Bad Hönningen, 31.10.2022
Die Sonne war längst untergegangen, die Nacht hereingebrochen. Vom Rheinufer zogen dicke Nebelschwaden auf, die wie Gespenster wirkten. Sie näherten sich dem Schloss und erschwerten die Sicht. Gelegentlich mischte sich ein Geheule in die Stille, als würde einer der Geister sein Leid klagen.
Oder wollte er die Menschen vor etwas warnen?
Nur wovor?
Oliver wandte sich vom Geschehen ab und betrachtete stattdessen die mittelalterliche Burg vor sich, deren Fassade tiefrot angestrahlt wurde. Es wirkte, als würde aus jeder Fuge, jedem der unzähligen Fenster Blut herauslaufen. Die Veranstalter der heutigen Führung wussten, wie man eine entsprechende Atmosphäre schaffte – keine Frage.
Stattliche zwölf Türme, von denen Oliver hoffte, ihre Geheimnisse zu erfahren, ragten wie gefährliche Spitzen gen Himmel, als wären sie dazu in der Lage, die schützende Ozonschicht wie einen Ballon zum Platzen zu bringen.
Plötzlich bemerkte Oliver einen Schatten hinter einem der Fenster des rechten Turms. Dort öffnete sich eine Tür. Als Oliver durch die Scheibe des danebenliegenden Raumes blickte, flackerte in diesem das Licht, bis es schließlich erlosch. Man versuchte wohl, den Leuten eine Gänsehaut zu bescheren, ihnen Angst einzujagen. Oliver amüsierte das Vorgehen.
Viele Menschen glaubten an ein Leben nach dem Tod und klammerten sich geradezu fest an der Vorstellung, nach ihrem Ableben selbst durch die Lüfte und Wolken zu fliegen wie ein Vogel. Andere hingegen belächelten diese Denkweise und behaupteten, es sei eine bloße Erfindung selbsternannter Gottesvertretern, um die Menschheit gezielt zu täuschen, damit sie sich dem christlichen Glauben anschloss. Denn wer sich für den Glauben entschied, spülte auch ordentlich Geld in die Kasse.
Das Turmzimmer blieb dunkel, und Oliver verspürte den Drang, es im Beisein der Gruppe, die sich vor dem Haupteingang des Schlosses versammelt hatte, zu betreten. Jeder würde die lächerliche Inszenierung sofort erkennen. Doch um diese zu entlarven, müsste nur diese eine Tür geöffnet werden.
Immerhin gab es insgesamt zweiundfünfzig Türen, hinter denen es einiges zu entdecken galt. Selbst wenn es sich nur um gewöhnliche Menschen handelte, die sich für die heutige Geisterführung als Gespenster oder schaurige Kreaturen verkleidet hatten, um die Teilnehmer erschauern zu lassen, interessierte sich Oliver viel mehr für das historische Gebäude selbst sowie dessen Mobiliar und ausgestellten Kunstgegenstände.
Für Oliver war ein langersehnter Wunsch in Erfüllung gegangen, als er an diesem Morgen die Eintrittskarten zum Geburtstag bekommen hatte. Sein Freund Markus war ein guter Zuhörer, wie ihm einmal mehr bewusst wurde.
»Es geht gleich los«, sagte Markus frohlockend. »Kann es kaum noch erwarten.«
Oliver schmunzelte. »Glaube ich dir aufs Wort. Immerhin hast du ja auch was davon.«
»In erster Linie ist das dein Geschenk, Schatz.«
»Hm«, machte Oliver. »Aber du bist definitiv derjenige von uns, der auf Grusel und Horror steht.«
»Ja, schon richtig. Aber heute ist dein großer Tag.«
Markus küsste Oliver auf den Mund, schaute ihm dann in die Augen, lächelte schelmisch und zwinkerte mit dem rechten Auge, bevor er mit gedämpfter Stimme hinzufügte: »Und der ist noch lange nicht zu Ende.«
Oliver erwiderte das Lächeln. »Dann bin ich mal gespannt, was mich noch erwartet«.
»Lass dich einfach überraschen.«
»Das werde ich.«
Plötzlich erhellte sich der Himmel, woraufhin gefährlich wirkende Schatten mit langen Armen und ebenso langen, spitzen Fingern auftauchten und nach den Teilnehmern zu greifen schienen. Dann grollte ein ohrenbetäubender Donner.
Markus zuckte zusammen. »Krass! Hast du die Kreaturen gesehen?«
»Ich wette, die Veranstalter haben die Bäume absichtlich so positioniert und beschnitten, damit sie solche Schatten werfen«, sagte Oliver.
»Ja, kann schon sein.«
Im nächsten Moment öffnete sich die massive Eichentür. Ein hagerer, alter Mann kam zum Vorschein. Er trat wenige Schritte ins Freie, blickte gen Himmel, bevor er sich eine markante Brille aufsetzte und den Gästen zuwandte.
»Herzlich willkommen am Hofe Arenfels. Mein Name ist Gerlach«, sagte er schließlich und streckte beide Arme zur Begrüßung aus. »Für diejenigen von Ihnen, die es noch nicht wissen: Das Schloss bekam Mitte des neunzehnten Jahrhunderts den Beinamen Schloss des Jahres, was auf seine Anzahl der zweiundfünfzig Türen, dreihundertfünfundsechzig Fenster und zwölf Türme zurückzuführen ist. Seine heutige äußere Gestalt entstand in der Zeit von 1849 bis 1855.«
»Das wusstest du doch bestimmt schon, oder?«, fragte Markus leise seinen Freund.
Oliver nickte und bedeutete Markus, still zu sein.
»Heute Abend«, fuhr Gerlach fort, »werden Sie nur einen Teil der Schlossanlage kennenlernen – oder sollte ich lieber sagen, Sie lernen sie fürchten?«
Er lachte verhalten auf und räusperte sich.
»Ich darf Sie nun bitten, mir zu folgen. Aber seien Sie vorsichtig: Im Inneren – so munkelt man hinter vorgehaltener Hand – sollen die Seelen Verstorbener ihr Unwesen treiben. Manche von ihnen, so sagt man, seien friedlich und möchten ihre Geschichte erzählen, die sie damals zu Lebzeiten hier erlebt haben. Andere hingegen fühlen sich durch Besucher gestört und lassen sie das auch spüren. Und mal ganz unter uns«, er hielt sich die rechte Hand vor den Mund, »es heißt, dass so manch einer das Schloss nicht lebend verlassen hat.«
Er ließ die Hand wieder sinken und räusperte sich erneut. »Aber machen Sie sich darum keine Sorgen. Solange Sie als Gruppe zusammenbleiben und mir folgen, dürfte Ihnen nichts geschehen. Bisher ist mir in den letzten Jahren, die ich hier verbracht habe, keiner meiner Gäste abhandengekommen. Und nun treten Sie bitte ein.«
Er vollführte eine ausladende Handgeste zur Tür, woraufhin sich die Gruppe dem Eingang näherte.
Oliver und Markus folgten.
Die Empfangshalle war nahezu in Dunkelheit gehüllt. Wenige Kerzen und beleuchtete Kürbisse mit schaurig wirkenden Fratzen gaben nicht ansatzweise die Möglichkeit, die wahre Größe des Foyers und dessen Mobiliar zu erahnen. Auf der rechten Seite stand eine mittelalterliche Ritterrüstung mit erhobenen Schwertes, als würde sie die mit massiven Eisenbeschlägen und Trickschlössern versehene Holztruhe bewachen. Was sich wohl im Inneren befand? Nur wer die ausgeklügelten Mechanismen der Vorhangschlösser umgehen konnte und die richtigen Schlüssel besaß, war dazu in der Lage, das Geheimnis zu lüften. Eine Technik, mit denen sich aktuelle Diebe nicht mehr auskannten.
Oliver sah sich weiter um. Er wusste anhand seiner Recherchen, welche Kostbarkeiten es hier zu entdecken gab, umso enttäuschter war er, sie nicht im hellen Schein der zahlreichen Kronleuchter betrachten zu können.
»Werte Gäste«, begann Gerlach, der sich einen Kerzenständer von einem hüfthohen Möbelstück nahm. »Wir befinden uns nun im ältesten Teil der Schlossanlage. Wie sie sich denken können, gingen einst Adel und ganze Königshäuser hier ein und aus. Mehr ein als aus, wenn man den Überlieferungen Glauben schenkt.«
Wie aus dem Nichts flog ein Gespenst durch den Raum, das qualvolle Schreie von sich gab.
Eine Frau schrie auf, ein paar Männer lachten.
Markus klatschte etwas zu laut in die Hände, derweil er sich mehrmals begeistert umsah.
Oliver hingegen langweilte die simple Inszenierung.
»Wie Sie sehen, werden wir bereits erwartet. Lassen Sie uns also ins erste Zimmer unserer heutigen Führung gehen. Bitte folgen Sie mir.«
Gerlach öffnete auf der linken Seite eine Tür, deren Scharniere genauso laut ächzten wie in einem Horrorfilm. Dann ging er hinein.
»Ich finde es bis jetzt mega toll hier«, meinte Markus.
»Na ja, ich hatte mir ehrlich gesagt mehr erhofft. Allenfalls müssen wir an einem anderen Tag zurückkommen, damit ich auch auf meine Kosten komme.«
»Wieso?«
»Ich seh hier nichts. Du etwa?«
»Aber so was von. Die ganze Atmosphäre ist klasse.«
Markus Augen glänzten im Kerzenlicht wie die eines kleinen Kindes an Weihnachten.
War ja klar, dass sein Freund sich mit dem zufriedengab, was man ihn sehen ließ.
Für Oliver war der folgende Raum genauso enttäuschend wie die drei weiteren. Zwar hatte ein Mann, der über seinen Körper ein Bettlaken trug, eine tragische Geschichte erzählt, jedoch kannte er sie bereits.
»Komm mit«, flüsterte Markus und zog Oliver weg von der Gruppe.
»Was hast du vor?«
»Hier geht’s in den Keller. Ich will wissen, ob dort unten irgendwelche Leichen sind. Dann machen wir ein paar nette Fotos für unser Album.«
Oliver glaubte sich verhört zu haben. »Spinnst du? Wir können doch nicht einfach …«
»Können wir wohl!«, hielt Markus dagegen. »Ich seh doch, dass du nicht wirklich glücklich bist. Vielleicht befinden sich tolle Kunstgegenstände im Keller, die vor den Besuchern verborgen werden. Dann kannst du wieder dein Ritual abhalten und alle Details in dein kleines Notizbuch schreiben.«
»Ich weiß deine Idee wirklich zu schätzen, aber was ist, wenn wir erwischt werden?«
Markus zuckte mit den Schultern. »Dann ist das so. Dennoch wird sich ein kleiner Abstecher ganz bestimmt lohnen. Danach schleichen wir uns zur Gruppe zurück.«
Er griff nach der abgewetzten Türklinke, drückte sie herunter, woraufhin sie leise quietschte. Entgegen den vorherigen Türen gab diese kein weiteres Geräusch von sich, als Markus sie schließlich öffnete.
»Heute ist unser Glückstag, Schatz.«
»Das ist Wahnsinn«, protestierte Oliver. »Die können uns wegen Hausfriedensbruch drankriegen.«
Markus grinste siegessicher. »Nicht, wenn wir aufpassen.«
Die Luft im Gang war feucht, kühl und roch modrig.
Oliver tastete nach einem Lichtschalter, spürte jedoch nur das grobe Mauerwerk. Dann berührte etwas seine Hand.
Er zuckte zurück und stieß rücklings gegen einen Gegenstand.
»Psst«, sagte Markus. »Mach nicht so einen Lärm, sonst fliegen wir sofort auf.«
»Da war was an meiner Hand«, verteidigte sich Oliver. Er zückte sein Smartphone hervor und schaltete die Taschenlampenfunktion ein. Sogleich fand er einen Weberknecht an seinem rechten Jackenärmel, den er schnell abschüttelte. Er hasste Spinnen.
»Wow! Wirkt wie die Katakomben in Rom«, meinte Markus. »Bei Sakrileg sah das genauso aus.«
»Das war nicht Sakrileg, sondern Illuminati, wo die gestohlene Antimaterie lag«, sagte Oliver.
»Stimmt. Und wenn der Keller hier nur annähernd so aufgebaut ist, dann gibt’s bestimmt auch Geheimgänge.«
»Kann gut möglich sein.«
Vor ihnen lag eine Treppe, die genau wie die Wände aus groben Steinen bestand und deren Ende sich in der Dunkelheit verlor. Viele Fugen waren rissig, manche Stufen wiesen abgeplatzte Stellen auf. Hier hatte man wohl auf eine Restaurierung verzichtet.
Markus ging voran, sah sich interessiert um.
Oliver wollte ihm gerade folgen, als er hinter sich ein metallisches Klicken vernahm. Ein weiteres folgte. Eilig trat er auf die Tür zu.
Verschlossen.
Ein eiskalter Schauer lief seinen Rücken hinab.
»Schatz«, sagte er tonlos. »Jemand hat uns eingesperrt.«
»Wie jetzt?« Markus wandte sich um. »Bist du dir da sicher? Es war doch keiner mehr hinter uns, als wir reingegangen sind.«
Noch einmal zog Oliver an der Tür. Vergebens.
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte er schließlich.
»Es gibt hier bestimmt noch einen weiteren Ausgang. Lass uns nachsehen.«
»Da bin ich mir nicht sicher. Laut meinen Infos ist der Keller rundum verschlossen.«
»Olli, wenn wir nicht nachsehen, werden wir es nicht erfahren. Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd und komm!«
Markus drehte sich herum und stieg die Stufen hinunter.
»Wir kommen in Teufels Küche«, sagte Oliver und sah sich noch einmal zur Tür um, bevor er Markus folgte.
Je weiter sie voranschritten, desto stärker wurde der modrige Geruch. In regelmäßigen Abständen hingen schmiedeeiserne Fackelhalter an den Wänden, teilweise angerostet, stark beschädigt oder mit Spinnweben versehen. Als sie die letzte Stufe überwunden und die einzige Tür im darauffolgenden Gang passiert hatten, fanden sie sich in einem großen, runden Raum mit Gewölbe wieder, in dessen Mitte eine Art Altar stand. Oder war es ein Steinsarg?
Oliver leuchtete die Lettern ab, die in den Stein gehauen waren, konnte sie jedoch nicht entziffern. Vermutlich eine Mischung aus Lateinisch und Altdeutsch. Auf der massiven Steinplatte, die das sargähnliche Gebilde verschloss, fand er eingemeißelt ein Kreuz vor, darunter die Jahreszahlen 1213–1287 und einen Namen, daneben eine römische Zwei.
»Wahnsinn«, sagte er. »Hier liegt Heinrich der Zweite von Isenburg. Er soll die Burg errichtet haben.«
»Na, dann bist du ja doch noch auf deine Kosten gekommen, Schatz.«
Unerwartet flackerten beide Handylampen. Dann ging auf der rechten Seite eine Tür auf, deren Holz auf den Steinfliesen schleifte.
Erschrocken fuhr Oliver herum und befürchtete, dass sie nun erwischt würden. Als er schon zu einer Erklärung ansetzen wollte, hielt er inne. Denn niemand war herausgekommen oder zu sehen. Lediglich ein Luftzug wehte ihm entgegen.
»Die war bestimmt nicht richtig zu«, meinte Markus lapidar. Er näherte sich der Tür mit hochgehaltener Lampe. »War nur ein Luftzug.«
»Sie schleifte aber über den Boden, Markus. Ich glaube kaum, dass es hier so stark zieht …«
»Bleib locker, Schatz, da ist niemand«, sagte Markus und stieß die Tür weiter auf. »Aber lass uns mal gucken, was da drinnen ist.«
Er ging hinein.
Er schrie.
Die Tür fiel lautstark ins Schloss.
Stille.
»Markus!«, rief Oliver, noch während er zur Tür rannte. »Markus! Was ist los?«
Mehrmals rüttelte er an der Klinke, hämmerte und trat gegen das Holz – vergebens.
»Mann, Markus, mach keinen Scheiß! Mach die Tür auf!«
Keine Antwort.
Hinter sich vernahm er ein weiteres Geräusch. Es klang danach, als würde Stein auf Stein reiben.
Oliver wandte sich um. Seinen Herzschlag spürte er bis in den Hals.
Was er dann sah, ließ ihn erstarren. Der Sargdeckel stand offen. Im Raum stand eine menschliche Gestalt mit blutrot leuchtenden Augen. Hautfetzen hingen an ihrem Körper herunter.
»Wie schön, ich habe Gäste«, sagte diese mit tiefer, rauer Stimme.
Oliver entglitt das Smartphone. Es fiel zu Boden, die Lampe erlosch.
»Soll das hier irgendein Prank sein? Komm schon, Markus, lass den Mist.«
Hastig bückte er sich, tastete mit beiden Händen nach dem Mobiltelefon.
»Leiste mir doch etwas Gesellschaft, Oliver. Wir werden uns sicherlich gut verstehen.«
Das Letzte, was Oliver wahrnahm, waren die roten Augen, dann der höllische Schmerz in seiner Brust, bevor er das Bewusstsein verlor.
Gerlach begleitete die Gruppe hinaus ins Freie. Er war zufrieden mit der heutigen Führung. Ein paar Touristen hatten sich fürchterlich erschrocken, als weitere Geister aufgetaucht waren. Eine junge Dame hatte sogar zu kreischen begonnen, als ein Gespenst ihr von hinten die Augen zugehalten hatte. Besonders gut kamen die Geräusche aus dem Keller, während Tim, ein weiterer Mitarbeiter der Veranstaltung, eine dramatische Geschichte über zwei verschwundene Knaben erzählte, die eines Nachts im vierzehnten Jahrhundert ins Schloss eingedrungen waren, um Gold zu stehlen.
»Meine lieben Gäste, ich hoffe, dass die Führung Ihnen gefallen hat. Wie sie sehen, sind wir vollzählig ins Freie gelangt, ohne Verluste«, sagte Gerlach, bevor er hinauf in eines der Turmfenster blickte, hinter denen er die zwei leuchtenden Augenpaare der Neuankömmlinge ausmachen konnte.
Niemand hatte bemerkt, dass die Gruppe geschrumpft war.