Ein kalter Wind strich über meine Haut und trug den Geruch von feuchter Erde und Weihrauch zu mir. Der Kies unter meinen Schritten knirschte und gab leicht nach. Akirai brummte mir ins Ohr und drängte sich näher an meinen Hals. Ihre kleinen Krallen piksten in meine Haut, wie immer wenn ich sie auf meiner Schulter trug.
Ich schritt durch die Reihen der Grabsteine. Blumen, Statuen und kleine Dekorationen verschönerten die letzte Ruhestätte. Machten sie persönlich und dadurch besonders. Namen, die mich nicht erreichten, las ich automatisch, doch mir erschien kein Gesicht.
Hier hatte ich nur ein Ziel. Geradeaus und weiter. Zu der einen Person, die ich immer um Rat fragen konnte, aber die ich nur noch hier fand. Ich fröstelte unter einem weiteren Windstoß und auch Akirai drängte sich näher an mich.
Nur noch wenige Meter. Leises Weinen drang zu mir durch und immer mal wieder standen Menschen vor den Gräbern. Ich sah sie nicht an, sondern starrte stur auf den Weg vor mir und den Grabstein, den ich schon öfter besucht hatte.
Meine Finger strichen über die Gravur und ich lächelte traurig, bevor ich Akirai neben mir auf den Boden setzte. Sie schnüffelte herum und fiepte erneut leicht, bevor sie sich an mein Bein schmiegte.
„Ich weiß nicht mehr weiter, Oma“, flüsterte ich und starrte auf den Namen meiner Oma. Das Grab selbst war mit vielen Stiefmütterchen bepflanzt. Sie waren ihre Lieblingsblumen und auch in ihrem Garten gab es keine Stelle, die nicht mindestens eine dieser Pflanzen hatte.
„Egal, wie sehr ich es versuche. Ich kann nicht aufhören, ihn zu lieben. Jedes Mal wenn wir uns sehen, verliere ich mich in seiner Nähe. Ich kann ihn nicht als Bruder sehen. Wieso ist es so schlimm, wenn man seinen Bruder liebt?“ Ich schniefte kurz und holte erneut zittrig Luft. Tränen brannten in meinen Augen, doch ich wollte nicht mehr weinen.
„Inzest ist verboten, aber doch nur unter Mädchen und Jungen. Sollte ich ihn dann nicht lieben dürfen?“ Ich lachte auf, als dort wieder diese kalte Klaue war, die sich langsam um mein Herz legte und zudrückte.
Nicht verboten, aber moralisch verwerflich, lieber Tsuki. Die Gesellschaft wird das nicht akzeptieren. Ihr seid Brüder und da solltet ihr euch nicht so lieben. Außerdem wird Taiyo dies niemals erwidern.
Ich ignorierte die Worte, so gut es ging, jedoch schlugen sie dennoch wieder eine Kerbe in mein Herz. Sofort fixierte ich mich stärker auf die Schrift vor meiner Nase. Den Namen der Person, die mir so oft geholfen hatte, doch jetzt schwieg.
„Egal, wie sehr ich es versuche. Die Gefühle verschwinden nicht. Ich will ja sein Bruder sein, aber ... ich kann es nicht. Wieso hast du es mir gesagt? All das wäre anders gewesen, wenn du das Geheimnis mit ins Grab genommen hättest. Wolltest du dein Gewissen erleichtern?“ Groll stieg in mir hoch, doch ich schluckte ihn herunter und schüttelte den Kopf.
Ich war nicht hier, um ihr Vorwürfe zu machen. Darüber war ich hinaus. Dachte ich zumindest. Aber dieses nagende Gefühl blieb in meinem Inneren und das Brummen von Akirai schien mich darin zu bestätigen.
„Soll ich es ihm sagen? Dass ich ihn liebe? Was wird dann geschehen? Er spricht ja eh nicht mehr mit mir. Habe ich dann überhaupt etwas zu verlieren?“ Ich lachte erneut verzweifelt auf und strich mir durchs Gesicht.
Langsam sank ich auf die Knie und hielt mich am Rand des Grabes fest. Der Stein war kalt und rau. Alles, was meine Oma nicht war. Dieser Ort passte nicht zu ihr und dennoch konnte ich ihr nur hier nahe sein. Die Wohnung war schon wieder neu vermietet.
Erneut lachte ich auf und zitterte unter einem kalten Windstoß. Akirai verkroch sich zwischen meinen Beinen und suchte dort Schutz und Wärme. Ich strich ihr über das Fell. Wärme, die durch meine Nerven pulsierte. Leben, das es hier nicht mehr gab.
„Was soll ich tun, Oma? Bitte, sag mir doch, was ich tun soll? Ich weiß nicht mehr weiter. Ich will Taiyo nicht verlieren. Aber egal, was ich tue, er entfernt sich immer weiter von mir. Es war doch nicht einmal ein Jahr.“ Heiße Tränen liefen über meine Wangen und ich strich sie sofort mit meinem Ärmel weg.
„Nicht einmal ein Jahr und wir verlieren uns. Das kann doch nicht wahr sein. Du wolltest mir die Möglichkeit geben, dass ich meinen Bruder finde. Ich hab es auch geschafft, aber jetzt. Verliere ich ihn. Was soll ich nur tun?“ Akirai stupste meine Finger an und ich lächelte leicht.
„Ja, ich weiß, dass du immer für mich da bist. Aber ich brauche jetzt den Rat von jemand anderen.“ Es kam nur ein beleidigtes Brummen und ich lächelte, doch das Grab vor mir blieb still.
Egal, wen ich fragte. Ich bekam keine Antwort. Zu Mutter konnte ich nicht gehen. Sie hatte mich noch nie verstanden und wenn ich ihr die Wahrheit sagte, dann ließ sie mich bestimmt irgendwo einweisen. Denn sie hatte mich noch nie verstanden.
Ich seufzte und hob dann Akirai wieder auf meinen Schoß, wo sie sich sofort an mich kuschelte, um den kalten Wind zu entkommen. „Ich muss endlich loslassen. Diese Liebe hat keine Zukunft. Auch wenn sie nicht verboten ist, so wird er sie niemals erwidern. Ich bin nur ein Bruder für ihn. Nicht mehr und ich werde auch niemals mehr werden. Das weiß ich.“
Erneut schniefte ich und wischte die letzten Reste der Tränen aus meinem Gesicht, um mich dann wieder zu erheben. Dort war der Grabstein. Ihr Name und kein Zeichen, dass sie mich gehört hatte oder gar irgendeinen Rat hatte. Ich sehnte mich nach ihrer Stimme.
„Bitte, Oma. Hilf mir. Gib mir ein Zeichen, dass es die richtige Entscheidung ist. Ich will Taiyo nicht verlieren.“ Ich setzte Akirai wieder auf meine Schulter und berührte den kalten Grabstein. Ein weiterer Windstoß ließ mich frösteln, bevor ich mich dann schon abwandte. Hier gab es nichts mehr für mich, doch ich wusste, dass ich mit dir sprechen musste. Bevor wir einander gänzlich verloren und aus Brüdern wieder Fremde wurden.
Denn auch wenn ich dich immer noch liebte und diese Liebe schmerzte. So wollte ich dich nicht mehr verlieren. Nie wieder. Schließlich gehörten wir zusammen als Brüder. Für alle Zeit.