Eine unheimliche Begegnung
Es schien gleich zu regnen, als ich wieder in den Dom eintrat. Stille umgab mich dort, doch das Innere wirkte nun ein ganzes Stück düsterer als zuvor. Ich setzte mich wieder auf eine Bank und dachte nach. Ob ich beten sollte? Ich der Atheist? Alles falsch, was ich glaubte, was mir gewiss schien?
Stille!
Bleierne Stille!
Wieder begann es mir kühl zu werden und diesmal spürte ich die Kälte nicht nur körperlich. Ich stand auf, bewegte mich, ging umher. Der Haupteingang war fest verschlossen, dort gab es kein zurück. Ich suchte nach Kerzen, sie würden mir Licht und etwas Wärme spenden. Es gab doch in jeder Kirche brennende Kerzen?
Ich fand sie vor einer geschmückten Madonnenfigur und fragte mich, ob sie mir wohl helfen würde, als aus einem dunklen Winkel ein eigenartiges Geräusch drang. Ich erschrak, drehte mich zur Geräuschquelle und sah, wie sich etwas Großes zu bewegen begann. Eine unheimliche Gestalt kam auf mich zu, ich konnte sie nun immer besser erkennen. Ich roch nun ihren beissenden Gestank. Sie breitete ihre Arme drohend aus, ihre Augen schienen bedrohlich zu leuchten und sie zischte mich in einem grauenhaften, bösartigen Ton an. Ich schrie vor Entsetzen auf und begann laut um Hilfe zu schreien. Aus dem geifernden, riesigen Maul der Gestalt brach ein lautes kehliges Gurgeln hervor. Ich sah ihre schrecklichen Zähne und die Hörner auf ihrem Kopf, das Gesicht schien eine schmutzig blutrote Fratze zu sein. Mein Gott, oh mein Gott! Panische Angst stieg in mir auf, ein gewaltiges Schwindelgefühl drang in meinen Kopf und drohte mich zu verschlingen. Nun war es wohl endgültig um mich geschehen?
„So wird das nichts!“ durchbrach eine ärgerliche Stimme die Szene, „wir haben das doch alles zigmal besprochen, kapierst du denn gar nichts?“ „Entschuldigen sie“ sprach die Stimme nun mich an „ich geb´s jetzt auf mit ihm, so wird das alles nichts!“ Ich war sprachlos und sah, wie ein tadellos gekleideter Herr mit sorgsam gescheiteltem Haar auf mich zu kam. Das Biest, welches mich so erschreckt hatte war auf einmal still, ließ Schultern und Kopf hängen und blickte seinerseits ängstlich und frustriert auf diesen Mann. Er lächelte mich an: „Beruhigen sie sich! Das sind diese Methoden von anno dazumal, völlig überholt, ich versuche sie ihnen auszutreiben! Ich sage ihnen, es ist ein hartes Brot, ich bin immer wieder am verzweifeln!“
„Äh, äh, ….“ ich versuchte durchzuschnaufen und brachte kaum ein Wort hervor „und sie sind?“ Er lächelte freundlich und sagte; „Kommen sie in mein Büro, ich werde es ihnen erklären, darf ich sie auf einen Kaffee einladen?“ Allmählich beruhigte ich mich tatsächlich etwas. Sollte das etwa der Teufel sein? Ich musste unwillkürlich in mich hinein lachen.
Ich folgte ihm also in die Krypta und dort weiter durch eine versteckte Tür in einen tieferen Gang und dann in einen noch tieferen. Die ganze Zeit schimpfte er vor sich hin und dass die Ausbildung, so wie sie läuft nicht funktioniert und die Jungen heute immer mit dem Kopf durch die Wand wollten und dass sie ihm nie zuhörten. Das Biest trottete hinter uns her und wirkte sichtlich bedröppelt. Er öffnete eine Tür, durch die das Biest in eine Art Klassenraum ging und in dem andere, ganz ähnliche Biester saßen und miteinander diskutierten oder feixten. „Warte hier auf mich, in einer halben Stunde machen wir eine Besprechung!“ sagte er zu ihm. Er führte mich weiter noch einige Ebenen tiefer. Angenehm warm war hier, fast überheizt. Er öffnete eine weitere Tür und sagte: „Mein Büro, bitte!“ Wir traten in einen sehr hellen, fast weißen Raum mit Tageslicht und großen Fenstern. Es setzte sich auf eine Couch, bot mir einen Platz an und blickte durch ein Fenster in die liebliche Landschaft. Sein Blick fiel auf eine Gruppe junger Frauen, die auf einem Feld in größerer Entfernung Stroh auf einen Wagen hievten. „Entschuldigen sie nochmals die Belästigung, das ist so gar nicht meine Art! Normalerweise führe ich keine Klienten hierher aber im Moment habe ich das Bedürfnis, mit jemandem Vernünftigem zu reden. Sie auch?“ fragte er mich und goss sich einen großen Schnaps ein. „Der Kaffee kommt gleich!“ Ich sah ihn wohl ratlos und fragend an und sagte nur „Klienten? Was sind den ihre Klienten?“ Er schnaufte tief durch und sagte: „Ich denke, sie wissen, wo sie sich hier befinden?! Wissen sie, meine Arbeit um die Anwerbung neuer Klienten ist nicht einfach, ich kann das schon seit langem nicht mehr alles selber leisten, also leite ich hier inzwischen die Ausbildung.“
„Klienten?! Wieso Klienten? Welche Ausbildung denn?“ fragte ich verwundert. Er stöhnte, schnaufte durch und sagte: „Ach ja, sie können vieles ja nicht wissen. Ich mach´ das inzwischen seit über 6000 Jahren…“ „Was?“ unterbrach ich ihn, „Sie meinen Seelen für die Hölle suchen?“ „Ja, wenn sie so meinen, sie wären da ja auch ein guter Kandidat!“ Ich zuckte innerlich zusammen. „Das ist heute alles nicht mehr so, wie es sein sollte, wissen sie, seit sie die neuen Lehrpläne eingeführt haben ist das …“ „Lehrpläne?“ fragte ich ungläubig nach „Ja, natürlich. Die Jungen müssen ja systematisch an ihre Aufgabe herangeführt werden. Wissen sie, früher lief das ja noch über ausgeklügelte Anwerbeverfahren, das war eine anspruchsvolle Aufgabe, da spielten Psychologie und Menschenkenntnis eine ganz wichtige Rolle. Das konnte nicht jeder, das war eine hohe Kunst! Die Jungen heute kommen hier herein, den Kopf voller Flausen, schauen sich lauter amerikanische Horrorfilme an und meinen so liefe das dann. Sie meinen, sie wären mächtige Dämonen und gewinnen ihr Selbstvertrauen daraus, dass die Menschen von ihnen erzittern. Sie meinen, dass heftiges Auftreten als wilde Dämonen cool wäre und die Leute ihnen schon gehorchten - aber sie verschrecken damit ja nur die Leute! Und sie meinen immer, das wäre ´old school´, das wäre früher so gewesen, aber sie haben nicht mal einen Hauch von klassischer Bildung! Meinen sie, etwa einer von ihnen hätte etwa Freud gelesen?“ "Aber es gibt doch diese Horrorbilder aus dem Mittelalter, Pieter Brueghel und so?!" "Bruegel schreibt man ohne h und außerdem war der Neuzeit - nicht Mittelalter! Ja, da gab`s viel in diese Richtung. Aber was soll das mit uns hier zu tun haben, das sind doch bloß irgenwelche menschlichen Fantasien, wahrscheinlich hatten sie damals zu viel Mutterkorn erwischt."
„Und warum machen sie dann nichts dagegen?“ fragte ich nach. „Das hängt mit der Kompetenzorientierung zusammen – die sie uns aufgedrückt haben. Die neuen Vorgaben von oben lauten, dass die Jungen alles selbst ausprobieren sollen und überall selber drauf kommen sollen wie das mit den Klientengesprächen läuft und so – und wir sollen nur als `Lerncoach` für sie fungieren, Materialien bereitstellen und sie ja nicht anleiten. Wissen sie, nach denen oben gilt Frontalunterricht inzwischen als pädagogische Todsünde, da würde den Jungen alles übergestülpt, das wäre nur unnützes Wissen, da würden die Ideen der Jungen nicht ernst genommen, sie könnten nicht ihre eigenen Fähigkeiten entfalten. Wissen könne sich heute jeder von Wikipedia runterladen und die Halbwertszeit von Wissen wäre so kurz,... ich kann´s nicht mehr hören! Und ich hätte ihnen doch so viel mitzugeben, ich habe so viel erlebt, soviele Klienten geworben - und keiner will es mehr hören. Völliger Schwachsinn dieses ganze System – und dann kommt eben so was raus wie heute, die Jungen wollen sich ja nichts mehr sagen lassen von den Alten. Dabei habe ich über 6000 Jahre Berufserfahrung, wissen sie, ich kenne mich aus, ich habe damals noch als Erzengel angefangen!“
Er kippte sich noch einen Schnaps nach und diesmal nahm ich auch einen. Ich fasste mir jetzt ein Herz und fragte nach: „Ja, aber was ist denn ihre Aufgabe? Leute, äh, `Klienten` ins Unglück zu führen und ewig zu quälen?“ „Wer sagt den so was“ fragte er entgeistert nach. „Naja, steht das so nicht in der Bibel? Wird das nicht so gepredigt?“ „Da geht ihnen aber die Fantasie durch … wir leisten hier eine wichtige, mühsame und ernsthafte Arbeit!“ „Wieso Arbeit? Wieso machen sie das denn überhaupt mit den `Seelen`?“ „Was soll denn das jetzt heißen, das ist von oberster Stelle so gewollt, das hat schon alles seine Ordnung so, wir leisten hier wertvolle pädagogische Arbeit! Ich glaube, sie können das weder verstehen noch bewerten!“ Er sah mich mit fassungsloser Empörung an.
„Entschuldigen sie bitte,“ sagte ich versöhnlich „ich kann ihre Arbeit natürlich nicht wirklich beurteilen, ich wollte ihnen nicht zu Nahe treten.“ Seine Züge entspannten sich und wir traten in ein anregendes Gespräch über Gott und die Welt ein. Schließlich fuhr er erschreckt auf: „Mein Gott, ich hab´ vollkommen die Zeit vergessen, ich muss ja zu meinen Schülern. Vielleicht können wir das Gespräch mal wann anders fortführen, ich werde sie mal zu Hause besuchen!“ „Warten sie noch!“ rief ich ihm hinterher: „Wie komme ich denn wieder nach Hause?“ „Gehen sie in mein Sekretariat, sagen sie, sie kommen von mir und sie sollen ihnen helfen. Ich muss nun, ich muss los, ich muss…, wo hab ich nur wieder meinen Kopf?“
Ich klopfte an der Tür des Sekretariats und trat ein. Drinnen waren zwei sichtlich schlecht gelaunte Herren in alten abgetragenen braunen Cord- Anzügen. Sie hatten kleine Hörner auf ihren Glatzen und saßen dort in einem trostlos grauen Büro vor riesigen Aktenschränken mit endlosen Reihen von Ordnern. Ich erklärte ihnen mein Anliegen und einer der beiden sagte zum andern lapidar: „Schick ihn doch zum Chef!“ und grinste in sich hinein. Der andere stand auf, bemühte sich umständlich zu mir, erklärte noch umständlicher wo ich hin müsse und überreichte mir einen Prospekt und einen selbstgezeichneten Plan. „Schaun´se sich mal unsern Prospekt an, falls´se mal wieder hierher kommen müssen!" Er musste glucksen. "Und dit is´ der Plan, wo se jetz´ hin müssen. Ick jeh ihn noch mal kurz durch mit ihnen, aber passen se uff, ick erklärs nur eenmal!“ sprach er in einem herablassendem, demonstrativ genervten Ton. Verunsichert verließ ich das Sekretariat, bemerkte noch wie sie sich gegenseitig angrinsten und dann in Lachen ausbrachen. Ich war nun wirklich sehr unsicher was ich tun solle. Andererseits: Was konnte jetzt noch Schlimmeres passieren und irgendwie musste ich ja wieder hier herauskommen.