Die kalte Luft strömte durch ihre Nase, ihre Nebenhöhlen, ihre Luftröhre, Bronchien und Lungenflügel, und erfüllte sie mit Stille und Ruhe. Der Wald, die Berge, es riecht nach Pilzen, Laub und Regen. Petrichor. Obwohl, Petrichor für den Geruch von trockener Erde nach dem Regen steht, die Erde im Wald jedoch war nie wirklich trocken. Die Sonne brach ab und an durch die Wolkendecke hindurch und tanzte zwischen den Blättern der Bäume hin und her. Der Laubboden gab unter ihren schweren, ledernen Stiefeln ein wenig nach.
Die Last ihres Rucksackes schnitt sich allmählich tief in ihre Schultern ein, ihr Rücken schmerzte. Doch sie wollte nicht umkehren, sie hatte noch viel vor , sie wollte unbedingt zum Gipfel des Berges. Der Wind wehte langsam, kühl und bedächtig über die Bäume und Felsen, wie ein alter Mann, der sich gemächlich von einem Ort seiner Bestimmung zum nächsten bewegt.
Langsam wurden die Bäume weniger, die Sonne senkte sich wieder dem Horizont entgegen. Sie wusste, sie sollte umkehren, doch etwas trieb sie an, trieb sie weiter nach oben, zog sie regelrecht zum Gipfel. Vor einem großen Felsen stehend, an dem kein Weg vorbeiführte, strich sie sich eine, von Schweiß und Luftfeuchte nasse, blonde Strähne aus dem Gesicht und atmete tief. Dafür hatte sie in der Kletterhalle ihrer kleinen Stadt geübt. Dafür hatte Pierre mit ihr trainiert. Man musste ihm seine Grenzen aufzeigen, musste ihm einen Tritt verpassen, wenn er einen absicherte und "aus Versehen" mit der Hand Richtung Hintern rutschte, aber er war der beste Boulderer, Felsenkletterer, den sie kannte. Sie suchte sich einen geeigneten Halt mit der Rechten, einen Platz für die Linke und klammerte sich am Gestein fest. Schritt für Schritt, Griff für Griff, langsam, kam sie weiter nach oben.
Die Sonne stand schon tief, zu tief, das wusste sie. Kein Zelt, kein Schlafsack. Sie wollte eigentlich nur kurz wandern, aber dann, dann begann es sie zu ziehen. Es zog sie immer stärker. Ein Sog in die Höhe. "Bloß nicht darüber nachdenken. Konzentrieren, sonst rutschst du den Hang hinab. Du schaffst es heute noch runter, zur Not kannst du Pierre oder Julie anrufen, dich abholen lassen oder so, aber konzentriere dich!" Sie presste ihre Hüfte näher an die steile Wand aus Geröll. "Denk dran, immer den Körperschwerpunkt nah am Hang, sonst kippst du noch nach hinten", hörte sie Julie in ihrem Kopf sagen.
Julie, die immer mit perfekten Haaren und perfektem Lächeln die perfektesten Berge erkletterte, die perfekte Zeit ruderte, den perfekten Job fand und den perfekten Freund hatte. Sie biss sich auf die Lippe.
"Eifersucht *kharr kharr* hätte ich nicht von dir erwartet, ehrlich nicht", krähte es dicht neben ihrem linken Ohr. Starr vor Schreck verlor sie mitten in der Bewegung ihr Gleichgewicht und rutschte ab. Sie schrie auf, versuchte sich festzuhalten. Doch es gelang ihr nicht. Sie wurde rasch schneller, fiel ins bodenlose, prallte auf. Ein stechender Schmerz. Weißes Glühen im rechten Oberschenkel. Rauschen in den Ohren. Kiesel und Geröll auf ihrem linken Arm. Sterne funkelten vor ihren Augen, obwohl die Sonne noch nicht untergegangen war.
Etwas pickte an ihrem Bein, sie konnte es aber nicht sehen, alles war noch so verschwommen. "Ach, das passt. Schlimmeres gesehen, schlimmeres gehabt. Es ist nur leicht *Kharr* angebrochen", wieder dieses Krächzen, das sich erst in ihrem Gehirn in Worte zu verwandeln schien "Steh auf, Mädchen, sonst *Kharr Kharr* bildet sich noch Wundbrand und dein Bein wird eitern!" Etwas kam zu ihrem Kopf gehüpft und streckte einen alten, leicht vernarbten und ergrauten Rabenkopf über ihr Gesicht. Neugierig wurde sie von dem Tier, dem Wesen, mit einem wunderbar klaren, tiefschwarzen Auge argwöhnisch gemustert. "Sag *Kharr-rah* bloß nicht, dein Kopf ist kaputt gegangen. Das wäre *krahh* ein Problem, weißt du?"
Langsam, ganz langsam, gewann sie wieder Kontrolle über ihren Körper. Sie schaffte es, sich unter den Steinen hervor zu ziehen und sich aufzusetzen. Wieder stach es schmerzhaft in ihrem Oberschenkel. Wieder glühte es weiß in ihren Nervensträngen. "Wer...was...wie?", stammelte sie mit trockener, ermatteter Stimme und hielt sich mit der rechten Hand den Kopf. Der Rabe hüpfte auf sie zu und setzte sich auf das gesunde Bein, blickte sie schräg an und öffnete den Schnabel: "Nein, du bist *Krahh Kharr* nur benommen. Aber deiner, wie hieß das noch gleich, *Khaarrr*, deiner Datenverarbeitungsmatrix, oder wie auch immer ihr die Ansammlung von *krahh* Synapsen nennt, geht es gut." Sie blinzelte den Vogel an und versuchte zu begreifen, was vor sich ging.
Er sah aus, wie ein ganz normaler Vogel. Er bewegte sich, blickte um sich, ja sogar schiss, wie ein ganz normaler Vogel. Aber ihr war unmissverständlich klar, dass es sich nicht um einen ganz normalen Vogel handeln konnte. "Wer...", brachte sie unter einigen Mühen hervor, doch das Tier unterbrach sie. "Oh, tut mir leid, natürlich, der Anstand *krah*, der geht mir in dieser Welt immer als erstes flöten, muss an den ganzen Würmern und dem Aas liegen. Ich bin Huginn. Sicher hast du schon von mir gehört", wenn Raben Stolz und Würde ausstrahlen können, dann schwebte Huginn gerade in großer Not in eben darin zu ertrinken. Sie hingegen schüttelte nur leicht und entschuldigend den Kopf. Der Rabe lies den Kopf hängen : "Die Welt der Affen ist eben auch nicht mehr das, was sie einst war."
Einige Minuten später hatte sie sich wieder etwas erholt, auch das Bein schmerzte nicht mehr so stark. Der Vogel verstörte sie dennoch. Er sprach offenbar mit ihr, er öffnete den Schnabel und dann hörte sie irgendwo in ihrem Kopf eine Stimme, ohne aber, dass dabei Schallwellen bemüht werden mussten. Noch viel verstörender waren die merkwürdigen Geschichten, die er ihr erzählte, wohl um sie aufzumuntern oder sich zu erklären. Was auch immer er versuchte, es fruchtete nicht wirklich. "Und dann kam die Zeit *kahh*, als meiner, also unserer, also Muninns und mein Herr, also der Herr, nun, er entschloss sich, in den Ruhestand zu gehen. Er, der Allvater! Man stelle es sich nur vor. Schickt immer noch regelmäßig Postkarten aus Cancun, Hawaii, Bali oder Kamtschatka. Immer am Strand, immer mit einem Barmädchen in Bikini, außer in Kamtschatka, da trugen die Bardamen Pelz, vermutlich wegen den Minusgraden. Es ist aber seitdem einfach nicht mehr das gleiche. *trauriges Krahh*" Der Vogel blickte sie herausfordernd an, doch sie konnte nur mit den Schultern zucken und verzweifelt humorvoll erwidern: "So ist das halt im Management, oder?" Huginn schnaubte durch die Nase, ja tatsächlich, in ihrem Kopf konnte sie ihn schnauben hören. "Ja, das Management. Aber was soll man da als anthropomorphe Personifizierung machen? Mein Bruder Muninn lässt sich ja nie etwas einfallen. Vergessen kann er nichts, ist aber so kreativ wie ein Schachbrett ohne Figuren. Ich war im Denken schon immer der Bessere von uns beiden. Also zogen wir los und suchten uns einen Job für die Zeit zwischen...naja, zwischen jetzt und dem Ragnarok. Da fällt mir ein" er unterbrach seinen Redeschwall und pickte irgendein Insekt zwischen zwei Kieseln auf und schlang es gierig hinunter "mir fällt ein, wir sollten vielleicht zu meiner neuen Herrin. Du solltest sie treffen. Mit dem Bein kommst du sowieso nicht mehr lebend den Hügel hinab, nicht wahr *khahahaharrharr*."
Ihre Erinnerungen an die letzte Stunde der Nachtwanderung war lückenhaft, ihre Gedanken gingen kreuz und quer, lose Enden wurden von dem kalten und eisigen Wind weggeblasen. Es fiel ihr schwer zu sehen, schwarze Flecken waberten durch ihr Blickfeld das von heißem, cortisolgeschwängertem Rot eingefärbt war. Dennoch, trotz ihres gefühlt nahenden Todes konnte sie die Hütte, die sich an den Hang des Berges schmiegte, wie eine Katze an einen warmen Ofen, klar sehen. Sie schien realer als der Rest des ganzen Universums, leuchtete im Dunkeln unter dem sternenklaren Himmel, zog das Licht des Mondes an. In den kleinen, schmutzigen Fenstern konnte man hinter den dicken, tief hängenden, dunklen Gardinen flackerndes Licht sehen. Der Rabe saß auf ihrer linken Schulter und quasselte vor sich hin. Unter ihrer rechten klemmte ein dicker Stock, auf den Huginn sie hingewiesen hatte und den sie als Krücke verwendete. "Du wirst die Herrin mögen. Ihr seid euch ehrlich gesagt recht ähnlich. Sie klettert auch viel, aber sie stürzt sich nicht so halsbrecherisch steile, steinige Hänge hinunter. Sehr vernünftig finde ich." "Ich habe mich nicht hinuntergestürzt. Du hast mich erschreckt und ich bin gefallen", erwiderte sie, doch der Vogel schenkte ihren Worten keine Beachtung. Er begann sie langsam aber sicher zu entnerven.
Vor der Eingangstür aus altem, schweren Eichenholz blieb sie zögernd stehen. Sie fürchtete sich nicht, nach allem was ihr in den letzten zwei Stunden widerfahren war konnte sie nichts wirklich überraschen. Dennoch, die Beschaffenheit der Tür, der Hütte, des ganzen Ortes, alles wirkte zu real. Zu sagen, das nur Etwas nicht richtig erschien, war weit untertrieben. Der Rabe betrachtete sie neugierig und mit einiger Verwunderung von ihrer Schulter aus. Seine Krallen müssten eigentlich schmerzen, so tief wie er sie in ihr Fleisch grub, doch sie spürte nur sein Gewicht, sonst nichts. "Willst du nicht anklopfen oder so? Oder dich verbeugen, vielleicht? Ich bin in menschlichen Verhaltensweisen nicht so bewandert, aber irgendwas solltest du schon tun." Sie antwortete ihm versucht scherzhaft: "Mit wessen Verhaltensweisen bist du denn besser vertraut? Der von Dohlen?"
Sie hatte bereits die Hand zur Tür hin ausgestreckt, als diese, noch bevor sie sich bemerkbar machen konnte, geöffnet wurde. Licht flutete ihr entgegen, erhellte die dunkle Nacht um sie herum. Sie blinzelte, versuchte sich an die Helligkeit zu gewöhnen und konnte nur schemenhaft die Figur erkennen, die ihr geöffnet hatte. Sie war groß, geradezu übermenschlich, passte aber erstaunlicher Weise ungehindert in den Türrahmen. Langsam konnte sie Konturen erkennen. Es war eine Frau. Zierlich und schlank, dennoch kräftig und muskulös, kerzengerade und dennoch bucklig. Sie trug einen weiten, goldenen Pelz auf ihren Schultern und ein langes, einfach fallendes Kleid. Als sie sich schließlich an das Licht gewöhnt hatte, das nicht, wie es logisch gewesen wäre, aus dem Haus, sondern von der Frau ausging, konnte sie sie in Gänze sehen. Sie hatte lange, schwarze Haare, die ihr in leichten Locken über die Schultern fielen. Ihr Gesicht wirkte hart, kantig, streng und ernst, aber dennoch auf magische Weise schön.