Es dauerte eine kleine Weile, bis der Ritter und sein junger Prinz begriffen, was gerade geschehen war. Der Schmerz in Lears Gliedern legte sich allmählich und Marisandros, dessen menschliche Augen zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Tageslicht ausgesetzt waren, begannen, sich zu fokussieren. Ihre Erlösung kam ihnen noch ebenso unwirklich vor wie zerbrechlich. Was, wenn sie der Fluch erneut verwandeln würde? Was, wenn irgendetwas, was sie taten, ihn abermals auf sie legen würde? So wagten beide nicht unnötig zu sprechen, doch ihre Blicke sagten mehr als tausend Worte.
Lear rührte sich schließlich zuerst, als ihm bewusstwurde, dass Marisandros der Sonne ausgeliefert, vollkommen bloß an seiner Brust lag. So begann der Ritter, seinen Umhang auszubreiten, um ihn dem Jüngling umzulegen. Doch Marisandros hielt ihn auf, indem er seine Hände umfasste und ihn mit einem Ausdruck ansah, den Lear nur einmal zuvor bei seinem Liebsten gesehen hatte. Damals, vor schier unendlich langer Zeit im Wald, als sie sich zum ersten Mal innig küssten und vor ihrer plötzlich aufwallenden Begierde zurückschreckten. Aus Ritterlichkeit und Tugend. Doch nun war alles anders. Ihre Unehre, wenn es sie denn je gegeben hatte, war wie ein verblassender trüber Nebelstreif, durch den nun die helle Sonne hervorstrahlte.
Im Nu hatte sich Marisandros aufgesetzt, sodass er nun rittlings auf dem Schoß des Ritters saß, der noch immer zögerte.
„Es ist vorbei“, flüsterte der Jüngling, sein Atem warm und lebendig an Lears Ohr. Dann küsste er zuerst jede der Hände Lears, ließ sie los und küsste ihn zärtlich auf den Mund. So erwachte endlich auch die Leidenschaft des Ritters. Sein Liebster schien ihm schöner noch als je zuvor, nun, da sein jugendlicher, menschlicher Leib sich gegen das Blau des Himmels abzeichnete. Die schlanke, wohlgeformte Gestalt, biegsam und muskulös zugleich. Sein Gesicht war dicht über ihm und einzelne Strähnen rotblonden Haars kitzelten an Lears Wangen. Und Marisandros‘ Küssen wurde zu einem Betteln nach mehr. Seine Lippen, die zuvor nur sanft mit denen des Ritters gespielt hatten, pressten sich nun fordernder auf Lears Mund. Bisher zögerliches Austesten mit der Zunge wurde zu einer Forderung nach Einlass, den der Ritter endlich zuließ. Hitze stieg in ihm auf und ein erstes leises Stöhnen entfuhr ihm, als sich ihre Zungen regelrecht umtanzten. Wie hatten sie es nur aushalten können, ohne sich so nah zu sein, wie sie es brauchten?
Lear warf den Gedanken hinfort. Lediglich eines zählte jetzt nach so vielen Jahren: ihre körperliche Vereinigung, verschmelzende Hingabe, seine Haut an Marisandros‘ Haut, ihre Leiber verschlungen miteinander und mehr noch, alles, alles …
Als Nächstes bemerkte der Ritter, dass sein Liebster begann, an seinen Kleidern zu zerren. Der Umhang wurde hastig gelöst und zu Boden geworfen, mit flinken Fingern nestelte Marisandros an den Schnallen von Lears ledernem Wams. Dies und alles andere musste fort und es kümmerte vor allem den Jüngeren nicht, ob dabei eine Schnur riss oder ein Stiefel einfach im Sand landete. Gieriger noch als seine Hände, waren die Küsse, die sie immer wieder mit zunehmendem Begehren tauschten und endlich war auch der Ritter völlig nackt den Liebkosungen des anderen preisgegeben. Es kam ihm so vor, als wären all seine Sinne und sein Empfinden geschärfter als je zuvor in seinem Leben. Er hatte die Freuden des Fleisches schon erlebt, denn damals bei Hofe waren ihm die Frauen sehr zugetan und ebenso willig war er gewesen. Da wusste er noch nicht, was wahre Liebe und von welcher Natur sie für ihn ist. Das wurde ihm nun erst deutlich, hier mit Marisandros, der seinen ganzen Leib mit Händen und Lippen zu erkunden begann, ihn aufforderte, es ihm gleich zu tun.
„Fass mich an, Liebster, mach‘ schon“, forderte er.
Lear folgte dem spielerischen Befehl. Alles fühlte sich so gut und richtig an. Wie oft hatte er das samtene Gefieder des Vogels gestreichelt? Noch samtener war die Haut des Jünglings. Er bot sich den Liebkosungen des Ritters vollkommen losgelöst dar, führte ihn sogar, ließ es zu, ihn da zu berühren, wo er am empfindlichsten war. Schon das leiseste Streichen zwischen seinen Schenkeln ließ ihn beben und sich näher an den reiferen Mann drängen.
„Gib mir mehr“, flehte Marisandros.
Lear gab mehr. Entschlossen zog er seinen Liebsten zu sich herunter, um sich und ihn im nächsten Moment herumzudrehen, sodass er jetzt über ihm lag. Mit einem Arm aufgestützt, nutzte Lear die freie Hand, um Marisandros über die Lenden zu fahren, was ihn wohlig stöhnen ließ. Schließlich lagen sie so, dass sich ihre Erektionen gegeneinander drängten und Lear umfasste sie beide, vergewisserte sich mit einem Blick, dass es so gut war, und begann auf ein Nicken des Jünglings hin, sie in sanftem Griff zu massieren. Marisandros begann sich zu winden und lustvoll zu wimmern, während Lear seinerseits nicht wusste, was seine Erregung mehr steigerte: die Bewegungen seiner Hand oder der geschmeidige nackte Leib unter ihm, der sich ihm immer heftiger entgegenbäumte. Irgendwie bekam Marisandros die dunklen Locken des Ritters zu fassen und führte ihre gierigen Münder wieder zusammen. Vollkommen weltvergessen überließen sie sich so ihrer entfesselten Lust, drängten und schoben sich aneinander, küssten sich in wilder Leidenschaft, während Lears Hand unablässig und unbarmherzig ihr Liebesspiel vorantrieb. Es konnte nicht mehr lange mit all dem Ungestüm andauern: Schon spürte Lear, wie heiße Schauer in immer kürzeren Abständen über seinen Körper jagten, seine Muskeln spannten sich, sein Gemächt pulsierte und ein Prickeln und Zerren durchfuhr ihn. Marisandros schien es genauso zu gehen, denn ein feiner Schweißfilm, eine heftige Röte und sein beschleunigter Atem verrieten seinen Zustand. Er hatte die Augen genießerisch geschlossen, gab sich allem hin, küsste, zog an Lears Haaren, bis er sich mit einem Mal durchbog. Ein erlösendes Stöhnen entfuhr ihm, seine Erektion in Lears Hand zuckte heftig, dann ergoss sie sich zwischen ihren Leibern. Der Ritter nahm dies zwischen Keuchen und Erschauern wahr, zog den Burschen an sich und ließ endlich auch seinem Höhepunkt freien Lauf. Er hielt den Atem an, suchte die Augen seines Liebsten, die ihn völlig ohne Fokus anstarrten, dann lachte er auf und sank über ihm zusammen.
Jetzt war es der Prinz, der sich als Erster rührte und dem Mann über sich die dunklen Locken aus dem Gesicht strich. Noch fand er keine Worte für das, was sie eben gemeinsam erlebt hatten, doch ein Gefühl der Verbundenheit einerseits und unglaublicher Leichtigkeit andererseits konnte er deutlich spüren. Beinahe war es so, als sei er wie sein anderes Ich, die Sperbereule, in hohem Flug gewesen, um dann sicher auf der Schulter seines Geliebten zu landen, nur noch viel schöner. Wie er es als Vogel getan hatte, bettete er seinen Kopf in Lears Halsbeuge und sog den Duft seines Haars und seiner Haut ein.
Der Ritter erinnerte sich an diese liebevolle Geste und raunte irgendeine unverständliche süße Nichtigkeit mit tiefer Stimme, die fast wie die des Wolfes klang. Und ebenso kräftig und wendig wie so ein Tier, drehte er sich und seinen Liebsten nun wieder herum, was es Marisandros möglich machte, sich aufzusetzen und sein rotblondes Haar zu schütteln. Er streckte sich gegen die Sonne, dann sah er hinunter zu dem Ritter.
„Alles, was ich gelitten habe“, begann er mit einer Ernsthaftigkeit, die den Ritter an einen zeremoniellen Eid erinnerte. „Alles und noch mehr“, fuhr Marisandros fort, „würde ich wieder auf mich nehmen, für nur einen solchen Moment der Liebe mit dir.“
Lear nickte und strahlte dann über das ganze Gesicht.
„Das gilt ebenso für mich“, bekräftigte er sogleich.
Marisandros lächelte zurück, dann reckte er sich quer über Lears starken Leib und in den Sand, um den Umhang des Ritters zu packen und herzuziehen, damit er ihn wie einen Flügel über sie beide ausbreiten konnte.
Irgendwann würden sie sich auf die Suche nach Bessindra machen. Sie konnte nicht weit sein. Und sie würden sich daran gewöhnen, menschlich – und nur menschlich – zu sein. Und gemeinsam würden sie die Welt erkunden. Frei und ohne Angst.