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Wie tief und dunkel die ewigen Blaufichten sich in der Abenddämmerung gegen den frühen Nachthimmel stemmten. Jeden Tag aufs Neue war Lori es so, als wäre die Welt schon mit ihnen geboren worden und würde auch mit ihnen untergehen. Sie standen dicht wie sich wärmende Waldbewohner und ragten so hoch, bis sie fast den spitzen Sichelmond hinter der dichten Wolkendecke berührten. Ein Grund zum Fürchten? Vielleicht. Vielleicht, wenn man es wagte, sich unter ihnen zu verirren. In seinen schwammigen Erinnerungen neckte ihn die Sage von den Jahrhundertbäumen und dem Spiegelkind. Sich in ihnen zu verirren bedeutete, zu ihnen zu werden. Die dunkle Stimme seines Großvaters mahnte ihn im ernsten Ton und Lori lächelte sanft. Vielleicht sollte er sich fürchten, aber heute wachten sie über ihn.
Er war ja nicht dumm und er war auch nicht taub. Er wusste, dass die Leute über ihn redeten. Welcher Narr ging denn um die Mistelbrennnächte herum im fehlenden Schein des Mondes spazieren? Nur Menschen mit einem Todeswunsch oder einer dringlichen Mission, so viel war klar. Und auf Gedeih und Verderb … mindestens einer dieser Gründe trug er tief unter seinem Herzen.
Sein schwerer Lederrucksack war gepackt mit allem, was er brauchte. Sie sprachen ja nicht von einer Lebensreise. Das bisschen bekam er schon getragen. Kräftig und ausgebeult lag er auf seinen schweren Schultern und sein schwarzer Kater Herio folgte ihm treu, immer den Fußstapfen im frischen Schnee entlang. Die herzhafte Gemüsesuppe aus Maries Küche hatte sich warm in seine Magengrube gelegt und sich bis in seine steifen Fingerspitzen geschlichen. Ein halbes Laib Brot trug er noch mit sich, nur für Notfälle, aber er vertraute auf Maries Kochkünste. Ihre Mahlzeiten hatten ihn schon so oft die kalten, düsteren Tage hier vergessen lassen.
„Was ist los, bist du schon müde“, fragte er an Herio gewandt, der ihm etwas schwerfälliger als sonst mit Abstand hinterherschlappte. Doch auf dem Gesicht des schwarzen Katers regte sich keine Miene. Amüsiert blieb Lori stehen und breitete seine dick eingepackten Arme aus.
„Ich kann dich auch tragen.“ Doch der Kater lief erhobener Stupsnase an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Als sie endlich den Rand des Flüsterwaldes erreichten, das Tor zum Reiche Minues, blieb Herio stehen.
„Willst du wirklich weitergehen?“, fragte der schwarze Kater, doch Lori konnte keine Besorgnis in seiner ruhigen Stimme erkennen.
„Wäre unklug, nun umzukehren, findest du nicht? Wir sind so weit gekommen.“
„Unklug ist nur der, der blind ausgedachten Regeln folgt und sich gegen sein Bauchgefühl stellt.“
„Ich kann nicht umkehren, Herio, ich hab’s ihm versprochen.“
Der Kater nickte zaghaft und war der erste, der erhobenen Hauptes die unsichtbare Schwelle überquerte.
Zwischen den hohen Jahrhundertbäumen herrschte eine ohrenbetäubende Stille, als würde der feuchte Erdboden jedes Geräusch verschlucken. Und obwohl die vielen Arme der Tannen das trübe Licht des Sichelmondes hinter den Wolken in seine Schranken wiesen, war es ungewöhnlich hell unter all ihren argwöhnischen Schatten. Hier lag kein Schnee. Nebel bedeckte den weichen Boden wie eine feine Decke aus Wasser, die einen flussabwärts immerzu gen Ziel zog. Hypnotisierend. Bestärkend. Lori fühlte, wie es aufgeregt in seiner Brust pochte. Sein Herzschlag, der sich warm und vertraut in seinem Körper ausbreitete und zu trösten begann.
Zum Glück hatte er nicht auf Herio gehört.
„Lauf einfach weiter“, befahl ihm der Kater mit einer treibenden Stimme, die nur wie durch dicken Schnee zu ihm durchdrang. Er wusste nicht einmal, wo Herio sich befand. Vor ihm oder neben ihm und hinter ihm. Seine Stimme kam von irgendwoher und er gab sein Bestes, ihr Folge zu leisten. Sein Blick immer geradeaus. Dem Fluss entlang. „Denk dran, sie haben Unrecht.“
Für einen Moment war ihm so, als würden sich schwarze Schwingen über seinen Kopf erheben und ihn begleiten. Der dunkle Schatten über ihm nahm ihm die letzte Helligkeit vor seinen Augen und seine Sicht, als blickte er durch einen einsamen Tunnel. Aber irgendwo dort vor ihm sah es so aus, als öffneten sich die Pforten.
„Wir sind gleich da.“
Als sie endlich den Rand erreicht hatten, an dem sich der Wald lichtete, stieß Lori verzweifelt seinen Atem aus, als hätte er ihn unbewusst den ganzen Fußmarsch lang angehalten. Kraftlos fiel er zu seinen Knien in den nassen, kalten Schnee, der sofort unter seinem Gewicht nachgab, und hielt sich die Kehle.
„Was war das?“
„Ich hab dich gewarnt“, antwortete Herio und verweigerte ihm jegliche Erklärung. „Nun komm, wir sollten uns hier wirklich nicht lange aufhalten.“
Lori hatte gar keine Zeit, sich noch umfassender mit seinem Zustand und seiner erst langsam wiederkehren Lungenfunktion zu befassen, denn Herio machte keinen Hehl daraus, schnell einen Ortswechsel vorzunehmen. Mit flinken, entschlossenen Tatzen tapste der schwarze Kater durch den immer dicker werdenden Schnee, je mehr sie sich vom Flüsterwald entfernten. Und je mehr Abstand sie gewannen, desto leichter wurde das Atmen. Ob er sich auf dem Rückweg noch einmal durch die Jahrhundertbäume wagen sollte, wusste Lori noch nicht, aber ihre Alternativen fielen spärlich aus. Gerade vermochte er noch nicht, daran zu denken.
Denn endlich hatte sich der Abendhimmel gelichtet. Keine Flocke benetzte mehr ihre in schweren Filz gekleideten Schultern und die Sterne funkelten unerträglich sehnsüchtig über den Feldern und Bergen und Wäldern des dunklen Winterlandes. Endlich kratzte auch der spitze Sichelmond an den Baumkronen der Bergwälder am Horizont. Fast wäre Lori stehengeblieben, um diesen Anblick für immer tief in seine Brust zu schließen, doch wollte er Herio nicht weiter provozieren. Als der jedoch unerwartet stockte und gen Nachthimmel schaute, tat Lori es ihm staunend gleich.
„Sollten wir uns nicht beeilen?“
„Manchmal muss man innehalten im Leben.“ Lori lächelte, als der Anblick des Sternenhimmels tief unter sein Herz sank und sich dort ein Häuschen baute. Friedlich war es hier draußen, wenn sein weißer Atem ihn so liebevoll umarmte wie eine schöne Erinnerung. Dann wurde ihm fast warm und seine Schultern wurden so leicht. „Die Sterne wachen über uns, weißt du.“
Es war einfach, danach den Waldesrand entschlossen hinter sich zu lassen, obwohl seine Blicke starr in Loris Rücken brannten. Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit tatsächlich schon vergangen war, aber er hatte es im Gefühl, dass sie schon viel zu lange unterwegs waren. In diesem Tempo hatten sie beinahe keine andere Wahl, als zu hoffen, dass sie sich noch ausgelaugt ins nächste Dorf schleppen konnten. Im Schneechaos zu übernachten war keine Option …
Dann endlich, als seine Knie beinahe begannen, unter ihm nachzugeben, hatten sie den verschneiten Mauersteinbrunnen erreicht, der erhaben auf einem Hügel thronte. Unter seiner schweren Schneedecke, die seine Kleider aus Moos verbarg, schien er zu schlafen. Von hier aus konnte man in der Ferne des Flüsterwald erkennen. Wie ein düsteres Tuch spannte er über der weißen Welt und bat darum, sich in ihn einzuhüllen. Doch von hier oben spürte er kaum noch seine klammen Finger nach ihm greifen.
„Du hast es geschafft, Lori.“ Herios Stimme klang weit und hoch. „Dort hinten ist Mohnfall, siehst du die Lichter? Noch vor Sonnenaufgang werden wir im Warmen sein.“
„Danke für deine Hilfe, Herio“, seufzte Lori erleichtert in den dunklen Nachthimmel hinein, sein Atem entwich seinen Lippen trüb und weiß und stieg empor wie etwas, das ihm nicht mehr diente.
Dann wandte er sich dem Brunnen zu und trat vorsichtigen Schritten an ihn heran. Den Fußstapfen entlang, die er hinterließ, brachen erste Grashalme neugierig durch die immer dünner werdende Schneeschicht. Mit geschlossenen Augen vergrub er seine schnurgerade, von Sommersprossen übersäte Nase in seinen gefalteten Händen und sprach einen Wunsch. Tief aus seiner Magengrube kam er und drückte sich so gewaltvoll seinen Weg nach oben, dass Lori kurz fürchtete, er würde seine Rippen dabei brechen. Er hatte ihn viel zu lange eingehalten, ohne es zu bemerken. Und nun, als dieser endlich seine zittrigen Lippen verließ, füllten sich seine Augen sich mit Tränen.
Er war Herio dankbar darüber, ihn in diesem so verwundbaren Zustand nicht zu stören. Behutsam und sanft wärmte ihn seine beruhigende Aura von seiner Rechten kommend und wartete geduldig; ganz still. Als es abermals zu schneien begann, und eine erste Schneeflocke auffordernd auf seiner Nasenspitze schmolz, kramte er aus seinem Rucksack den Lederbeutel hervor, der diese Reise erst gefordert hatte. Und bevor er diesen hoffnungsvoll dem Brunnen übergab, dachte er an ihn und schickte stumm sein Gebet gen Himmel.
Doch nachdem er sich vergewissert hatte, dass das Ledersäckchen es den Brunnen hinuntergeschafft hatte, erschrak er fast zu Tode, als er eine Gestalt erkannte, die neben dem Brunnen hockte. Mit dem Gesäß im Schnee, als könnte Nässe und Kälte ihm nichts anhaben, saß der Lockenkopf unbeirrt auf dem weißen Boden und steckte sich ein Apfelstück in den Mund, das er frisch abgeschnitten hatte; das Messer noch in der Hand.
Lori hielt den Atem an. Er sah ihm zum Verwechseln ähnlich.
„Ihr kommt aus dem Flüsterwald?“, sprach er mit tiefer Stimme, und als er sich endlich vor ihnen aufgebaut hatte, erkannte Lori, dass er ihm um einen Kopf überragte und dennoch nicht bedrohlich wirkte. Die fallenden Schneeflocken verfingen sich fröhlich in seinen dunklen Haaren, als hätten sie heimlich vor, ihn in ein Engelskind zu verwandeln.
„Wie kommst du darauf?“
„Ich kann es riechen“, grinste er und tippte an seine Stupsnase.
Lori konnte nur starren, Herio sagte gar nichts. Es war nicht die Stimme, die er so sehnlichst vermisste, die da aus der Kehle des Lockenkopfs schallte, aber er fühlte sich ihm so nah, ohne es zu verstehen.
„Du weißt, dass ich dir deinen Wunsch erfüllen muss, oder?“
„Ich… hab ‘s ihm versprochen“, erwiderte Lori, ohne seine Augen von ihm zu nehmen. Ohne zu wissen, mit wem er da wirklich sprach. Ohne zu realisieren, was da gerade eigentlich passierte.
„Es wird ihm gut dort oben gehen, du hast mein Wort“, lächelte er sanft und trat ein paar Schritte näher an ihn heran. Keine Wärme, die von ihm ausging. Seine Seele vibrierte nicht so wie die Herios, und dennoch schlug Loris eigenes Herz schneller in seiner Brust.
„Vielen Dank.“
„Du hast einen beschwerlichen Weg hinter dir. Ruh dich in Mohnfall aus. Durchquere nicht den Flüsterwald.“
„Aber–“
„Herio kennt den Weg.“
Lori nickte verstehend und ließ es zu, dass der Lockenkopf sich dreist in seinen persönlichen Raum einschlich, doch es war ihm nicht unangenehm, stellte er verdutzt fest. Erst, als sich ihre Nasenspitzen berührten und sich danach ihre Lippen federleicht aufeinanderlegten, schnappte er scharf nach Luft.
Er wollte seine Augen nicht öffnen. Er konnte nicht. Wenn er sie für immer geschlossen hielt und dieser familiäre Duft ihn umschlossen hielt, dann war alles gut.
Doch schlussendlich waren die Lippen des Lockenkopfs fort und als Lori benommen zu sich kam, war er verschwunden. Wie aufgelöst. Und als er in die Ferne blickte, war ihm so, als sähe er schwarze Schwingen am Horizont.
Sein Atem entwich seinen Lippen trüb und weiß und stieg empor wie etwas, das ihm nicht mehr diente. Seine Schultern wurden so leicht.
„Komm, Lori, ich kenn den Weg“, sprach der schwarze Kater und lief erhobenen Hauptes voraus.