Sie hatte ihn entdeckt.
Vor seinem Gesichtsfeld flackerten rote Punkte.
Ein Teil von ihm sehnte eine Ohnmacht herbei – und sei es nur, um aus dieser Situation zu entkommen. Der weitaus größere Teil bekam die nackte Panik bei der Frage, was die beiden wohl mit ihm tun würden, wenn er jetzt handlungsunfähig wurde. Vielleicht würden sie ihn auch mit Kabelbinder fesseln?
„Na komm schon, Jo“, forderte Lillian erneut.
Jonathan zuckte zusammen – so nannten ihn sonst nur Familienmitglieder. Woher kannte sie den Namen?
„Soll ich dich erst holen kommen?“ Mittlerweile hing eine Ungeduld in ihrer Stimme, die Jonathan sehr deutlich daran erinnerte, dass er ganz sicher nicht von ihr „geholt“ werden wollte. Erst recht nicht von Raik, der sich über jedes schmerzende Ächzen zu freuen schien – besonders jetzt, als er dem Dieb die Maske von dessen verletztem Gesicht zerrte.
Jonathan starrte den Dieb verblüfft an. Ebenso alle anderen. Dunkle Haare, grauen Augen, ein kantiges, zerschundenes Gesicht. Der Typ sah aus wie Raik – nur mit mehr Verletzungen. Was ging hier ab?
Lillian räusperte sich.
Endlich kam Jonathan langsam, hinter der Tür hervor. Doch er konnte den Blick nicht von dem am Boden kauernden Bündel Mensch abwenden. Das Gesicht, das Raik so ähnlich sah, war auf der einen Seite mit kleinen, roten Pusteln übersäht, die Jonathan unangenehm daran erinnerten, wie er seinen alten Kaktus aus nächster Nähe gegen diesen Mann geworfen hatte. Noch unangenehmer anzusehen war jedoch der dünne Blutstrom, der beständig aus der Nase des Einbrechers sickerte. Und war das da ein Zahn auf seinem Flurboden? Mr. Muckibude hatte ordentlich zugeschlagen. Jonathan schauderte und zwang sich, dazu, von dem Dieb weg und zu Raik und Lillian hinzusehen.
Die beiden starrten das Double immer noch an. Jetzt fand Raik sein Lächeln wieder, langsam breitete es sich auf seinem Gesicht aus, mehr ein hungriges Zähnefletschen als ein wirklicher Ausdruck der Freude. „Na schau mal einer guck. Wer bist du denn?“
Etwas an dem Dieb veränderte sich. Die Art, wie er sich trotz seiner Verletzungen und Verschmutzungen aufrichtete und gegen die Wand lehnte, als würde ihm alles hier gehören, hatte nichts mehr mit der angespannten Haltung von eben zutun. „Oh. Ich bin sicher, dass du mich kennst, Raik.“ Das ‚R‘ in Raiks Namen klang, als würde er es schnurren.
Jonathan stellten sich die Nackenhaare auf und auch Raik prallte wie geschlagen vor seinem quasi-Double zurück.
Der Dieb wiederum schien sich in der Aufmerksamkeit geradezu zu suhlen und taxierte jeden Anwesenden. Als sein Blick Jonathan streifte, schien er sich regelrecht an ihn festzusaugen. „Jonathan, richtig?“
Jonathan nickte sprachlos und wäre gern hinter die Wohnzimmertür zurück gehuscht. Vor allem, da die Augen des Mannes im diffusen Licht des Flurs fast schon unnatürlich hell wirkten. Geradeso wie bei dem Juwelier vorhin. Und wieder hatte Jonathan ein denkbar schlechtes Gefühl. Was ging hier nur vor?!
„Wie schön! Ich freue mich immer, Lillians-“
„Was willst du?“, unterbrach Lillian den Mann und schob sich rigoros zwischen ihn und Jonathan.
Auf dem Gesicht des Diebes breitete sich ein langsames, laszives Lächeln aus. „Ach – manchmal sehne ich mich nach Hause zurück.“ Sein Blick wanderte zu Raik zurück und schien dessen ganze Aufmerksamkeit anzuziehen, wie der Honig die Fliegen. „Und dann denke ich an dich. Und uns. Und was hätte sein können.“
Raik schluckte. „Dann hättest du andere Entscheidungen treffen müssen.“ Seine Stimme war so leise, dass Jonathan ihn kaum verstand. Doch was er sah, war die Sorge in Lillians Gesicht, als sie ihren Partner musterte und dabei in ihre Tasche griff.
„Findest du?“, antwortete der Dieb geradezu sanft. „Dabei haben wir gar nicht so unterschiedliche Entscheidungen getroffen. Nur-“
„Doch.“ Lillian hatte offenbar gefunden, was sie gesucht hatte, als sie eine kleine Deodose hervorzog. „Das habt ihr.“ Mit diesen Worten dieselte den Dieb von oben bis unten ein. Es zischte und feiner, glitzernder Nebel legte sich über den Mann - aber statt nach Deo roch es nach Kräutern und einem Hauch von Meeresfrische.
Im nächsten Augenblick sackte der Dieb reglos gegen die Wand.
WAS GING HIER VOR?!
„Schwätzer“, knurrte Lillian verbissen und wandte sich an Raik. „Alles gut bei dir?“
Er nickte, auch wenn er fahrig aussah. Doch dann strafften sich seine Schultern. „Ich denke, das ändert die Lage?“
Lillians Lippen wurden zu einem schmalen Strich. „Erheblich. Aber eins nach dem anderen. Jo?“
Jonathan zuckte zusammen, als sie sich wieder so direkt an ihn wandte. Warum musste ausgerechnet ihm so Zeug passieren? Er, der noch nie in seinem ganzen Leben gekifft und kaum je einen Filmriss gehabt hatte!
„Du hast sicher eine Menge Fragen“, fuhr Lillian im aufgeräumten Ton fort, wobei sie zwei Gummihandschuhe aus ihrer Tasche fischte (was hatte sie da eigentlich alles drin?!) und sie überstreifte. „Leider können wir dir nicht alle beantworten.“
„Also eigentlich gar keine“, warf Raik mit süffisantem Grinsen ein. Anscheinend hatte er sich wieder erholt, von was auch immer das gerade war.
„Du bist mal wieder nicht hilfreich“, knurrte Lillian trocken. „Statt dumme Sprüche zu reißen, sei nützlich und mach ein paar Fenster auf. Hier stinkt’s.“
Da hatte sie recht. Die Exkremente in der Hose des Einbrechers verbreiteten einen unangenehmen Geruch, der Jonathan immer wieder angeekelt mit dem Mund zucken ließ. Er beneidete Lillian nicht darum, dass sie jetzt die Taschen des Diebes systematisch ausräumte. So distanziert als wäre er eine Puppe, die neu eingekleidet werden müsste. Dass der Mann dabei noch immer regungslos an der Wand lehnte, verstärkte den Eindruck noch. Lebte der Kerl überhaupt noch?
„Jedenfalls tut es mir leid, dass du in all das hineingezogen wurdest, Jo“, fuhr sie nüchtern fort, ohne in ihrem Tun innezuhalten. Verschiedene Dietriche, ein Müsliriegel, ein Schlüsselbund, Taschentücher ... Jonathans Gedanken rasten, während er auf all die Dinge schaute, die sie aus den Taschen des Einbrechers holte und achtlos auf den Boden warf und ihrer Stimme weiter zuhörte: „Leider ging es nicht anders. Wir mussten sicherstellen, dass diese Person hier nicht länger in anderer Leute Wohnungen einbricht.“
„Dann seid ihr Polizisten?“, rang Jonathan sich schließlich zu einer Frage durch und sei es nur, um überhaupt etwas zu sagen. Dabei ignorierte er die aufkommende Beunruhigung, indem er weitere Gedankensprünge zu Themen wie ‚Polizeigewalt‘ oder ‚Amtsmissbrauch‘ beiseite schob.
Raik hinter ihm schnaubte belustigt, als er zusammen mit einem frischen Luftzug zu ihnen zurückkam. „Nur im allerweitesten Sinne.“
Der gefesselte Dieb zuckte. Ein Lebenszeichen, das Jonathan gleichermaßen erleichterte und beunruhigte, als ihm bewusst wurde, was Lillian gesagt hatte und sich eine neue Frage siedend heiß durch seinen Geist brannte: „Ist dieser Mann auch bei meiner Mutter eingebrochen?“
Lillian sah von dem am Boden liegenden Mann auf und musterte Jonathan kritisch. Als würde sie abwägen, ob sie mit ihm darüber sprechen wollte oder nicht. Schließlich nickte sie. Dann wandte sie sich wieder dem Einbrecher und dessen beschmutzten Gesäßtaschen zu und unterband damit jede weitere Nachfrage.
Der Dieb stöhnte. Anscheinend kam er langsam wieder zu Bewusstsein, von was auch immer da mit ihm und dem komischen Deo passiert war.
Trotz ihrer Gummihandschuhe verzog Lillian angewidert das Gesicht, als sie ein Handy und ein Portemonnaie aus der Tasche zog. Und ein Klappmesser. Oha.
Jonathan musterte das Smartphone überrascht, während Lillian grob das Portemonnaie durchsuchte. War das nicht das neue Samsung? Er hatte es sich erst gestern angeschaut und mit einigen anderen verglichen. Es war cool. Aber auch teuer. Zumindest zu teuer für ihn. Aber vielleicht war das Einbrecherdasein doch um einiges lukrativer, als er bisher angenommen hatte.
„Schade. Kein Ausweis“, riss Lillians Stimme ihn aus seinen Überlegungen. „Ich geh das hier waschen.“ Sie deutetet grob auf das Handy und wandte sich zu Raik: „Und du fragst unseren neuen Bekannten nach dem Entsperrungsmuster.“
Raik lächelte – und wieder glich es mehr einem gierigen Zähnefletschen.
„Und zwar nett.“
Das Lächeln erstarb.
Mit einem Seufzen wandte sich Raik schließlich an den Mann an der Wand und klatschte ihm unsanft auf die Wange.
Der Dieb öffnete die Augen.
Du hast Glück, dass wir heute einen Zuschauer haben, weißt du das?“, knurrte Raik. „Normalerweise ist sie nicht ganz so zimperlich. Und nach der Nummer gerade hab ich ehrlich gesagt so gar keine Lust auf Best Buddies spielen.“
Jonathan blinzelte, als plötzlich zwei haselnussbraune Iriden zu ihm herüberblickten. Aber..? War da nicht eben noch...?! Drehte er jetzt durch?
„Aaaalso-“, fuhr Raik fort. „Du hast meine Partnerin vielleicht gehört. Wie lautet der Entsperrungscode für dein Handy?“
Der Einbrecher sah mit trägem Blick zu Raik. Dann schüttelte er den Kopf. „Fick dich.“
Raik lächelte. Es war wieder dieses gruselige Jäger-Lächeln. Es versprach Unwohlsein – mehr als Unwohlsein. Leid. Es versprach Leid. Jonathans Mund wurde trocken. Was immer Raik in diesem Moment durch den Kopf ging – Jonathan wollte es nicht wissen und erst recht wollte er es nicht in die Tat umgesetzt sehen.
„Mutig. Ich-“, setzte Raik an.
„Ihr braucht nur den Fingerabdruck“, unterbrach Jonathan ihn hastig.
„Was?“
„Glaub ich zumindest. Das ist ein neues Samsung“, beeilte sich Jonathan, zu erklären. „Vielleicht ist es nicht mit einem Muster gesichert, sondern mit seinem Fingerabdruck.“
Raik seufzte und maulte: „Du bist genauso eine Spielverderberin wie Lillian.“
„Lass dir nichts einreden!“, schallte es daraufhin von Lillian aus dem Bad, ehe sie wieder auftauchte. „Das ist gut mitgedacht.“
Mit ein paar zügigen Schritten war sie bei dem Dieb. Doch der hatte die Finger resolut ineinander verschränkt. „Jetzt nicht dein Ernst?“, knurrte die Frau genervt. „Ich zähl bis drei. Danach trete ich dir in die Eier und wenn du dich dann handlungsunfähig zusammenkrümmst, nehme ich mir deinen Fingerabdruck.“
Die drei Männer starrten sie alle gleichermaßen entsetzt an. Doch Lillian war absolut unbeeindruckt. „Also? So oder so? Eins.“
Raik schüttelte sich. „Du musst auch immer übertreiben, wenn du auftrumpfst.“
Lillian warf ihm einen kühlen Blick zu. „Er hat immerhin die Wahl. Zwei.“
„Aber-“, flüsterte der Dieb verstört.
„Ich verhandle nicht mit dir. Drei.“ Lilians Fuß hob sich und der Einbrecher rollte sich zusammen.
„Nein! Bitte! Ich- ist ja gut. Ist ja gut. Hier!“ Seine Stimme klang schrill vor Panik und ergeben wackelte er mit einem Zeigefinger.
Ohne weiter zu warten, drückte Lilian den Scanner gegen die Fingerkuppe des Diebes. Einen Moment später entsperrte sich der Bildschirm und ein zufriedenes Lächeln huschte über das Gesicht der Frau.
„Dann ändere gleich die Zugangangsdaten. Sonst müssen wir Freund Blase hier noch den Finger abhacken, um wieder Zugriff zu bekommen.“ Raik zwinkerte dem Dieb bei diesen Worten fröhlich zu, während Jonathan sich fast sicher war, dass das kein Witz war.
„Jaja“, murrte Lillian mit fliegenden Fingern. „Bin dabei.“ Einen Moment lang herrschte Stille, in der alle Lillian dabei zu sahen, wie sie zügig auf dem Smartphone herum wischte. „Oh hör mal. Ich hab hier eine Sprachnachricht.“
„Hey. Du musst noch mal zu Jonathan. Ich weiß, es ist doof. Aber-“, im Hintergrund hörte man ein leises Bellen. „Shh – Jimmy, gleich... Er hat einen neuen Kaktus bekommen. Das würde den Plan zu weit zurück werfen. Aber sei vorsichtig, es könnte eine Falle sein. Bezahlung erfolgt wie üblich.“
Jonathan starrte ins Leere. Er kannte diese Stimme. Louisa.
„Ooookay. Das kam überraschend.“ Raiks Worte drangen nur gedämpft zu Jonathan. „Und nicht die Stimme, die ich erwartet habe. Ist das deine Auftraggeberin? Woher wusstet ihr, dass Jonathan einen neuen Kaktus bekommen hat?“
Der Einbrecher schwieg.
Doch ehrlicherweise interessierte das Jonathan im Augenblick nicht besonders. Seine Überlegungen kreisten immer wieder ergebnislos um die gleichen Fragen. Dabei wusste er nicht, was ihn mehr verstörte. Dass es wirklich um diesen dummen Kaktus ging oder dass es langfristig von Louisa geplant gewesen war. Immerhin hatte sie ihn sogar bei Tinder gematcht. Sollte er das sagen?
„Spiel noch mal ab“, forderte Raik schließlich in die bleierne Stille hinein und sie alle hörten sich die Nachricht noch einmal an.
Louisas Stimme klang unruhig und angespannt. Vielleicht irrte Jonathan sich auch und es war gar nicht seine Tinder-Bekanntschaft? Fast hoffte er es. Und gleichzeitig war er sich absolut sicher, dass er sich nicht täuschte. Wie viele Frauen gab es schon, die klangen wie sie und einen Hund Namens Jimmy hatten? Immerhin wusste er seit dem Date alles über Jimmys Hundefutter. Raik und Lillian schienen allerdings nichts von Louisa und Jimmy zu ahnen. Sollte er sie aufklären?
„Ihr habt eine Falle vermutet und du bist trotzdem hergekommen?“, unterbrach Lillian die wieder aufkommende Stille. Ihre Stimme klang fast genauso angespannt, wie Louisas. Als käme sie gedanklich genauso wenig zur Ruhe wie Jonathan. Aber vielleicht bildete er sich das auch ein, weil ihm plötzlich eine ganz andere Erkenntnis kam: Die beiden hatten gewusst, was sie taten, als sie ihm den Kaktus gaben.
Sie hatten Jonathan als Köder benutzt, ohne auch nur nach seiner Meinung zu fragen. Einfach, weil sie in ihm eine komfortable Möglichkeit sahen. Und auch wenn er weder Lillian noch Raik wirklich kannte – er fühlte sich verraten.
Der Mann am Boden schnaubte verächtlich. Dann sah er zu Lillian. „Jonathan sollte nicht hier sein. Dann wäre es anders gelaufen. Das hat sie mir zugesichert.“
„Wär ich mir nicht sicher – denn auch wenn er nicht da gewesen wäre, würdest du jetzt hier sitzen“, antwortete Raik mit einem Kopfschütteln, was der Mann am Boden mit einem Schulterzucken quittierte. Irgendwie sah es nicht danach aus, als würde er sich wirklich unterlegen fühlen.
Raik jedoch ignorierte das. „Wie machen wir jetzt weiter? Nehmen wir ihmchen hier mit?“ Zur Verdeutlichung trat er mit der Fußspitze gegen das Bein des Einbrechers – definitiv fester, als nötig gewesen wäre.
Der Dieb zuckte, doch ließ er keinen weiteren Ton hören.
Das brachte Jonathan endgültig wieder aus seiner Schockstarre zurück. „Ähm... Nur mal am Rande“, begann er unruhig und Louisas Name brannte ihm regelrecht auf der Zunge. Nur ein paar Worte. Es war ganz leicht. „Bin ich der Einzige, der sich darüber wundert, dass das eigentliche Ziel der Kaktus war?“
Er konnte es nicht sagen. Was immer dahinter steckte – bei dem Gedanken, dass Raik Louisa so zusammenschlug, wie den Einbrecher, wurde ihm schlecht. Ganz zu schweigen von den ganzen anderen abnormen Dingen, die hier abgingen. Sie wollte doch nur den dummen Kaktus – warum auch immer.
Schließlich räusperte sich Lillian. „Ja.“
Das war ihre Antwort? Mehr nicht? War das ihr verdammter Ernst? „Und weiter?“, forderte Jonathan verbissen. „Was soll an diesem Kaktus jetzt so Besonders sein? Schmeckt sein Saft nach Bier? Oder wachsen in seinen Blüten Diamanten?“
Die letzte Silbe erstarb fast auf seinen Lippen, als er an den Granat dachte, der noch immer in seinem Portemonnaie schlummerte. Aber das war doch absurd.
Raik seufzte und klang dabei viel älter, als er war. „Junge. Es gibt Dinge, die weißt du besser nicht.“
Jonathan zuckte zusammen. Das hatte dieser arrogante Kotzbrocken ihm schon einmal gesagt. Und auch jetzt mochte er die Antwort nicht. „Alter. Und es gibt Dinge, die erklärst du besser, um sinnlose Eskalation zu vermeiden.“
Raik schmunzelte und zwinkerte ihm zu. „Das hätte auch von Lilly sein können.“
„Halt die Klappe, Raik“, zischte ‚Lilly‘ (Jonathan bekam Angstschweiß, wenn er nur daran dachte, sie so zu nennen). „Wir nehmen ihn mit. Dann muss sich Jo nicht mit ihm herumschlagen.“
Raik blieb von dem Klapperschlangen-Tonfall seiner Partnerin jedoch unbeeindruckt. „Gut. Das ist mir auch lieber. Dann müssen wir uns auch nicht mehr so benehmen, was Kumpel?“, witzelte Raik und tätschelte dem Einbrecher den Kopf - definitiv grober, als notwendig. „Vielleicht erzählst du uns ja noch was zu deinem mentalen Ausrutscher vorhin. Oder zu dieser sexy Stimme. Ich würde die Besitzerin gerne kennenlernen.“
Jonathan wurde es kalt. Er war sich sicher, dass weder Raik noch Lillian sich in Zurückhaltung üben würden, wenn sie Louisa erst gefunden hatten. Dazu waren sie beide zu rücksichtslos gewesen. Warum auch immer ihnen dieser Kaktus so wichtig war. In seinem Kopf arbeitete es. Konnte er sie aufhalten?
„Und – und ihr wollt jetzt einfach gehen?“, fragte er vorsichtig. „Soll ich vielleicht noch etwas tun? Oder-“
Das müde Lächeln in Lillians Gesicht unterbrach ihn. „Das ist lieb von dir, Jo“, begann sie leise. „Aber du hilfst uns am meisten, wenn du diesen ganzen Vorfall hier niemals mit irgendjemandem besprichst – oder es am Besten ganz vergisst.“
Jonathan versuchte zu lachen, aber er merkte selbst, dass es nicht so ganz klappte. „Klingt als würdet ihr für die CIA arbeiten.“
„Pfft – diese Stümper“, witzelte Raik augenzwinkernd und bot ihm die Hand.
Jonathan starrte auf die dargebotene Rechte und zögerte. Irgendetwas war seltsam. Noch seltsamer als ohnehin schon. Was war es? Vorsichtig schlug er in den festen Händedruck ein, mit dem er gerade professionell abgecancelt wurde.
„Hat mich gefreut, Jonathan“, fuhr Raik in aufgeräumter Stimmung fort.
„Mich auch“, antwortete Jonathan. „Naja – mehr oder minder.“
Raik lachte und es fühlte sich so unreal an, als dieser sich wieder zu dem Dieb umwandte. Was war es? Was übersah er?
„Na komm, Prinzessin. Ich trag dich nicht“, forderte Raik den Einbrecher auf, griff nach dessen gefesselten Händen und zerrte ihn grob auf die Füße.
Jetzt wusste es Jonathan. Die Hände. Vorhin waren da kleine Schnitte und Blut. Aber gerade waren sie so makellos, als hätte Raik niemals auf einen Menschen eingeschlagen. Oder hatte Jonathan sich die Schnitte nur eingebildet?
Noch während er auf Raiks breiten Rücken starrte, verschwanden er und der Einbrecher aus der Tür heraus und ein leises Rascheln neben ihm, machte ihn darauf aufmerksam, dass Lillian wohl neben ihn getreten war. Es dauerte einen Moment, bis er sich dazu durchringen konnte, sich zu der kleinen Frau umzudrehen. Als er es dann doch tat, sah er in die grünen Augen, die ihn wieder so erschreckend an seine Mutter erinnerten. „Das war‘s für mich?“, fragte er leise.
Lillian lächelte. „Ich hoffe es. Mach dir keinen Kopf um diese Frau. Ich bin sicher, sie wird nicht noch einmal einen Einbrecher auf dich hetzen.“
Bei diesen Worten wurde es Jonathan wieder kalt. Er war nicht sicher, ob das ein Versprechen oder eine Drohung an Louisa war. Es klang eher wie Letzteres. „Na dann. Danke. Viel Erfolg und... äh... ich werd‘ auf den Kaktus aufpassen.“
Etwas in Lillians Gesicht zuckte. Dann nickte sie. „Das ist ein Plan. Pass aber vor allem auf dich auf, Jo.“ Mit diesen Worten verließ Lillian seine Wohnung und schloss selbst hinter sich die Tür.
Innerlich zählte Jonathan langsam bis zwanzig. Zwanzig Sekunden, in denen ihm alles, was er gerade erlebt hatte, im Zeitraffer durch den Kopf flog.
Dann griff er nach seinem Handy und öffnete seinen Kontakt mit Louisa. ‚Hi. Keine Ahnung, was du für ein Problem mit meinem Kaktus hast. Oder warum du einen Einbrecher darauf ansetzt. Aber Raik und Lillian haben deinen Mann. Und jetzt suchen sie dich. Sei vorsichtig.‘