Annas Blick schnellte herum. Diese Stimme. Den ganzen Tag hatte sie sie verfolgt und jetzt stand er da. Das konnte wohl nur eine Fata Morgana sein. Niemals im Leben im stand er gerade da. Das war eine Einbildung. Ganz sicher.
„Hallo meine Schöne Bella.“ Jetzt hatte er sich hinter Anna platziert und sprach ganz nah an ihrem Ohr, so dass nur sie diese Worte gehört hatte. Seine Stimme verursachte ein Kribbeln auf Annas Haut. Überall war es. Sie hatte das Gefühl, für einen Moment würde ihr Herzschlag aussetzen.
Hatte sie heute Nachmittag noch gedacht, dass es um keinen Kerl in ihrem Leben schade war? Hatte sie nicht gedacht, alles sei so gut wie es gelaufen sei? Kein Rückblick mit Bedauern. Schlagartig wurde ihr klar: Doch sie bedauerte etwas. Ihn gehen zu lassen war ein Fehler.
„Marc.“ Mehr brachte sie nicht heraus. Sissy und Paul staunten nur. So sprachlos hatten sie Anna noch nie gesehen. Und Tom lächelte. Seine Überraschung war offensichtlich geglückt.
Anna wusste nicht mehr, wie lange sie ihn angestarrt hatte. Ihn hier zu sehen. Damit hatte sie gar nicht gerechnet. Und auch nicht damit, dass ihr Herz bei seinem Anblick deutlich heftiger schlägt als üblich.
„Entschuldigt uns, ich muss Annabelle mal kurz entführen. Wir sind bald wieder da.“
Marc zog die immer noch sprachlose Anna mit sich in Richtung Aufzug. Sissy wäre ihr am liebsten gefolgt, aber Tom hielt sie zurück.
„Ey, keine Panik. Er bringt sie gleich wieder. Er hat hier im Haus ein Appartement. Seit ich ihn angerufen habe, ist er völlig neben der Spur und das was er gerade am liebsten tun will, ist hier in der Öffentlichkeit ein Tabu. Küssen verboten! Also, sie sind bestimmt gleich wieder da.“
„Was soll das, wo bringst Du mich hin.“ Anna war etwas perplex. Erst brachte sie gar nichts raus und jetzt war sie irgendwie sauer auf Marc. Was sollte die Aktion?
„Seit ich weiß, dass Du hier bist, will ich Dich küssen, aber das ist hier in der Öffentlichkeit verboten. Also, zeig ich Dir jetzt meine Wohnung.“
„Du warst schon immer ein Spinner. Hätte sicher auch eine Kammer irgendwo gegeben.“
„Besenkammer ist nicht gut genug für Dich. Du siehst fantastisch aus. Noch schöner als damals. Amerika hat Dir offensichtlich gut getan.“
„Danke. Aber Du hast Dich irgendwie gar nicht verändert. Die Haare sind kürzer. Schade.“ Sie strich ihm kurz durch seine dunklen Haare. Wie in ihren Erinnerungen waren sie fest und sie hatte es geliebt sich darin zu vergraben.
Es machte Ping und der Aufzug hielt an. Sekunden später öffnete Marc die Türe zu seiner Wohnung. Ein wunderschönes Appartement mit Blick auf die Stadt.
Ana sah sich staunend um. Soviel Luxus passte gar nicht zu Marc. Er war ein Junge aus den Bergen. Er liebte die Natur. Holz fasste er so zärtlich an. Doch hier war alles aus Chrom, Stahl und auf Hochglanz poliert.
„Wow, nicht schlecht. Wenn ich da an unsere Buden im Allgäu denke.“
„Ich denke gerne an die Zeit zurück. Besonders an das letzte Jahr. Ich hatte da so eine ganz süße Nachbarin.“ Jetzt wenn er sie anlachte, dann war da dieses süße Grübchen auf seiner Wange.
Marc nahm sie endlich in die Arme.
„Ich freue mich so Dich zu sehen.“ Hauchte er ihr ins Ohr, was ihr einen kleinen Schauer über den Rücken jagte.
„Und ich freue mich, Dich zu sehen.“ Gab Anna als Antwort und kaum hatte sie zu Ende gesprochen spürte sie seine Lippen auf ihren. Erst zaghaft aber ziemlich schnell mit einer spürbaren Leidenschaft küssten sie sich. Es war alles wieder da. Die Gefühle von damals, die Vertrautheit. Anna nahm seinen Geruch wahr, spürte seine Hände auf ihrem Körper und am liebsten wäre sie hier und jetzt in seinen Armen geblieben. Aber oben im Club warteten ihre Freunde. Noch eine kleine Weile genoss Anna die Küsse von Marc aber dann drückte sie ihn leicht von sich.
„Liebend gerne würde ich hier jetzt weiter machen, aber wir müssen zurück zu meinen Freunden. Bitte, nicht böse sein.“ Sie strich mit ihrem Daumen über seine Unterlippe und biss sich selbst auf diese.
Marc wusste es selbst. Sie hatte Recht. Aber er musste das hier tun. So oft hatte er sich vorgestellt, wie es wohl sein möge, sie wieder zu sehen. Sie noch einmal küssen zu können.
„Ok, Du hast Recht. Lass uns wieder nach oben gehen.“ Gab er nach.
Drei Minuten später waren sie zurück im Club. Anna musste Marc nicht großartig vorstellen. Man hatte sich bereits einmal auf Annas Geburtstagsparty gesehen und Sissy wusste wahrscheinlich alles über Marc. Und im Gegensatz zu Anna, die immer sehr abgeklärt mit der Trennung umgegangen war, hatte Sissy schon immer die Vermutung, dass Marc für Anna mehr war, als ein Lebensabschnittsgefährte für die Dauer eines Jahres. Da war mehr, aber Anna hatte es immer abgestritten. Doch ihre Reaktion von vorhin hatte Sissy in ihrer Meinung bestärkt. Entsprechend breit grinste sie.
Als Anna ein paar Stunden später in ihrem Bett lag, ließ sie den Abend noch mal Revue passieren. Es war wirklich schön mit ihren Freunden. Sie konnte sich nicht erinnern in den letzten beiden Jahren mit ihren Kommilitonen in Cornell jemals einen so entspannten Abend verlebt zu haben. All die vielen alten Geschichten. Anna musste sich so einiges anhören. Paul und Sissy gaben Geschichten aus der Internatszeit zum Besten und Marc und Tom erzählten Anekdoten aus der Ausbildungszeit. Nicht immer kam Anna dabei gut weg. Aber meistens.
Den ganzen Abend hatte sie Marcs Blicke gespürt. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann würde sie gerade jetzt viel lieber in seinem Bett liegen als hier im Hotel. Aber was würde es bringen? Nichts, gar nichts. Es war alles gut so wie es war. Er lebte sein Leben und sie ihres. Und beides passte nicht zueinander. Ein Abend wie heute war schön. Ihn zu küssen war wunderschön, aber mehr war nicht drin. Sich mehr zu erträumen wäre nicht fair ihm gegenüber. Sie würde in den nächsten Jahren nicht die Frau sein können, die er sich wünscht und die er braucht. Ständig unterwegs. Alle paar Wochen mal zu Hause. Das war keine gute Grundlage für eine Partnerschaft. Am Ende würden sie im Streit auseinander gehen und das wollte Anna auf jeden Fall vermeiden. Sie wollte all die schönen Erinnerungen auf jeden Fall behalten und sie nicht kaputt machen, durch Streit der aus ihrer Sicht unvermeidbar war.
„Warum bist Du hier und nicht bei ihm?“ Sissys Stimme riss Anna aus ihren Gedanken.
„Warum sollte ich?“
„Weil er in Deinem Kopf rumschwirrt. Weil Du ihn nie ganz vergessen hast. Weil Du mit ihm den besten Sex ever hattest. Weil….“
„Ist ja schon gut. Aber ich bin nicht hier für eine heiße Nacht mit Marc, sondern weil ich mit meinen besten Freunden eine schöne Woche verbringen möchte.“
„Na klar, aber warum lässt Du Dir diese Gelegenheit entgehen. Wegen mir, musst Du nicht hier schlafen. Ich komme gut ohne Dich klar.“
„Sissy, bitte, Du weißt warum wir damals auseinander gegangen sind. An den Gründen hat sich nichts geändert.“
„Deswegen kann man trotzdem eine Nacht miteinander verbringen. Erinnerungen auffrischen.“ Sie grinste ihre Freundin an.
Als Anna gerade etwas entgegen wollte, vibrierte ihr Handy und signalisierte ihr den Eingang einer Nachricht.
<Reichlich spät> dachte Anna und musste lächeln, als sie das Foto sah. Marc hatte es von ihr gemacht, als sie ihren letzten Tag in der Küche hatte. Sie war froh, das Fotos keine Gerüche weiter geben konnten, den der Gestank von damals… Sie konnte ihn noch immer riechen. Einer blödsinnigen Tradition folgend hatte man sie an ihrem letzten Tag in der Küche mit einem Eimer stinkender Brühe übergossen. Ein Gemisch aus Fisch und Essensabfällen bildeten die Grundlage des leicht warmen Suds. Puh war sie damals sauer auf Marc. Er hatte sie festgehalten und Sasha hatte den Eimer über ihrem Kopf entleert. Ein großes Gelächter der gesamten Küchencrew war die Folge. Ihr Fluchen und Schreien, war weithin zu hören. Aber sie wusste auch, es war eine Art von Anerkennung. Die musste man sich erst verdienen und die hatte sie. Jeder in der Küchencrew schätzte sie und ihre coole, bedachte Art. Auch im größten Stress behielt sie abends den Überblick. Legte sich bei Bedarf auch mal mit Oberkellnern an und sorgte auf ihrem Posten immer für einen reibungslosen Service. Sie war gerade mal 4 Monate im Haus und hatte sich überall Respekt erarbeitet. Was Anna damals wurmte war allerdings die Tatsache, dass Marc sie so sah. Völlig derangiert und gar nicht mehr ansehnlich und darauf hatte sie all die Zeit in der Küche so viel Wert gelegt. Ihm wollte sie gefallen. Aber bestimmt nicht so wie sie jetzt da stand.
(MM)
<Ich erinnere mich gerade an das, was danach passierte. Love>
(ich)
<Hast Du schon geduscht?>
(MM)
<Ja, leider ganz alleine.>
Annas Gedanken gingen wieder zurück zu diesem Abend. Marc und sie waren damals zwar schon befreundet. Aber wirklich passiert war nichts zwischen ihnen. Sie waren noch in der Kennenlernphase. Ganz süß hatte er heimlich am Abend vorher ein paar Shorts und ein T-Shirt von Anna eingepackt und an diesem Abend mitgenommen. Nachdem er dieses Foto geschossen hatte, nahm er Anna bei der Hand und führte sie in eines der Personalhäuser zu den Gemeinschaftsduschen. Annas Gefühle machten Purzelbäume bei dem Gedanken an das was damals war. Wie er sie samt ihrer dreckig, stinkenden Kochklamotten unter die warme Dusche gestellt hatte, sie langsam entkleidete und sie dann eine ganze Weile nur in ihrer Unterwäsche das Wasser über sich laufen ließ. Sie spürte wieder seine Blicke. Spürte seine Hände überall auf ihrem Körper und seine wundervollen Lippen. Nie vorher und nie nachher hat Anna sich so begehrt gefühlt. In der folgenden Nacht hatten sie das erste Mal miteinander geschlafen.
(ich)
<Vielleicht kann ich Dir in den nächsten Tagen ja mal Gesellschaft leisten.>
(MM)
<Darauf hatte ich gehofft>
(ich)
<Schlaf gut und träum süß.>
(MM)
<Du auch meine Bella.>
Sissy hatte Annas Gesicht beobachtet. Ein paar Mal hatte sie versucht Kontakt zu Anna aufzunehmen, aber die schien irgendwie in ihrer eigenen kleinen Welt zu stecken.
„Willst Du mir sagen, was ihr beiden so textet?“
Anna wusste, Sissy konnte sie nichts vormachen. Sie war schließlich ihre beste Freundin. Also reichte sie ihr ihr Handy ohne große Worte.
„Boh, wie siehst Du denn auf dem Foto aus? Was ist da mit Dir passiert?“
Und weil es eigentlich eine ganz schöne Geschichte ist, erzählte Anna sie ihr. Sie war überrascht, dass sie es ihr nicht früher schon mal erzählt hatte. Aber wahrscheinlich war das ein Detail, über das sie lieber geschwiegen hatte, als sie Sissy von Marc erzählt hat.
„Na dann hoffen wir mal, dass Du dazu auch Zeit findest. Nicht das Sara uns mit Terminen zuschüttet.“
„Ich hab mit ihr abgemacht, dass wir Urlaub machen wollen und keinen Sightseeing Trip. Also Chillen steht im Vordergrund. Sie hat versprochen sich daran zu halten. Und – unser Glück – sie ist schwanger und ihr Mann sieht es gar nicht gern, wenn sie sich aus dem Haus bewegt und zu viele Sachen macht.“
„Na dann.“ In diesem Moment ging Sissys Handy und ihrem Lächeln nach zu urteilen, war Max am anderen Ende.
Zeit schlafen zu gehen. Aber nicht ohne den Wecker zu stellen. Schließlich wollte Sara bereits um 8 Uhr im Hotel sein mit der Schneiderin.
Annas Träume in dieser Nacht kreisten um Marc und die schöne Zeit, die sie gemeinsam hatten.