Das Engelszimmer
Der Engel kam. Es war ein Mädchen, das Mutter im Bauch getragen hatte und das bei uns einzog. „Ein von Gott verdammtes Mädchen“, hast Du es genannt. Das war Deine erste Reaktion. Mutter war entsetzt gewesen. Ich erinnere mich noch ganz genau an ihren Blick. Du warst besoffen und hieltest die Flasche noch in der Hand, als sie nach der Entbindung von Onkel Andrew nach Hause gebracht wurde. Du konntest nicht mehr fahren. Du konntest nur noch „feiern“, wie Du so schön sagtest. Ein neues Wort für saufen. Dabei hattest Du Dir geschworen, es niemals Deinem Vater nachzutun. Und doch hast Du es getan. Es passierte ganz plötzlich. Es war nicht vorhersehbar gewesen, weil wir Deinen Vater nie kennengelernt haben. Du hast ihn mit allen Mitteln von uns ferngehalten, weil Du Dich so sehr für ihn geschämt hast. „Er ist ein Dreckskerl!“, hast Du immer wieder gesagt. „Den braucht ihr nicht kennenlernen.“ „Und Deine Mutter?“, hatte Mutter gefragt. „Tot“, hast Du ihr geantwortet. „Der Dreckskerl hat sie in den Tod getrieben!“
Mutter hatte nie die Chance zu beurteilen, was wirklich in Deiner Familie vorgefallen war. Du hast nie davon erzählt. Doch je älter ich wurde, desto mehr sah ich diese Geschichte vor mir. Sie wiederholte sich gerade in meinem Leben.
Natürlich half ich Dir, das restliche Holz in das Zimmer zu bringen. Ich half in der Hoffnung, Deine Stimmung damit etwas aufzuheitern, zumindest bis Mutter heimkehrte. Sie würde wegen der Dreckspuren schon genug Ärger machen. Wir trugen ziemlich viel Holz in das Zimmer und ich fragte: „Was willst du damit?“ Du brummtest mich an, was so viel bedeutete wie, dass ich Dich in Ruhe lassen sollte. Ich kannte Deine andere Sprache mittlerweile, die aus Lauten und Blicken bestand, und fragte nicht weiter nach. Erstaunlicherweise hast Du mich nach der Arbeit in Ruhe gelassen. Das war nicht immer der Fall gewesen. Doch davon will ich jetzt nicht auch noch berichten.
Ich hörte in der Küche Glas scheppern und wusste, dass wieder eine Flasche leer war und Du die nächste aufmachen würdest. Mutter würde am Abend zwei neue mitbringen und im Geschäft erzählen, dass wir Besuch bekommen hätten. Wir waren ja gastfreundlich! Ich hörte einmal, wie sie das sagte, und erfuhr viele Jahre später von einem Therapeuten, dass man so etwas co-abhängig nennt. Dabei bekamen wir nicht einmal Besuch!
Du hast das Radio eingeschaltet und ich las oben einen Comic. Ich las von Helden, die mit Gewalt Bösewichter jagten und wünschte, ich könnte das auch. Ich hörte Mutter heimkommen. Wie sollte man ihr Geknatter auch überhören? Ich zählte bis zehn, solange wie sie in der Regel brauchte, um zur Haustür hereinzukommen. Spätestens bei fünfzehn müsste das Geschrei losgehen.
Findest Du nicht, dass Du übertreibst, wenn Du von solchen Lappalien schreibst? Wie viele Momente willst Du mir denn vorwerfen, um Dich besser zu fühlen? Genau, es geht Dir doch nur darum, dass Du Dich besser fühlst. Du bist ziemlich egoistisch. Weißt Du, was ein Egoist ist? Ich will es Dir sagen: Das ist ein Mensch, der immer nur an sich denkt, und der alles so dreht und wendet, dass er nie an etwas schuld ist. Na, erkennst Du Dich wieder?
Mir schnürt es gerade die Luft zum Atmen ab! Und ich frage mich, ob es überhaupt noch Sinn macht, Dir weiterhin zu schreiben. Die Zeit erscheint mir so vergeudet! Du hast Dich in all den Jahren, die Du nun schon in der Anstalt lebst, überhaupt nicht verändert. Deine Sicht auf die Dinge ist noch die gleiche, wie damals vor Gericht, als sie Dich und mich verurteilt haben. Oh, wie sehr hasse ich mich dafür, Dein Sohn zu sein. Es ist keine Scham, es ist Hass. Eigentlich solltest Du im Gefängnis sitzen und ich in einer Anstalt. Ich hätte es nicht tun dürfen!
Endlich kommst Du zur Einsicht, dass auch Du Fehler gemacht hast. Das tut gut zu hören. Und es macht mir den Abschied von dieser Welt etwas leichter. Gestern war mein Arzt hier und er sagte, dass die Leberzirrhose voranschreitet. Morgen kommt ein Spezialist, der mit mir alles Weitere be-spricht, wenn es losgeht. Ich meine, wenn es ernst wird. Mein Körper trägt Wasser. Auch das Herz. Rylan, mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Ist es wirklich nötig, noch all diese Geschichten aufzuwärmen? Wie viel Leid willst Du mir noch antun, bevor ich dahinscheide? Ich trinke schon seit einem Jahr nicht mehr. Also lass es endlich gut sein.
Was willst Du von mir hören?
Dass ich Dir ein guter Vater war.
Das warst Du, fünf Jahre lang. Reicht das? Können wir unseren Kontakt jetzt damit beenden?
Du willst mich einfach wegschicken? Willst Du mich vergessen? Das habe ich nicht verdient! Ich habe immer für Dich gesorgt! Ich habe für alle gesorgt. Besonders für Pat. Hast Du das vergessen? Und für Deine Mutter!
Mutter kam abends immer sehr müde nach Hause und musste noch das Essen kochen, während Du schon Stunden mit Deiner Flasche in der Küche gesessen bist und auf ihre Bewirtung gewartet hast. Weißt Du eigentlich, dass sie diese Arbeit zusätzlich zu ihrer anderen machte?
Früher, als Du noch nicht getrunken hattest, hast Du auch manchmal das Abendbrot gemacht. Erinnerst Du Dich noch daran?
Oh ja! Das sind die Momente, die ich jetzt gerne mit Dir teile! Ja, wir haben es dann eine „Männerrunde“ genannt, weil wir zusammen gekocht haben, während Mutter noch die Wäsche bügelte. Das war eine tolle Zeit!
Bis der Alkohol begann, Dein Abendbrot zu ersetzen. Ich saß viele Abende oben in meinem Zimmer und hatte Hunger, während Ihr Euch unten gestritten habt. Ich hörte Euch herumschreien. Weißt Du, dass mir immer sehr heiß wurde, wenn ich Euch schreien hörte? Und meine Angst war riesig, Ihr könntet Euch etwas antun. Doch genau das geschah eines Abends. Ich hörte eine Flasche scheppern und einen unglaublich lauten Schrei von Mutter. Das ließ mich die Angst vergessen und runter zur Küche eilen. Mutter blutete am Arm und Du hieltest triumphierend einen zerbrochenen Flaschenhals in die Höhe. Ich sah in Dein versoffenes Gesicht und konnte nichts Anderes tun als Dich anspucken. Du kamst auf mich zu und dann ging alles sehr schnell …
Ich weiß nicht, wovon Du redest, Rylan. Es scheint mir, als würdest Du Dir immerzu neue Geschichten zusammenspinnen, um mich zusätzlich zu verletzen. Es ist unverzeihlich, was Du mir alles unterstellst. Ich wusste von Anfang an, dass Du ein böses Geschöpf bist, doch ich dachte, wenn ich Dich anständig erziehe, werde ich Dir das Böse schon austreiben. Es ist mir nicht gelungen, wie ich feststelle. Nun schiebst Du mir das Böse zu. Ich kann mir das nicht mehr von Dir anhören, Sohn! Ich werde Dir nicht mehr schreiben.
*
Liebes Tagebuch!Im Engelszimmer lebt nun ein kleines Mädchen. Patricia. Sie ist behindert, aber man sieht es ihr nicht an. Es ist ihr Geist, der eine gewisse Naivität versprüht und die Ärzte dazu bewog, bei ihr eine geistige Behinderung zu diagnostizieren. „Sie wird alles etwas später lernen“, haben die Ärzte gesagt.
Ich habe sie vom ersten Tag an geliebt! Wir alle hatten sie lieb. Sie war das Ergebnis jenen abends, als wir uns fast umgebracht hatten. Meine Mutter hatte eine Sturzgeburt. Mein Gesicht wurde mithilfe von drei Operationen wiederhergestellt. Nun habe ich eine große Narbe von der Lippe bis zur Stirn. Anfangs sah ich wie Frankenstein aus, doch nach jeder Operation wurde es besser. Nun sieht man nur noch eine hauchdünne rosa Linie. Allerdings entsteht dadurch gerade ein anderes Problem. Der Arzt erklärte es so: „Da der Kopf von Rylan noch wächst, wird sich die Gesichtshaut noch um einiges dehnen. Daher könnte es sein, dass sich das Gesicht etwas asymmetrisch verändert. Keine große Sache. Wer es nicht weiß, wird es nicht bemerken. Man kann es von Zeit zu Zeit operativ richten, aber das wird die Krankenversicherung nicht übernehmen, weil es eine kosmetische Sache ist.“
Seit diesem Gespräch sehe ich mich jeden Tag im Spiegel an. Und jeden Tag sehe ich ein immer schiefer werdendes Gesicht. Zumindest kommt es mir so vor. Vielleicht sehe ich es auch nur, weil sich mein rechtes Auge nicht mehr auf der gleichen Höhe befindet, wie das linke. Mutter sagt, dass ich noch zehn Jahre lang wachsen werde. Dafür wird Patricia immer schöner.
Es war in den letzten drei Jahren sehr anstrengend, Vater in der Heilanstalt zu besuchen. Als er heute unser Haus zum ersten Mal wieder betrat, musste er weinen. Er schloss uns alle in den Arm und ich war froh, dass er nicht mehr trank. Sein Gesicht sah jünger aus und er war wieder so angenehm still.
Meine Erwartung in ihn ist jetzt sehr groß. Vater steht tief in unserer Schuld. Ich bin nun neun Jahre alt. Patricia ist drei und meine Mutter siebenunddreißig. Wir haben überlebt!
Liebes Tagebuch!
Vater hilft Patricia. Das freut uns alle. Er verbringt viel Zeit mit ihr und wiegt sie oft sanft in seinen Armen. Mich darf er nicht mehr berühren. Seit er mein Gesicht zerschnitten hat, weiche ich vor ihm zurück. Ich halte es einfach nicht aus. Er versucht, mich eifersüchtig zu machen, indem er mich immer ansieht, wenn er Patricia streichelt und sagt: „Schau mal!“. Er liebkost sie und sie quietscht vor Vergnügen. Seit einigen Tagen nennt er sie Pat, was meine Mutter gar nicht mag. Sie mag es auch nicht, wie er sie anfasst. Ich auch nicht.
Liebes Tagebuch!
Ich konnte lange nicht schreiben. Meine Gedanken ließen sich nicht mehr sortieren.
Ich liebe meine kleine Schwester. Ich nenne sie nun auch Pat, weil sie einfach so niedlich ist. Ihre Behinderung sieht man ihr gar nicht an. Nur wenn man mit ihr redet, bemerkt man es. Sie begeistert uns jeden Tag aufs Neue. Ich habe mich in letzter Zeit häufig gefragt, warum mein Vater über die Schwangerschaft meiner Mutter so unglücklich war und trank, wo er seine Tochter doch offensichtlich sehr liebt. Er ist wieder ganz der Alte. Na ja, nicht ganz. Nicht für mich. Er wird nie wieder der Vater für mich sein, den ich einst gehabt habe. Jeden Tag, wenn ich mich beim Waschen im Spiegel anschaue, werde ich daran erinnert. Aber für Pat ist er ein großartiger Vater. Sie sieht so glücklich aus, wenn er Zeit mit ihr verbringt. Das macht auch mich glücklich. Doch vor genau zwei Stunden ist mein Glück zerbrochen …
Liebes Tagebuch!
Ich konnte nicht mehr weiterschreiben. Es ging mir nicht gut. Mutter war einkaufen und ich war mit Vater und Pat allein zu Hause. Pat hatte wieder in die Hose gemacht und Vater ging mit ihr ins Engelszimmer, die Windeln wechseln. Das macht er immer. Er tut das gerne und Mutter lobt ihn deswegen oft, weil das nicht viele Väter tun.
Ich dachte darüber nach, dass ich später auch ein guter Vater werden will und das Windelwechseln lernen sollte. Pat war überfällig, trocken zu werden, aber die Ärzte hatten uns bereits gesagt, dass es bei ihr wegen der Behinderung auch bei diesen Sachen später werden würde.
Ich folgte meinem Vater ins Engelszimmer, doch er schickte mich raus. „Warum?“, rief ich, als er mir die Tür vor der Nase zuschlug, doch er gab mir keine Antwort. Meine Neugierde war groß und ich öffnete die Tür klammheimlich einen kleinen Spalt und lugte hinein. Ich erschrak, als ich das sah!
Liebes Tagebuch!
Vater hat mich geschlagen und zwei Tage lang im Schuppen eingesperrt. Ich konnte Dir also nicht schreiben. Und es tut immer noch weh. Mein Rücken. Er hat mir auf den Rücken geschlagen. Heute darf ich zum ersten Mal wieder in meinem Bett schlafen.
Ich kann Vater nicht mehr in die Augen sehen. Als er mich aus dem Schuppen holte, roch er wieder nach Alkohol. Ich werde ihn nie wieder ansehen können!
Liebes Tagebuch!
Ich habe mich seit Monaten nicht mehr gemeldet, weil ich nicht konnte. Es gibt Zeiten, in denen ich nicht schreiben kann. Ich hatte gestern Geburtstag. Meinen Zehnten. Es war schön. Mutter hat mir einen Kuchen gebacken und Vater hat mir ein neues Fahrrad geschenkt. Beides war toll! Pat wird in ein paar Wochen vier. Sie macht immer noch in die Hose.