Die Lampe geht aus. Das Bild des Fernsehers erstirbt mitten in der Bewegung. Die Lichter am Weihnachtsbaum, dunkel. Von draußen dringt kein Leuchten der Straßenlaternen oder anderer Weihnachtsdeko mehr herein.
Mit einem Schlag ist der Ton weg und es ist zappenduster im Zimmer.
Der Tannenduft drängt in deine Nase, aber danach steht dir jetzt nicht der Sinn. Verwundert schaust du dich um. "Was ist passiert?"
"Der Strom ist ausgefallen", stellt dein Partner fachmännisch fest und hat sofort einen Plan parat. "Ich lauf zum Sicherungskasten. Du leuchtest."
Ein guter Plan, bis auf eine klitzekleine Tatsache: Den Sicherungskasten findest du auch ohne Licht, schließlich weißt du, wo er sich befindet und das ist etwas, was du von der Taschenlampe nicht behaupten kannst.
"Wo ist unsere Taschenlampe?"
Auch ohne etwas sehen zu können, weißt du, dass dein Partner die Augen zusammenkneift. "Egal. Nimm doch einfach das Handy."
Recht hat er! Das geht natürlich auch. Du tastest dich mit kleinen Schritten zum Küchentisch voran, auf dem die Handys liegen. Bei euch gibt es die strenge Regel, dass beim Filmschauen nicht auf den Sozialen Medien oder Belletristica gesurft wird. Zu oft schon habt ihr euch dabei erwischt, wie der Film zur Nebensache wurde, jedoch aber nicht zur schönsten.
"Mist!", rufst du, als deine Hände in der Dunkelheit das kleine Gerät ertasten und der Bildschirm unter deinen Fingern aufleuchtet. "Ich wollte das Handy doch vor dem Film noch laden. Jetzt habe ich nur noch drei Prozent Akku. Hoffentlich ist deines voll?"
Du überreichst deinem Partner sein Handy. Er entsperrt es und schaltet die Taschenlampe an. "Das reicht noch", stellt er mit einem Blick aufs Display fest.
Ihr lauft im Schein der Handylampe in den Keller hinunter, wo sich der Sicherungskasten befindet. Vorher müsst ihr aber einen Slalom um die Kartons mit der Weihnachtsdekoration herum veranstalten.
"Warum stehen die eigentlich noch hier?", fragt dein Partner.
"Wollte ich morgen aufräumen", antwortest du, weil du liebend gern Dinge auf den nächsten Tag verschiebst, in der Hoffnung dann mehr Zeit zu finden. Was du aber nie tust.
Wenigstens findet ihr den Sicherungskasten. Überraschenderweise ist keine der Sicherungen herausgesprungen. Alle sind, wie sie sein sollen. Frustriert betätigt dein Partner den Lichterschalter, aber nichts passiert.
"Gehen wir zurück nach oben. Suchen die Taschenlampe und Kerzen", sagt er.
Als ihr wieder oben seid, fällt dir etwas ein. "Du? Die Taschenlampe könnte noch bei den Campingsachen sein. Und die stehen unten im Keller." Jemand stöhnt leise. Du bist es nicht.
"Die wollte ich eigentlich seit dem Urlaub mal ausräumen und ordentlich verstauen."
"Egal", sagt dein Partner und du bist über das Ausmaß seiner Gelassenheit erstaunt. "Wahrscheinlich sind die Batterien sowieso leer."
Im nächsten Moment hört ihr einen Tumult auf der Straße. Leider könnt ihr nicht hinausschauen, weil die elektrischen Rolläden unten sind und die kann man ohne Strom nicht bedienen. Jemand spricht. Den Stimmen nach scheinen es mehrere Leute zu sein.
"Die Nachbarn sind auf der Straße", stellt dein Partner fest.
"Wahrscheinlich haben die auch keinen Strom. Komm lass uns mal nachsehen."
Also steht ihr wieder auf und geht die Treppe runter, etwas anderes als in einer dunklen Wohnung herumzusitzen, gibt es gerade ohnehin nicht zu tun.
Als ihr die Haustür aufmacht, schlägt euch ein eisiger Wind entgegen und vom Himmel wirbeln dicke, fette Flocken herab.
"Was für ein Sauwetter", begrüßt du deine Nachbarin Marina. Dann schaust du dich um. "Und ganz schön dunkel hier draußen."
Nirgendsmehr leuchtet eine Lichterkette, nur noch ein paar vereinzelte, batteriebetriebene Lichterkränze blinken wie die letzten, verzweifelten Krieger eines längst verlorenen Gefechts, allerdings nicht wirklich hell. Die Straßenlaternen sind tot. Die ganze Straße wirkt wie ausgestorben, obwohl zahlreiche, dick eingemummte Figuren hier und da in der Dunkelheit beisammenstehen.
"Weiß jemand mehr?", fragt der Nachbar von nebenan. Er tippt auf seinem Handy herum. Keiner antwortet. "Na, jedenfalls habe ich jetzt mal eine Störungsmeldung abgesetzt", redet er unbeirrt weiter.
Auch dein Partner zückt sein Handy. "Sogar in der Taverne haben ein paar Leute berichtet, dass bei ihnen der Strom weg ist", teilt er dir wenig später mit. Du musst schlucken. "Aber, aber die wohnen doch alle woanders!"
"Ja, scheint ein größeres Problem zu sein", bemerkt Peter, der Nachbar mit der Störungsmeldung und dem Handy, dessen Schein seine Gesichtszüge gerade noch so erkennbar werden lassen.
"Ohje", stöhnt Marina. "Und was mache ich jetzt mit meiner alten Elektro-Heizung in meiner ach so toll isolierten Bude?" Sie zieht sich die Mütze tiefer ins Gesicht und kuschelt sich in ihren Schal. Du ziehst sie zu dir und ihr umarmt euch. "Ist doch klar! Du kommst für heute Nacht mit zu uns!"
Da gibt es keine Frage. Schließlich wohnt Marina seit ihrer tränenreichen Trennung im letzten Jahr allein.
Irgendwo am anderen Ende der Straße leuchtet in diesem Augenblick der Kegel eines Autoscheinwerfers auf. Im Schein des Lichtes seht ihr die dichte, weiße Decke, die sich bereits auf dem Asphalt gebildet hat und noch rein und unberührt ist. Das Licht der Straßenlaternen hätte sich unter anderen Umständen bestimmt zauberhaft in der Schneedecke gespiegelt, aber so wirkt es wie eine farblose Decke, deren ihr Glitzern abhanden gekommen ist. Ohne Beleuchtung ist die Welt dunkel und glanzlos.
Das Auto fährt nicht los. "Gute Idee", meint Peter, kramt nach seinen Schlüsseln im Anorak und stellt kurz darauf ebenfalls die Scheinwerfer seines Mercedes an.
Auch das Pärchen von gegenüber gesellt sich zu euch. Fast hättest du die junge platinblonde Dame nicht erkannt, die am Arm ihres Lovers hängt. Lange wohnen sie noch nicht in der Altbau-Wohnung neben der von Marina, aber sonst ist sie immer perfekt geschminkt und gestylt. Heute trägt sie eine dicke Wollmütze, die ihre Haarpracht komplett bedeckt und eine der Figur eher abträgliche Daunenjacke in XXL, aber immerhin Schuhe mit hohen Absätzen, die sogar im Schnee noch klackern.
Sie wischt sich mit den langen Acrylnägeln in Tiefrot, wie du dank des Autoscheinwerfers erkennen kannst, eine Schneeflocke von der Stirn. "Meint ihr, das dauert noch lange?"
Ihr zuckt die Schultern und Peter äußert aus Höflichkeit ein paar Worte, ehe er mit Kevin, ihrem Begleiter, ein Gespräch beginnt.
"Ich wollte mir doch noch die Haare glätten", nörgelt sie und schaut gequält drein.
Du stösst deine Freundin an. "Naja, jetzt im Dunkeln sieht das ja eh keiner", flüsterst du ihr zu. Ihr lacht, auch wenn es nicht nett ist, woraufhin sich das Mädchen wieder ihrem Partner zuwendet.
Ein paar weitere Autoscheinwerfer leuchten auf und setzen die immer noch dick fallenden Flocken gekonnt in Szene. Schneeflocken rauschen durch gelbliches Licht. Bis auf die Gespräche entlang des Gehwegs ist es beinahe ruhig und sehr idyllisch. Aber auch bitterkalt.
Marinas Zähne klappern und du frierst ebenfalls.
"Lass uns deine Sachen holen und zu dann zu uns gehen", schlägst du vor.
Sie nickt und du hakst dich bei ihr unter. Dein Partner will noch bei den Männern aus der Nachbarschaft bleiben und warten, bis ihr wieder zurück kommt. Worte wie Akku und Notstromaggregat fallen und einige weitere technische Fachbegriffe, von denen du keine Ahnung hast.
Marinas Handylampe leuchtet euch den Weg durch den noch unberührten Schnee zu ihrer Haustür und dann die ausgetretenen Treppenstufen hinauf in ihre Wohnung. Bei ihr ist es ohnehin immer zugig und kalt. Du willst gar nicht wissen, wie es in ein paar Stunden hier aussieht. Schnell packt sie ihre Schlafsachen, Zahnbürste, eine Decke und ein paar Kerzen samt Feuerzeug in eine Tasche und ihr kommt euch vor wie junge Mädchen, die eine Pyjama-Party mit anschließender Übernachtung planen und ihr kichert auch so viel.
Der letzte Stopp gilt ihrer Küche. Der Kühlschrank gibt keine summenden Geräusche von sich und beim Aufmachen geht kein Licht an. Irgendwie gespenstisch. Marina packt ein paar Sachen ein. "Für unseren Mitternachtsimbiss", bemerkt sie kichernd. "Wer weiß, wann der Strom wieder kommt. Wird ja alles schlecht."
Recht hat sie. Eine Sorge, die du nicht haben musst. Schließlich hast du es nicht mehr rechtzeitig vor Ladenschluss zum Einkaufen aus dem Haus geschafft.
Schließlich habt ihr alles und verlasst die Wohnung. Immer noch ist es gespenstisch still im Haus. Kein Fernsehgerät läuft. Niemand hört Musik. Nur draußen auf der Straße stehen hier und da ein paar Grüppchen beisammen und halten Krisen-Sitzung. Aber viele scheinen sich auch wieder in die Innenräume verzogen zu haben.
"Gibt es etwas Neues?", fragst du deinen Partner, der nach wie vor bei Peter, Kevin und seiner Freundin und ein paar anderen Nachbarn steht.
"Der Stromausfall betrifft weite Gebiete in Süddeutschland, Frankreich und der Schweiz", teilt er mit. "Aber etwas Genaues ist nicht bekannt. Die Nachrichten raten dazu, ruhig zu bleiben und es sich zuhause gemütlich zu machen. Eine Gefahr bestehe nicht. Trotzdem soll man auf Ältere, Kranke und Menschen, die eventuell auf Hilfe angewiesen sind, acht geben."
Du klopfst Marina auf die Schultern. "Tun wir ja!" Ihr lacht.
"Dann kommt", sagt dein Partner und verabschiedet sich von den anderen. "Gehen wir rein, bevor wir komplett eingeschneit sind."
Wenn man den stetig fallenden Schnee ansieht, erscheint das eine ganz kluge Entscheidung zu sein.
Im Wohnzimmer angekommen, schnappt ihr euch eure Decken und kuschelt euch ein. Marina packt ein paar Kerzen aus und verteilt sie auf dem Tisch und den Oberflächen der Schränke. Du nimmst die Gelegenheit zum Anlass, die ersten drei Kerzen deines Adventskranzes anzuzünden. Bisher hast du dich immer zurückgehalten, aus Sorge, die Kerzen könnten zu schnell abbrennen bevor der vierte Advent ist und sie nur selten entzündet.
Ein warmer Kerzenschein flackert über die Wände und taucht das Zimmer in ein schönes Dämmerlicht. Es ist nicht dunkel, aber auch nicht wirklich hell. Alles wirkt größer und fremd. Irgendwie riecht der Tannenbaum viel stärker.
"Und was machen wir jetzt?", fragt Marina.
"Erzählen wir uns eine Geschichte bei Taschenlampenschein?", fragst du.
"Wir sind keine zwölf Jahre als", kontert dein Partner. "Aber haben wir im Zeltlager früher nicht immer irgendwelche Spiele gespielt? Die fand ich eigentlich immer ganz lustig."
"Hast du jemals einen Fremden geküsst?", fragt Marina.
"Nicht dieses Spiel", stöhne ich. "Und ja, habe ich. Den da!"
Dein Partner zieht dich zu sich heran und drückt dir einen Kuss auf die Lippen. "Und wir tun es immer noch."
"Hast du dich jemals im Dunkeln gefürchtet?", fragst du.
"Nein", sagt dein Partner sofort.
"Naja", gibt Marina zu. "Nachts im Zeltlager auf Toilette gehen zu müssen, war schon gruselig. Weißt du noch, da musste man immer an diesem kleinen Wäldchen am Ende des Zeltplatzes vorbei, um zu den Sanitäranlagen zu kommen. Da hat es immer so geraschelt und da waren Schatten."
"Schatten sind sowieso gruselig", gibst du zu und schaust zu den Schatten der Kerzen, die über die Wände und Decken tanzen. Manche Ecken sind dunkel und geheimnisvoll, während andere von den kleinen Flämmchen gut ausgeleuchtet sind.
"Und gerade bin ich echt froh, dass ich nicht allein im Dunkeln in meiner Wohnung herumsitzen muss."
"Kein Wunder, dass die früher mit mehreren Generationen unter einem Dach gewohnt haben", ergänzt du und denkst an eine Geschichte aus der Kindheit deiner Oma. Da lebte die unverheiratete Tante, die Eltern, Großeltern und Kinder gemeinsam in einem Haus. Es war immer etwas los, abends saß man zusammen in der Stube, die Frauen stickten oder besserten Kleidung aus, die Männer rauchten Pfeife und erzählten von den Neuigkeiten aus dem Wirtshaus und die Kinder spielten oder beschäftigten sich mit den wenigen Habseligkeiten, die sie hatten. Manchmal wurde auch etwas vorgelesen. Bei Kerzenlicht. Gedruckte Bücher waren noch etwas ganz Besonderes.
"Ich glaube, früher war einfach weniger Langeweile", wirfst du in die Runde.
"Kann sein", sagte Marina. "Da gab es tagsüber einfach mehr zu tun, abends war man müde und froh, endlich sitzen zu können und keiner war es gewohnt, sich vom Fernseher berieseln zu lassen oder stumpfsinnig Nachrichten und Beiträge auf den sozialen Medien zu lesen, sich ein Clip nach dem anderen bei Netflix oder Youtube reinzuziehen."
"Aber was haben die Leute damals gemacht?", fragt dein Partner. "Sind die ins Bett gegangen, sobald die Sonne unterging?"
"Wahrscheinlich nicht", antwortet Marina und gähnt. "Ich glaube trotzdem, dass ich heute früh ins Bett gehe nach der ganzen Aufregung. Außerdem will ich euch nicht auf die Nerven gehen."
"Ach Quatsch", winkst du ab. "Tust du nicht!"
Trotzdem ist es inzwischen irgendwie spät geworden, auch wenn du es ohne die Digitalanzeige der Uhr nicht genau weißt, und auf noch mehr Gruselgeschichten, Anekdoten und Spiele im Dunkeln von früher, habt ihr auch keine Lust. Die vernünftige Variante wäre wohl wirklich schlafen zu gehen und auf den neuen Tag zu warten, der zumindest wieder Tageslicht, wenn auch nicht unbedingt wieder Strom bringen wird.
Dein Partner checkt noch ein letztes Mal die Nachrichtenseiten und Belletristica, während Marina euer Badezimmer benutzt.
"Nichts Neues", bemerkt er scrollend. "Ist nicht mehr viel los, die meisten müssen Akku sparen. Aber der Stromausfall betrifft unfassbar viele. Ich bin sehr gespannt, was uns da als Ursache genannt wird. Die Kommentarspalten auf Insta laufen heiß, aber wie üblich sind nur die Aluhutträger und Bildleser unterwegs."
Er liest dir ein Best of der Beiträge vor, aber wirklich glaubwürdig oder einleuchtend erscheint nichts davon: Verschwörungstheorien, wildeste Anschlagsszenarien, Hirngespinste, Unfallgerüchte, bis hin zu einem Komplott der Weltmachtinhaber, sogar einzelne, hoffentlich nicht erst gemeinte Aussagen über eine beginnende Alieninvasion sind darunter.
"Hör auf!", flehst du und hältst dir die Ohren zu, was er als Anlass betrachtet, dich an den Seiten zu packen und ordentlich durchzukitzeln.
Ihr hört erst auf, als sich die Tür zum Badezimmer öffnet und ihr schon halb horizontal auf dem Sofa liegt. "Hey, lass das!", stösst du unter Tränen hervor. "Wir haben schließlich einen Gast."
Marina lacht von der Diele aus. "Könnt ihr nicht mal zwei Minuten die Finger voneinander lassen? Ich sehe schon, Zeit für mich, schlafen zu gehen. Gute Nacht." Dann zwinkert sie dir zu und zieht die Tür zum Gästezimmer hinter sich ins Schloss.
Ihr löst euch voneinander, pustet die Kerzen im Wohnzimmer aus und verschwindet ebenfalls ins Badezimmer.
Sich bei Kerzenschein und im Handylicht bettfertig zu machen, hat schon etwas Besonderes, irgendwie erscheint alles so viel aufregender.
"Was für ein verrückter Abend", stellst du fest.
"So ganz anders als erwartet", antwortet dein Partner. Dann zieht er dich an sich. "Aber er ist ja noch nicht vorrüber. Der Höhepunkt kann ja noch kommen", flüstert er dir ins Ohr und sofort wird dir ganz warm ums Herz. Wer braucht da schon eine Heizung? Oder Strom?
Was man aus einer Situation macht, hat jeder selbst in der Hand - egal ob hell oder dunkel und manche Dinge, die bereiten auch in der Dunkelheit jede Menge Vergnügen.
Schlafen zum Beispiel oder träumen. Oder an was hast DU jetzt gedacht?