Lilly
Meine Mutter sah mich wieder mit diesem enttäuschten Gesichtsausdruck an, seufzte und knallte meine Englisch-Arbeit mit dem fetten roten F in der oberen Ecke auf unseren kleinen Küchentisch in der noch kleineren Küche in der vermutlich kleinsten Wohnung in ganz Manhattan. Ich spannte mich an und zog den Kopf ein, um mich vor dem zu wappnen, was gleich kommen würde. Noch genau drei Sekunden war es still. Dann tobte das gleiche Donnerwetter, wie es das immer tat, wenn ich eine Arbeit mitbrachte. Meine Mutter brüllte so laut, dass sich ein stechender Schmerz auf meinem Trommelfell breitmachte. "DU MUSST DICH MEHR ANSTRENGEN, DU MUSST FÜR DIE SCHULE LERNEN! WENN DU MIR NOCH EIN EINZIGES F MIT NACH HAUSE BRINGST, STELLE ICH DICH ZUR ADOPTION FREI! ABER DICH WILL WAHRSCHENLICH SOWIESO NIEMAND ADOPTIEREN! DIESE GANZE DUMMHEIT IN DEINEM FRECHEN KLEINEN KOPF KOMMT ALLES NUR VON DEINEM VATER! DIESER IDIOT HAT NUR UNGLÜCK ÜBER MICH GEBRACHT UND MICH MIT DIR ALLEINGELASSEN, EINER TOCHTER! SEINER TOCHTER!"
Wie Aufs Stichwort zu ihrem Ärger fing es heftig zu donnern an und Starkregen prasselte gegen das runde Küchenfenster mit ca. 10 cm Durchmesser. Ich spähte verstohlen hinaus und konnte erkennen, dass der Hudson River gerade fast über die Ufer stieg. Na so was. Wir hatten schon lange keine Überschwemmung hier gehabt.
Und meine Mutter war noch nicht fertig. "ICH WERDE DIESE ARBEIT NICHT UNTERSCHREIBEN! DU DARFST GERNE DEINEN LEHRERN ERKLÄREN, WIE SIE DAS JETZT MACHEN KÖNNEN, ABER ICH WERDE DIR NICHT HELFEN! UND JETZT AB INS BAD!"
Wegen chronischem Platzmangel in unserer Wohnung, die aus vier minikleinen Zimmern bestand (Küche, Bad, Toilette und Schlafzimmer) und nicht einmal einen Flur besaß, teilten wir uns, sehr zu unser beider Leidwesen, das Schlafzimmer und meine Mutter sperrte mich, wenn ich etwas angestellt oder eine schlechte Note mitgebracht hatte (was so ziemlich jeden Tag der Fall war) ins Bad. Mit anderen Worten: Während andere Mütter "Ab auf dein Zimmer!" riefen, brüllte sie eben "Ab ins Bad!".
Ich beeilte mich, ihrem Befehl nachzukommen, und huschte an einer vollen Einkaufstasche und dem grässlichen Flachbildfernseher, auf dem meine Mutter abends (und natürlich ohne mich) irgendwelche dummen Serien ansah, vorbei ins Bad. Die Tür knallte ohrenbetäubend laut und der Schlüssel klackte im Schloss. Ich ließ mich an der gekachelten Wand nach unten rutschen, zog die Knie an und vergrub mein Gesicht in den Händen. Na super. Jetzt durfte ich bis morgen früh hier hocken. Und das nur, weil Ich nicht die Zeit hatte, zu lernen, weil ich dauernd mit meiner Mutter aneinandergeriet. Wenn ich es einmal schaffte, meine Hausaufgaben zu erledigen, war das ein halbes Weltwunder. Die Liste mit meinen Nachsitzterminen war länger, als das Empire State Building hoch war. Ich war bereits von 4 Schulen geflogen. Was sollte ich jetzt noch tun?