Emmelie stand still und blickte in den grauen Himmel. Fasziniert betrachtete sie die weißen Flocken, welche sanft zur Erde schwebten, um sich wie im Schlaf zu ihren Freunden zu kuscheln, die bereits auf der Erde warteten.
Es war beruhigend zu sehen, dass auch die Schneeflocken nicht alleine sein wollten, das ließ Emmelie Trost in der Kälte finden, die ihr eisig in die kaputten Schuhe zog. Fest zog sie den roten Schal um ihren Hals, den sie auf einer Parkbank am Flussufer gefunden hatte. Er war so weich und duftete gut. Vermutlich war die Frau reich, der er einst gehört hatte und daher verspürte Emmelie auch kein schlechtes Gewissen, ihn zu behalten.
Das kleine Mädchen mochte diese Jahreszeit, auch wenn es bitterkalt war und sie sich oft erkältete. Der Lichterschmuck in den Schaufenstern und die winterlichen Dekorationen an den Wohnungstüren und Laternen spiegelten sich in ihren Augen. Festliche Musik erklang aus aufgestellten Lautsprechern und der Duft vom Weihnachtsmarkt versetzte sie in Wehmut. Die Menschen waren netter, auch wenn sie irgendwie nie Zeit zu haben schienen. Für gewöhnlich eilten sie beinahe blindlings durch die Fußgängerzonen. Doch ab und an ignorierten die Menschen sie nicht, manchmal kam eine Person zu ihr herüber und drückte ihr eine Münze in die Hand. Einige fragten auch, ob sie allein war, oder ob jemand auf sie Acht gab. Ja, es gab jemanden, selbstverständlich gab es jemanden, beeilte sie sich dann zu sagen. Sie wusste, dass die Menschen dann zufrieden ihrer Wege gingen, denn das Gewissen war beruhigt. Man hatte ihr erzählt, was mit Kindern passierte, deren Eltern nicht achtgaben. Sie wurden entführt, eingesperrt und tauchten nie wieder auf.
Im Grunde entsprach es auch der Wahrheit, Emmelie war nicht alleine. Sie hatte vier Brüder und zwei Schwestern, die alle älter als sie waren und nicht mehr oft daheim antraf. Emmelie verstand das, überall war es besser als daheim. Selbst die Kälte an diesem Winterabend schenkte ihr mehr Trost, als Mama und Papa die ständig zankten. Wenn sie nicht stritten, dann tranken sie und vergaßen ihre Kinder, manchmal nur für Stunden, manchmal für Tage.
Emmelie war traurig deswegen, sie konnte sich wage vorstellen, wie es sein musste, in einer richtigen Familie aufzuwachsen. Wenn sie die Menschen an der Uferpromenade beobachtete, sah sie wie Väter mit ihren Kindern tobten und Mütter aufpassten, dass sich niemand verletzte. Früher hatte sie versucht mitzuspielen, angezogen von der Freundlichkeit und Liebe dieser Menschen, aber sie lernte recht schnell, das dies nicht für Außenstehende galt.
Es war in Ordnung, wenn sie zusah, doch sobald Emmelie zu ihnen ging, kamen die Mütter angerannt, beäugten sie misstrauisch und flüsterten etwas von Dreck und Läusen. Oft schlug die Stimmung um und die Familien zogen weiter, zu gesittet, um ihr zu sagen, dass sie nicht zum Spielen eingeladen war. Ein Vater hatte sogar versucht, sie mit einem ›schuu schuu‹ zu verscheuchen, als wäre sie ein streunender Hund.
Vielleicht war sie das auch irgendwie, ungewollt und ungeliebt. Tränen traten ihr in die Augen, was sie sogleich bereute, denn die Kälte biss dadurch nur härter an den tränenbenetzten Stellen zu. Du dummes Mädchen, schimpfte sie mit sich selbst. Tränen helfen nix, Tränen lösen nix, Tränen nerven andere nur. Ihre Mutter sagte ihr das ständig. Emmelie wollte niemanden nerven, Emmelie vermisste es nur so sehr, in den Arm genommen zu werden. Daheim hatte sie aufgegeben, danach zu betteln. Die blauen Flecken taten oft tagelang weh, die sie kassierte, wenn sie wieder zu anhänglich war und nervte.
Der Schneefall wurde heftiger und langsam setzte die Dunkelheit ein, obwohl es noch früh am Abend war. Erneut zog sie den Schal etwas fester, um zumindest ihre Ohren warmzuhalten. Sie war müde, aber nicht weil es Zeit zum Schlafen war. Es fühlte sich an, als wäre ihr Herz müde. Manchmal glaubte sie, es wäre viel zu beschwerlich, Tag für Tag zu schlagen und jahrelang immer die gleiche Arbeit zu tun. War es da nicht verwunderlich, dass es da manchmal einfach müde wurde und nicht mehr schlagen wollte? Ebenso wie bei Großmutter und Großvater. Vor etwas mehr als zwei Jahren hörte Großpapas Herz einfach auf zu schlagen, stellte die Tätigkeit ein und befand, dass es genug war. Großmama weinte danach sehr oft und Emmelie, die sonst beinahe jeden Tag bei ihnen war, durfte plötzlich nur noch selten kommen. Großmama sei genau so krank wie Großvater, wurde ihr als Grund genannt. Dann stelle auch Großmutters Herz die Tätigkeit ein, es war müde, traurig und es vermisste Opa so sehr, dass es auch nicht mehr schlagen wollte. ›Unsere Herzen brauchen einander, sie gehören sich gegenseitig. Ist das Eine nicht mehr, mag auch das Andere nicht mehr.‹ Das waren Großmamas Worte, als Emmelie fragte, ob sie nun für immer weinen würde.
Jetzt verstand sie, was ihre Großmutter damit sagen wollte, heute fühlte sie diese Müdigkeit auch.
Langsam ging Emmelie auf eine der zugeschneiten Parkbänke zu und lauschte dem knirschenden Schnee unter ihren Schuhen. Sie schob das kalte Weiß mit ihrem dünnen Ärmelchen herunter und hockte sich auf das nasse Holz. Ihre Haut war mittlerweile taub und so merkte sie die zusätzliche Kälte nicht. Es war etwas wärmer, wenn sie sich zusammenkauerte, also zog sie ihre Knie an, legte das Kinn darauf und umarmte ihre Beine. Sanft schaukelte sie sich hin und her und summte eine Weihnachtsmelodie mit, die leise vom Markt an ihre Ohren klang. So müde waren ihre kleinen Äuglein, so unendlich müde. Was konnte es schon schaden, wenn sie die Lider für einen Moment schloss.
Erschrocken fuhr sie hoch, als sie neben sich ein Kichern hörte. Schlaftrunken schaute sie sich um. »Wer ist da? Wer lacht mich aus?«
Wieder ein Kichern. »Nicht aus … na gut, ein bisschen mag sein. Du siehst aus wie ein Schneemann«, erneutes Kichern erklang hinter der Laterne.
Emmelie schüttelte sich und rutschte von der Bank. »Zeig dich, bitte.«
»Aber dann erschrickst du dich vielleicht.«
Emmelie schüttelte den Kopf. »Mich kann man nicht so leicht erschrecken.«
»Also gut, aber wehe, du schlägst nach mir!«
Emmelie hielt die kleine Faust vor den Mund und kicherte nun ebenfalls. »Ich und schlagen.«
»Na gut, Achtung, ich komme jetzt hervor.«
Erstaunt öffnete Emmelie den Mund und riss die Augen auf. »Du bist ja eine Elfe?!«
Verächtlich schnaufte die kleine Lichtkugel, die unstet zu dem kleinen Mädchen herüber schwebte. »Bäh, Elfe. Ich bin doch keine von diesen nervigen kleinen Biestern. Ich bin eine Sternenspinnerfee.«
Emmelie formte ein erstauntes O mit den Lippen. »Ui, was ist denn ein Sternenspinner?«
»Wir …«, die kleine Leuchtkugel flog einen kleinen Looping und formte das Wort genau so schwunghaft. »Wir sorgen dafür, dass die Sterne miteinander verbunden bleiben. Wir spinnen einen Faden, knoten ihn an eine der Sternenzacken und binden das andere Ende an einen anderen Stern. So verlieren sie sich nie. Denn du weißt ja, dass alle Sterne Menschen waren, deren Herz zu müde wurde und nicht mehr schlagen mochte.«
»Oh nein, das wusste ich nicht. Wie wunderbar ist dieser Gedanke. Sind denn auch meine Großeltern da oben aneinander gebunden?«
Die kleine Sternenspinnerin lachte gutmütig. »Natürlich sind sie das. Schau mal genau hin.« Die Fee flog dicht an Emmelie ran und hob mit ihrem leuchtenden kleinen Ärmchen das Kinn des Mädchens gen Himmel. »Siehst du?«
Enttäuscht schüttelte Emmelie den Kopf. »Nein, da sind zu viele Wolken, ich kann nicht hindurchsehen.«
»Hmm«, sprach das kleine Wesen und kratzte sich nachdenklich an der Nase. »Ha! Ich hab es. Wir müssen pusten.«
Emmelie runzelte die Stirn. »Ja na klar, ich kann doch nicht die Wolken wegpusten, du bist ja lustig.«
Theatralisch flog die kleine Lichtkugel zum Geländer der Uferpromenade und plumpste in den darauf liegenden Schnee. »Oh nein, sie glaubt mir nicht, sie glaubt, ich lüge, buhuhuhuhu.«
Bestürzt lief Emmelie auf die Sternenspinnerin zu und beteuerte: »Nein, nein, so meinte ich das nicht, ich würde das nie sagen.«
Die kleine Spinnerin schniefte, flog zu Emmelie herüber, griff nach deren Schal und posaunte laut hinein, um sich die tropfende Nase zu wischen. »Du glaubst mir also?«
Emmelie verzog die Mundwinkel, als sie die Spuren im Schal sah. »Bäh. Ähm … ja, ja, ich glaube dir … äh … Spinnerin? Wie heißt du eigentlich?«
Als wäre nichts gewesen, flog die Lichtgestalt wieder fröhlich um Emmelies Kopf herum. »Ich heiße Zitrone.«
Emmelie lachte schallend und hielt sich den Bauch. »Du heißt Zitrone?!«
Schmollend drehte Zitrone Emmelie den Rücken zu. »Es war kein anderer Buchstabe mehr frei, ich hatte die Wahl zwischen Zitterpappel und Zitrone. Glaubst du, ich wollte Zitterpappel heißen?!«
»Oh bitte sei nicht böse, Zitrone. Ich finde deinen Namen toll, ganz ehrlich. Ich heiße Emmelie.« Mit einem versöhnlichen Lächeln hielt Emmelie der kleinen Fee ihre Hand hin. Nach einem winzigen Zögern drehte sich Zitrone zu ihr und griff nach Emmelies Zeigefinger um ihn zu schütteln.
»Schön dich kennenzulernen, Emmelie. Aber jetzt, da du mir glaubst, fang an zu pusten, ich helfe dir auch. Zusammen schaffen wir das.« Zuversichtlich nickte die Fee und starrte konzentriert zur Wolkendecke. »Auf mein Zeichen, ja? Bei drei. Eins … zwei … uuuund drei.«
Emmelie holte ganz tief Luft und pustete so stark sie konnte zum Himmel hinauf.
»Noch einmal, ja nicht aufhören und wieder, eins … zwei … drei.«
Erneut setzte Emmelie an, saugte die Nachtluft ein, die ihr plötzlich gar nicht mehr kalt vorkam, und pustete, was die Lungen hergaben.
»Wir haben es fast geschafft, noch ein letztes Mal, Emmelie. Eins … zwei uuuund drei.« Emmelie wurde schwindelig, aber sie gab nicht auf, sie pustete, bis sie keine Luft mehr hatte. »Oh Zitrone, ich kann nicht mehr.« Emmelie keuchte und stützte vornübergebeugt ihre Hände auf den Knien ab.
»Das brauchst du auch nicht«, sagte Zitrone freudig. »Schau doch, oh schau hin.«
Emmelie hob den Kopf und starrte auf einen sternenübersäten Nachthimmel. »Das ist so wunderschön«, flüstere sie ehrfürchtig. »Sie funkeln so wunderbar.«
»Sie freuen sich, dich zu sehen«, wisperte Zitrone leise, ebenso von Ehrfurcht ergriffen. »Und nun schau genau hin, siehst du es?«
Emmelie schüttelte enttäuscht den Kopf. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Lass dir Zeit.« Zitrone lächelte aufmunternd, schwirrte auf Emmelies Schulter und setzte sich. »Sie alle haben ein Band, das sie miteinander verbindet. Es ist aus Liebe und Hoffnung geknüpft, getränkt in Zuversicht und Mitgefühl. Es hält alle Seelenpartner für alle Ewigkeiten zusammen, sodass sie sich nie wieder verlieren können.«
»Das ist so schön.« Emmelie wischte sich verstohlen über die Wangen, aber ein kleiner Schluchzer ließ sich nicht unterdrücken.
»Warum weinst du Emmelie? Freust du dich nicht, dass sie sich nie wieder verlieren?«
Emmelie nickte vehement. »Natürlich freut mich das, aber ich habe keinen Seelenpartner, ich werde eines Tages ganz alleine dort oben sein, so wie ich es hier untern bin.«
»Aber Liebes, du wirst nie wieder alleine sein, wenn du das nicht möchtest.« Die kleine Fee streichelte liebevoll über die Wange des Mädchens. »Ich bin geschickt worden, um dich zu holen, weißt du das?«
»Was meinst du?« Emmelie erschrak über die tiefe Traurigkeit in ihrer Stimme.
Die Sternenspinnerin flog vor Emmelies Gesicht. »Ich war einst wie du. Allein und verloren. Aber dann sprachen Mond und Sonne zu mir. Sie fragten mich, ob ich ihnen meine Liebe schenken mag, da sie auf Erden sonst niemand wollte, und versprachen mir, dass ich nie wieder allein sein müsse. So wäre ich umgeben von Freundlichkeit und Liebe, für immer. Mein kleines Herz war müde, es wollte nicht mehr schlagen, also sagte ich ja. Seit dem lebe ich mit meinen Schwestern und Brüdern im Himmel und wir verbreiten all unsere Liebe auf die Menschen, damit auch sie Liebe geben können.« Zitrone schluckte. »Ich habe dich gesehen und deine Traurigkeit kam mir nur all zu bekannt vor. Bitte höre jetzt genau zu, Emmelie. Du musst dich jetzt entscheiden, ob auch du eine Sternenspinnerin werden willst, aber es ist wichtig, dass du mir deine Entscheidung jetzt mitteilst. Außerdem du darfst dich nicht umdrehen, denn wenn du es doch tust, werde ich dich auf jeden Fall mitnehmen müssen, verstehst du das?«
Emmelie nickte und schaut wieder hinauf in den Himmel, sie konnte die Verbindungen zwischen den Sternen nun ganz deutlich sehen. Dann drehte sie sich um und schaute auf die Bank.
»Emmelie! Nein! Was hast du getan?« Zitrone flatterte aufgeregt mit ihren Flügeln und schlug sich die Hände vor die Augen.
»Ist schon gut, Zitrone. Ich habe mich längst entschieden. Ich freue mich auf euch«, sie stockte kurz. »Sind Mond und Sonne nett?«
Zitrone lächelte gütig. »Sie sind die Liebsten, die du dir vorstellen kannst.«
Emmelie starrte noch immer auf den schneebedeckten Körper, der eingekugelt auf der Parkbank kauerte, einzig ein roter Schal lugte aus dem dichten Schnee hervor.
»Ich bin so weit, ich will dich begleiten.«
»Nimm einfach meine Hand, Liebes.«
Emmelie entfuhr ein Laut des Erstaunens, unbemerkt hatte sie sich in eine leuchtende kleine Fee verwandelt, auf deren Rücken winzige Flügel lustig flatterten.
Der glockenklare Klang ihres Lachens war noch weit durch die Nacht zu hören, als sie und Zitrone gemeinsam zu ihrem neuen Zuhause flogen.
Und manchmal, wenn man ganz still ist und die Nacht am Dunkelsten, dann schau hinauf zu den Sternen. Wenn du dir Zeit lässt, siehst du die Sternenspinner von Stern zu Stern huschen und ihr Band der Liebe knüpfen.