesten Erinnerungen, doch so war es für viele in ihrem Alter. Die meisten erinnerten sich an das Brausen der Wassermassen, an den heulenden Wind.
Natano nickte. "Meine Großeltern haben mich gerettet, aber ... danach habe ich mich nie mehr ins Meer getraut."
Alofa legte den Kopf schief. Er versuchte, ihren Blick zu deuten, doch ihr Mund ließ sie verächtlich aussehen. Sicher erkannte sie jetzt, dass er keine gute Partie war. Er war kein Fischer, konnte zwar Häuser bauen, aber das Leben seines Volkes fand auf den Wellen statt, nicht im Schutz einiger Palmblätter!
Er wich ihrem Blick aus. "Ich weiß, ich bin ..."
"Blind", unterbrach sie ihn. "Jedenfalls im Moment. Ich überlege nur, wie ich dir das erklären soll. Was ich in den Meerechsen sehe."
Überrascht sah er sie an. Er war sich sicher, dass das eine ähnliche Ausrede war wie seine gestern beim Tanzen. Sie wollte nur höflich sein.
Alofa streckte die Hand aus. "Ich weiß, du kennst mich kaum. Aber vertraust du mir?"
"Ich ..." Er stellte sich diese Frage selbst. Alofa war meist eher still, er wusste wirklich nicht viel über sie. Doch sie hatte etwas Ernsthaftes an sich und sie sah die Welt irgendwie anders. Er war tatsächlich neugierig.
Also ergriff er ihre Hand, die rau und etwas vernarbt war, so wie ihr Bein und das Gesicht. Wie er inzwischen erfahren hatte, hatten ihre Großeltern sie wegen der ursprünglichen Missbildung, ihres Gesichts, heimlich ins Meer geworfen. Um das hässliche Kind loszuwerden. Die Großeltern hatten einen Quallenschwarm gewählt, doch die Tiere hatten Alofa tatsächlich davor bewahrt, unterzugehen, bis ihre Eltern sie gerettet hatten. Nur die Narben hatte sie davongetragen. Sie wurde sie gerettet, was als Gottesurteil angesehen wurde, und ihre Großeltern wurden bestraft. Leichter wurde das Leben, vor dem diese sie hatten bewahren wollen, dadurch nicht. Sie war eine Außenseiterin und würde es immer bleiben.
Ihre Geschichten waren so unterschiedlich. Sie waren tatsächlich Gegensätze, fand Natano. Wie sollten sie jemand zusammenfinden?
Alofa machte einen Schritt ins Wasser und zog ihn sanft vorwärts.
"Alofa ..."
"Keine Angst." Ihre Stimme war ganz anders. Sanft, beruhigend. "Das Wasser ist ganz ruhig heute."
Natano folgte ihr langsam auf den harten, steinigen Meeresboden. Das Wasser schwappte kalt um seine Waden. Instinktiv atmete er flacher.
"Wir gehen nicht weit", versprach Alofa. Sie hielt nun beide Hände. Als das Wasser ihm über die Hüfte reichte, blieb sie stehen. Die Insel war noch hinter ihnen, Alofas Hände waren ein fester Anker. Natano bekämpfte sein Zittern. Verdammt, er wollte nicht so ein Feigling sein!
"Also, wir müssen jetzt untertauchen. Aber wir bleiben genau hier und ich bin die ganze Zeit bei dir. Ich lasse dich nicht los, versprochen."
Er atmete zittrig durch, dann nickte er tapfer. Er würde nur im Wasser sitzen. Das war nicht schlimm - ganz anders, als mit Strömungen und hohen Wellen zu kämpfen.
"Und eines noch - auch wenn es wehtut, du musst die Augen öffnen."
Er schluckte. "In Ordnung."
Alofa sank in die Knie. Natano sank mit ihr. Das Wasser kroch kalt über seine Brust, schlang sich um seinen Hals, spülte über ihn. Aber immer waren da Alofas starke Finger, die ihm sagten, dass alles gutwerden würde.
Er hatte tief Luft geholt und wusste, dass er nur aufzuspringen brauchte, um sich zu retten. Das gab ihm das nötige Vertrauen.
Nun kämpfte er seine Augen gegen das Salzwasser auf und blickte direkt in Alofas Augen. Sie nickte ihm zu, sichtlich stolz auf ihn, dann deutete sie zu den Seiten.
Natano sah sich um. Der Mund klappte ihm auf und Luftblasen stiegen hinauf, denn ringsum trieben die Meerechsen. Wie Vögel glitten sie durch das Wasser und zupften grüne Algen, die hier dicht auf den Steinen wuchsen, die über den Wellen so harsch und karg aussahen.
Unter den Wellen existierte eine neue Welt mit grasbewachsenen Hügeln, Bäumen und Büschen aus Algen. Sonnenfinger, die durch die Oberfläche drangen, zauberten schillernde Muster auf die Schuppen der Echsen, die nicht länger plump oder starr aussahen. Nein, hier erkannte Natano goldene Reflexionen auf ihrer Haut, individuelle Muster und verschiedenste Grüntöne ihrer Haut. Sie bewegten sich fischgleich, die Pranken wurden zu schlanken Flossen, die steifen Echsen zu beweglichen Tänzern.
Ungläubig sah er zu Alofa, die ihn anlächelte. Auch auf ihre Haut malte das Wasser Muster. Ihre Haare bauschten sich um ihren Kopf, statt das Gesicht zu verdecken, und in ihren Augen sah er einen Glanz, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Blaugrün waren diese Augen, wunderschön und groß, und sie wirkten wie Perlen der kostbarsten Muscheln.
Sie mussten auftauchen, um Luft zu holen. Wieder und wieder tauchte Natano unter, obwohl ihm das Herz immer wieder bis zum Hals schlug. Wenn er dazwischen nicht nur Atem schöpfte, sondern auch neuen Mut sammelte, redete Alofa wie ein Wasserfall: Über die Meerechsen anderer Inseln, die gelbe Streifen oder rote Muster haben mochten, über die vielen Tiere, die im Einklang mit den großen Kolonien der Echsen lebten, über die Männchen der Echsen, die während der Paarungszeit noch bunter, noch schillernder wurden, über die niedlichen Jungtiere und darüber, dass diese Echsen älter wurden als Zwerge!
Natano stellte Fragen oder machte bewundernde Geräusche, doch er hörte nur mit halbem Ohr zu. Immer wieder sah er Alofa verstohlen an. Er betrachtete ihre glänzenden Augen, das Lächeln, die Wangen, über die das Meerwasser perlte, und fragte sich, wann sich diese Kröte bloß in eine Prinzessin verwandelt hatte.
Das hier war doch kein lächerliches Märchen! Und doch erschien es ihm nicht länger schrecklich, eine solche Frau zu heiraten, die stark, mutig und weise war, die offensichtlich von den Göttern erwählt und mit dem Ozean selbst verwandt war.
Zum ersten Mal fand er in sich den Wunsch, all diese fernen Inseln zu sehen, von denen sie erzählte, auch wenn er in einem Kanu dorthin fahren musste. Um fremde Tiere zu sehen, bekannte Tiere neu zu sehen und all diese Abenteuer zu erleben, wie, ja, wie in einem lächerlichen Märchen.