Als der Wecker piepst, ist Nora wie gerädert. Sie hätte gestern Nacht früher ins Bett gehen sollen, dabei konnte sie doch nicht ahnen, dass sie erst so spät einschlafen würde. Die Gedanken an die Zukunft wollten am Vorabend einfach nicht verschwinden, und je mehr Nora über sich und ihre Situation nachdachte, desto später wurde es, und desto wacher wurde sie. Dann, um etwa vier Uhr, hatte das Traummännlein endlich auch an sie gedacht, und sie verschwand in ihre eigene Traumwelt.
Im Halbschlaf schaltet Nora ihren Wecker mit einem geschickten Handgriff ab. Danach dreht sie sich im Bett um und kehrt zurück zu ihrem Traum. Erst eine halbe Stunde später realisiert Nora, dass sie verschlafen hat. Sie verlässt sofort ihr Bett und rennt hektisch, mit der Zahnbürste im Mund, im Zimmer auf und ab und stopft dabei die letzten Gegenstände in die blaue Reisetasche, in der nicht mehr viel Platz ist. Danach schlüpft sie in ihre Lieblingskleidungsstücke und versucht sich krampfhaft daran zu erinnern, was sie vergessen haben könnte.
Während sie die Reisetasche vom Boden aufhebt und Richtung Haustor geht, erinnert Nora sich, mit einem sentimentalen Gefühl in der Magengegend, an jenen Tag zurück, an dem sie das blaue Gepäckstück bekommen hatte. Ihr Partner hatte Nora diese Tasche gemeinsam mit zwei Flugtickets nach Lille, ihrer Lieblingsdestination, geschenkt.
Nora wird wieder wütend und traurig zugleich, denn auf der einen Seite erinnert sie sich an diese eine liebevolle Geste ihres damaligen Geliebten, und auf der anderen Seite fällt ihr wieder ein, dass sie eine lange Reise macht, von der sie nicht so bald zurückkommen wird. Sie malt sich aus, was passierte, würde sie ihr Leben weiterhin an diesem Ort verbringen.
Abschiednehmen war für Nora nie leicht gewesen, doch hier in diesem trauten Heim, ihrem „Nest“, wie sie es immer bezeichnet hat, da hat sie ihr ganzes Leben lang gelebt. Dennoch weiß sie, dass es nicht möglich war, hier zu bleiben.
Nora blickt auf die Uhr und fragt sich, ob es sich noch ausgeht, ein Weckerl, für ein Frühstück, beim Bäcker zu kaufen, bevor sie die lange Reise antritt. Doch sie beschließt aufgrund der fortgeschrittenen Zeit, darauf zu verzichten und gleich die Gasteiner Straße hinauf Richtung Bahnhofshalle zu gehen. Schwermütig macht sie einen Schritt nach dem anderen, auf ihrem Rücken lastet ihr schwerer Tramperrucksack. Und der Riemen der Reisetasche, die sie überkreuz um die Schulter gehängt hat, schnürt ihr das Blut ab.
Nora versucht an nichts zu denken, was aber nicht so leicht funktioniert. Wieder fallen ihr Szenarien der letzten Zeit ein und versinkt dabei in Selbstmitleid, Wut und Mitgefühl. Tränen rinnen über ihr Gesicht und sie versucht mit der freien Hand ein Taschentuch zu suchen, doch sie findet keines. Nora sieht im Horizont Menschen auf sie zukommen und ihre Gefühlsausbrüche sind ihr ihnen gegenüber äußerst peinlich. Aus diesem Grund schluckt sie die Tränen hinunter, wischt sich das Gesicht mit dem Ärmel ab, richtet sich auf und geht mit raschem Schritt weiter Richtung Bahnhofshalle.
Wenige Meter weiter hält ein junger Taxifahrer an, flirtet mit Nora und fragt sie, ob er sie nicht ein Stückchen mitnehmen könne. Nora fühlt sich bedrängt und kann Kerle nicht ausstehen, die einfach wildfremde Personen anbaggern. Als sie seine Frage verneint, verzieht der Taxler das Gesicht, kurbelt das Fenster wieder hoch und fährt los, ohne noch ein Wort zu sagen.
Der Weg in die Bahnhofshalle ist, wenn man bedenkt, dass Nora zwei unhandliche Taschen mit Gepäck trägt, sehr beschwerlich. Nora kann es kaum erwarten, bis sie das Gebäude am Ende der Straße erblickt, und noch mehr freut sie sich, als sie merkt, dass nur mehr wenige Leute auf dem Bahnsteig warten. Woran das genau liegt, ist ihr nicht klar, vielleicht an der Zeit, denkt sie bei sich, denn ein Blick auf die Uhr verrät ihr, dass es eigentlich zu spät ist, um in die Arbeit zu fahren und zu früh, um eine Reise anzutreten.
Nora schaut sich um und findet den blauen Monitor, auf dem alle wichtigen Informationen zu sehen sind. Pünktlich um neun Uhr zwanzig sollte ihr Zug Richtung Salzburg Hauptbahnhof auf Gleis eins eintreffen. Zufrieden, dass sie die Reise ohne Verspätung beginnen kann, aber auch mit Zweifeln, ob sie das Richtige getan hat und ob ihre Reise wirklich so klug ist, kauft sie sich einen Fahrschein.
Eine Viertelstunde später sucht Nora einen freien, nicht reservierten Sitzplatz in einem Abteil, findet ihn schließlich, verstaut Tramperrucksack und Reisetasche und beobachtet die anderen Reisenden um sich herum. Der Blick streift die eindrucksvollen, aber auch sehr vertrauten Berge draußen und Nora denkt wieder an frühere Zeiten. Bereits mit fünf Jahren hatte sie einige Gipfel dieses Gebirges erklommen. Der Anblick gibt Nora einen Stich in der Seele, sie bekommt richtiges Heimweh.
Wehmütig blickt Nora in die Gesichter der anderen Mitreisenden. Sie ist umgeben von Leuten, die unterschiedlicher nicht sein können. Eine Mutter erzählt ihrem Kind, welches sie auf ihrem Schoß sitzen hat, eine Geschichte in einer Sprache, die für Nora völlig fremd ist. Währenddessen verspeist eine Frau mittleren Alters mit knall pinken Haaren das Frühstück. Während der Zug eine Kurve macht, verschüttet sie aus Versehen den Kaffee in ihrer Hand. Nachdem die dampfende Brühe ihre Finger berühren, flucht sie laut und versucht dabei etwas ungeschickt, mit ihrer zweiten Hand, in der sie allerdings schon ein Kipferl hält, eine Serviette aus der Hosentasche zu angeln. Der Versuch misslingt ihr, denn nach kurzem Ziehen am Eck des Tuches stößt sie den Becher ganz um. Nach einem Spitzenschrei der Frau sehen sie alle in dem Abteil an, die Mutter versucht dem Kind die Ohren zuhalten, damit es ihre vielen Schimpfwörter nicht hört, und der Mann, visavis sitzend, verzieht seine Mundwinkel nach oben und versucht, nicht schadenfroh zu lachen. Anschließend widmet er sich wieder seinem Sudoku.
Während Nora hinaus in die Natur schaut, kitzeln sie die Sonnenstrahlen und ihre Lider werden sehr schwer. Sie lässt die Gedanken Gedanken sein und kämpft nicht gegen ihre Müdigkeit und die zufallenden Augen an. Irgendwann bemerkt sie ein leichtes Zupfen an ihrem T-Shirt. Als sie wieder in der Gegenwart angekommen ist, merkt sie, dass ein älterer Herr in Uniform sie wartend anstarrt und mit einer tiefen Stimme „Guten Morgen die Dame, den Fahrschein bitte,“ brummt. Nachdem Nora ihre Fahrkarte hergezeigt hat und der Schaffner zum nächsten Abteil gegangen ist, döst sie noch einmal ein.
In Salzburg angekommen, kauft Nora eine Zeitung und Reiseproviant, bevor sie den Bahnsteig für den Anschlusszug nach Wien-Westbahnhof sucht. Es scheint reger Reiseverkehr zu sein, denn viele Menschen suchen nach dem richtigen Bahnsteig. Da Nora es nicht gewohnt ist, dass so viele Menschen um sie herum sind, hat sie Budenangst und überlegt, wie das wohl in Wien sein wird, wo jeden Tag Massen von Menschen umhergehen.
Nora muss lange auf den Zug warten, der von irgendwo, wahrscheinlich aus Deutschland, kommt. Es ist ein schöner, weißer Zug, doch Nora wird bewusst, dass Äußerlichkeiten nichts über die Reisebequemlichkeit aussagen. Als sie nämlich den Zug betritt, muss sie feststellen, dass viele Sitze bereits vergeben oder reserviert sind. Nora rennt von der Ersten Klasse nach vorne zum Speisewagen, weiter zu den Zweite Klasse Waggons in der Hoffnung, irgendwo einen freien Platz zu ergattern. Nach langem Hin- und Herspazieren hat Nora doch noch ein Abteil gefunden, in dem sie sitzen kann. Zwar muss sie jetzt nicht bis Wien stehen, doch den optimalsten Fahrkomfort bietet ihr dieser Platz nicht. Nora muss ihre Tasche in den Gang stellen, denn die anderen Reisenden haben bereits die Ablagen für ihr Reisegepäck aufgebraucht. Nora beobachtet die Leute, die später zusteigen oder im Gang hin und her gehen. Immer wieder drohen die Fahrgäste über ihr Gepäck zu stolpern und müssen versuchen, ihm auszuweichen.
Auf der Fahrt nach Wien gehen Nora viele Gedanken durch den Kopf. In ein paar Stunden wird sie ihre ältere Cousine Karin wieder treffen und bei ihr eine Weile wohnen. Doch wie wird sie sich mit ihr verstehen nach all den Jahren, die sie sich nicht mehr gesehen haben?
Nora hat in den letzten Tagen sehr oft an Karin und die gemeinsamen Stunden in ihrer Jugendzeit gedacht. Die beiden waren zwar nie die innigsten Freunde, trotzdem haben sie gemeinsam viele schöne Tage verbracht. Dass der Kontakt zueinander abgebrochen ist, liegt nicht daran, dass die beiden sich zerstritten haben oder im Schlechten auseinandergegangen sind, sondern ausschlaggebend dafür ist eher die große räumliche Distanz zwischen den beiden. Dazu kommt, dass Familientreffen in ihrer Verwandtschaft eher unüblich sind.
Anfangs, das heißt bis vor sechs Jahren, hielten die beiden eine Brieffreundschaft aufrecht. Hier im geschützten Rahmen, das heißt fernab der jeweils anderen, schrieben sie sich den neuesten Klatsch oder erfuhren von den Sorgen der jeweils anderen. Allerdings war es eher Noras Mutter, die ihre Tochter dazu ermutigte ihrer Cousine zu schreiben. Zuerst wollte Nora ihre Mutter nicht enttäuschen, doch dann, irgendwann, war die Freundschaft eingeschlafen. Andere Geschehnisse sind in dieser Zeit wichtiger geworden und Karins Welt, die sich weit weg von Noras Heimat abspielte, schien distanzierter zu sein denn je.
Vor ein paar Wochen war Nora nach einer durchzechten Nacht mit zu viel Alkohol im Blut aufgewacht und hatte sich sehr einsam gefühlt. Sie durchforstete im Kopf ihre Freundesliste und fragte sich, wen sie zu sich in das große, menschenleere Haus, das sie ihr Zuhause nannte, einladen könnte. Noras Partner war auf Dienstreise, den konnte sie nicht fragen, und sonst hatte sich in den letzten Jahren ihr eigener Freundeskreis ziemlich reduziert. Während sie überlegte, wer denn infrage für einen Blitzbesuch käme, fiel ihr plötzlich ihre Cousine Karin wieder ein. An diesem Tag sah sie sich alte Fotoalben an und ließ die Zeit damals Revue passieren. Es war ein sehr sentimentaler Nachmittag und Nora hatte auf einmal große Sehnsucht, ihre Cousine wieder einmal zu sprechen, um zu wissen, wie es ihr in all den Jahren ergangen war.
Nora nahm ein langes, erfrischendes Bad, ehe sie in ihrem Handy nach Karins Nummer suchte. Sie brauchte einige Versuche, ehe sie die Richtige fand, obwohl Nora nicht besonders viele Nummern gespeichert hatte. Nora strich mit ihrem Finger über das Display und drückte auf die grüne Taste. Sie wartete ab, und es dauerte keine paar Sekunden, bis ein unerfreulicher Ton und eine freundliche Stimme ihr zu erkennen gaben, dass es keinen Anschluss unter dieser Nummer gäbe.
Nora überlegte, wie sie nun zu der neuen Telefonnummer ihrer Cousine kommen könnet. Daher gab sie Karins Vor- und Nachnamen in die Internetsuchmaschine ein und erhoffte sich ein paar Eckdaten über sie. Doch obwohl das World Wide Web in vielen Fällen eine gute Informationsquelle ist, hatte es in diesem Fall keine Antwort parat.
Nora hatte sich erhofft, auf schnellem Wege die Telefonnummer ihrer Cousine zu finden, doch da dies nicht möglich war, musste sie schwerere Geschütze auffahren. Das bedeutete, dass sie in ihrem Haus das Telefonbuch ihrer Mutter ausfindig machen musste. Es war keine leichte Aufgabe, im Chaos nach dem einen, in schwarzes Leder gebundene Buch zu suchen. Und es erforderte noch ein Glas Rotwein, ehe sie sich daran machte, in all den Schränken herumzustöbern. Nora wurde bewusst, dass sie viel zu viele alte Schränke hatte, die sie nie und nimmer für sich und ihre Partner benutzen konnte.
Es hatte zwar einige Nerven gekostet, doch Nora wurde fündig. Es gab eine Einladung zu Karins Hochzeit, auf der stand, dass sie neben einem Ehemann auch eine neue Handynummer hatte. Außerdem war ein Hochzeitsfoto beigefügt. Karin stand an einem Strand in einem weißen Kleid und lächelte stolz einen Mann mit Anzug an. Nora bekam beinahe Tränen in den Augen, als sie den Text las, der auf dem Foto geschrieben stand. Es war ein Liebesbeweis und gleichzeitig ein Dankeschön an all die Gäste, die gekommen waren oder die ihnen Geschenke gebracht hatten. Nora betrachtete noch einmal das Bild und fand den Mann im Smoking, der Karin im Arm hielt, sehr hübsch, wenn auch ein wenig streng. Nora erinnerte sich daran, dass ihre Mutter einmal erwähnt hatte, dass ihre Cousine heiraten würde, doch zu dieser Zeit waren andere Dinge sehr wichtig für Nora, auch wenn sie nicht mehr genau wusste, was es war. Auf jeden Fall war sie damals nicht zu der Trauung gekommen.
Nora freute sich über die Handynummer und wollte sofort anrufen. Doch dann schob sie es etwas hinaus, denn zuerst läutete es an der Tür, und Nora musste dem Lieferanten öffnen, der ihr ein Paket brachte.
Doch ihre Neugierde war trotz ein wenig Angst so stark, dass sie, nachdem sie das Paket geöffnet und in Sicherheit gebracht hatte, den Hörer zur Hand nahm und die neue Telefonnummer wählte. Sie wartete und ihr Herz raste, als sie an Karin und das Gespräch dachte. Sie überlegte, was wohl wäre, wenn Karin böse auf sie ist, weil sie sich so lange nicht mehr gemeldet hat.
Nora ließ es ein paar Mal läuten, und kurz bevor sie auflegen wollte, meldete sich Karin. Langsam nannte sie ihren Vornamen. Noras Stimme war vor lauter Aufregung sehr piepsig, so wie sie oft wird, wenn sie nervös ist. Einen kurzen Moment wurde es still und Nora merkte, dass Karin kurz nachdachte, wer wohl am anderen Ende der Leitung sei. Daher räusperte sich Nora und sagte noch einmal vorsichtig, aber ein bisschen selbstsicherer, dass sie ihre Cousine Nora aus Salzburg sei. Da wurde Karins Stimme freundlich, und sie erweckte den Eindruck, als wäre sie über den Anruf erfreut. Sie erklärte, dass sie gerade unterwegs zu einem wichtigen Termin war, dass sie aber zurückrufen würde, sobald sie wieder mehr Zeit zum Telefonieren hätte.
Nachdem beide aufgelegt hatten, fiel Nora ein Stein von Herzen, und sie beschloss, in die Stadt zu gehen und sich mit einem Eis zu belohnen, solange es draußen noch warm und hell war. Sie ging die Straße entlang zu ihrem Lieblingscafé, welches das beste Eis der Stadt verkaufte. Während sie überlegte, welche Sorte sie bestellen sollte, beobachtete sie zwei Personen, die sie von früher kannte. Nora hätte sich gerne dazu gestellt und mit ihnen geplaudert, doch sie ahnte, dass sie bei ihnen nicht willkommen wäre. Sie spürte die Blicke im Nacken und wusste genau, worüber die beiden redeten. Noras Stolz war verletzt, sie hatte den beiden nie etwas getan, und genau das ist der springende Punkt. Wieso wurde sie in der Stadt so gemieden?
Nora hatte auf einmal keinen Appetit mehr auf Eis. Daher drehte sie um und blieb erst bei der Bäckerei stehen, um Brot zu kaufen, welches sie für ihr Abendessen brauchte. Der Bäcker und seine Frau waren zwei Personen, die von Klatsch und Tratsch nicht viel hielten und generell nicht auf das hörten, was Leute ihnen sagten. Das bewirkte, dass die Leute in der Stadt ihn entweder liebten oder hassten. Die einen ignorierten ihn total, die anderen nannten die Bäckerei ihr Stammlokal.
Nora orderte ein Schwarzbrot und ging damit nach Hause. Sie steckte gerade den Schlüssel in das Schlüsselloch, als das Handy vibrierte. Anhand der Nummer erkannte Nora, dass Karin am anderen Ende der Leitung war.
Karin schien erwachsener zu sein als früher. Ihre Stimme war vergnügt und strahlte eine gewisse Ruhe aus. Auf Noras Frage, wie es ihr ginge, erzählte sie voller Stolz von ihren Lebensumständen. Sie hatte eine große Eigentumswohnung am Stadtrand und wohnte dort mit ihrem Sohn Max, der gerade sieben Jahre alt war. Nach der großen Hochzeit hatte sie drei Jahre mit ihrem Mann zusammengelebt, ließ sich aber von ihm scheiden und hatte nun endlich nach längerer Zeit wieder einen neuen Partner, Erwin. Er schien laut Karin ein liebevoller, geduldiger und angenehmer Zeitgenosse zu sein. Lange pendelten die beiden zwischen zwei Wohnungen, bis sie jetzt endlich zu dritt in Karins Wohnung zusammenleben.
Für einen kurzen Moment bereute es Nora, ihre Cousine angerufen zu haben. Sie hatte ein glückliches Leben, und was hatte Nora? Vor lauter Selbstmitleid überhörte sie Karins letzte Worte. Diese wollte von ihr wissen, wie es ihr denn in all den Jahren gegangen war. Nora dachte nach und ärgerte sich, warum sie vorher nicht daran gedacht sich ein paar Sachen zurechtgelegt hatte. Sie wollte ihr nicht ihr „erbärmliches“ Leben, wie sie es bezeichnete, beschreiben. Nora erzählte nur das Wichtigste und erwähnte viele Dinge nicht, die sie in Wahrheit endlich gerne ausgesprochen hätte.
Nach dem Telefonat fühlte Nora sich nicht wirklich besser. Sie legte sich ins Bett und versuchte, ihren Kummer wegzuschlafen, ganz nach dem Motto: „Morgen sieht die Welt wieder anders aus“. Das Einschlafen war jedoch sehr mühsam, denn sie musste die ganze Zeit an die Einsamkeit denken, die sie in letzter Zeit erfahren hatte. Bis um zwei Uhr wälzte sich Nora von einer Seite auf die andere und konnte ihre Gedanken nicht verdrängen. Doch nachdem sie noch einmal aufgestanden war und sich etwas zu trinken geholt hatte, war es ihr dann doch noch möglich durchzuschlafen.
Am nächsten Tag sah die Welt jedoch kein bisschen anders aus. Nora fühlte sich wie gerädert. Sie versuchte ihre Gedanken mit Fernsehen zu verdrängen, doch das funktionierte nicht. Zu ihrer Einsamkeit kam noch sehr viel Neid dazu. Eifersucht auf ihre Cousine und all die Menschen, die glücklich mit ihrem Leben waren. Nora sehnte sich danach, mit jemandem über ihr Leben zu reden, und so erwischte sie sich plötzlich dabei, wie sie ihr Handy, das sie neben sich zum Aufladen gelegt hatte, in die Hand nahm und die Nummer von Karin eintippte.
Nora war wie ferngesteuert, als ihre Cousine abhob. Karin hingegen kapierte schnell, dass es bei dem Gespräch um mehr ging als nur um „Hallo, wie geht’s“. Sie erkannte bald, dass ihre Hilfe und ihr Mitgefühl gefragt waren und dass sie bald Einblick in etwas Wichtiges von Nora bekam. Ihre Cousine schüttete ihr Herz aus und erzählte von ihrem Leidensdruck. Sie erzählte ihre Geschichte, als wäre es ein wichtiger Schatz, den eigentlich niemand sehen durfte, aber den Karin soeben gefunden hatte.
Nora fühlte anfangs überhaupt nichts, doch nach und nach kamen ambivalente Gefühle. Fragen wie „Warum hab ich das nur gesagt?“, „Was könnte sie nun von mir denken?“, und viele mehr überhäuften sie. Trotzdem wollte sie nicht aufhören zu erzählen, und die Sätze schossen einfach so aus ihr heraus. Der innere Druck legte sich ein wenig, denn Nora merkte, wie liebevoll und geduldig Karin zuhörte, auch wenn sie ein wenig unbeholfen wirkte.
Die Cousinen telefonierten schon eine Weile, bis Karin plötzlich vorschlug, dass Nora einige Zeit bei ihr verbringen könnte. Vielleicht fände sie auch etwas Gutes an Wien und würde sich entschließen, einmal dort zu wohnen. Doch Nora blockte ab und sagte, sie müsse nun dringend auflegen.
Natürlich hatte Karin nicht damit gerechnet, sofort eine freudige Antwort zu bekommen. Trotzdem hatte sie gehofft, Nora einen Denkanstoß zu geben und ihr somit ein besseres Leben anzubieten. Auch wenn es im ersten Moment nicht so wirkte, das hatte sie. Kurze Zeit später läutete das Handy erneut und Nora nahm das Angebot an, eine Zeit nach Wien zu kommen.
Schon bald räumte Nora schweren Herzens ihre Reiseutensilien, Gewand und all ihre geliebten Alltagsgegenstände in Reisetasche und Tramperrucksack, während sie sie im nächsten Moment, wankelmütig, wieder auspackte. Ihre Gefühle gegenüber der Reise waren äußerst zwiegespalten. Noch konnte sie sich nicht vorstellen, dass sie am nächsten Morgen ihr Gepäck nehmen und die Stadt verlassen würde. Sie beschloss, die Nacht noch darüber zu schlafen und dann zu entscheiden. Trotz der Unentschlossenheit, checkte sie noch, wann der Zug am nächsten Morgen fahren würde.
Nora ist in Gedanken versunken und schaut ins Leere. Ihr fällt gar nicht auf, dass sie den Mann, der ihr gegenübersitzt und dem Geruch nach eine „Fahne“ haben muss, anstarrt. Er ist sichtbar irritiert und bei der nächsten Gelegenheit setzt er sich auf einen anderen freien Platz. Nora fallen immer wieder die Augen zu und in ihrem Kopf hämmert es. Erst in Linz nimmt sie eine Kopfwehtablette und bestellt sich beim Boardservice frischen Kaffee. Die weitere Fahrt verläuft ohne große Aufregung, Nora steckt sich die Kopfhörer ins Ohr und hört ihre Lieblingsmusik, die sie beruhigt. Sie erinnert sich an früher, als sie in den Sommerferien mit dem Zug nach Wien gefahren ist. Damals war es aufregend, so ganz allein eine so lange Reise anzutreten. Es war der erste große Schritt in die Selbstständigkeit.
Bei der Station Purkersdorf-Gablitz, einem Ort direkt vor Wien, wird Nora sehr aufgeregt und richtet alles zusammen. Jetzt kann es nicht mehr lange dauern, denkt sie und zehn Minuten später hört sie auch schon die Durchsage: „Nächster Halt Wien Westbahnhof.“ Hellwach, packt sie die Kekse, von denen sie auf der Fahrt genascht und nun auf dem Schoß liegen hat, in den Tramperrucksack, zieht ihren Pullover über und geht langsam Richtung Tür. „Jetzt ist es also so weit“, denkt sich Nora, denn in wenigen Minuten würde sie am Bahnhof ankommen und dort ihre Cousine nach Jahren wiedersehen. Sie würde den Sohn Max, den Lebensgefährten Erwin kennenlernen und sich für längere Zeit in deren gemeinsame Wohnung einquartieren. Nora hat ein schlechtes Gewissen und weiß nicht genau, wie sie den anderen begegnen soll. Außerdem hat sie Angst vor der Großstadt und den neuen Gegebenheiten.
Wie im Vorhinein ausgemacht, warten Karin und ihr Sohn am Bahnsteig. Max läuft hin und her und verjagt die Tauben, was ihm sichtlich Spaß macht. Karin und Nora küssen sich auf die Wange. Eine gewisse Schüchternheit ist ausschlaggebend dafür, dass sie nicht recht weiß, was sie mit ihrer Cousine, die sie ja so lange Zeit nicht gesehen hat, plaudern soll. Doch das Eis ist bald gebrochen, vor allem weil Max seine Mutter auf Trab hält. Karin blüht in der Mutterrolle völlig auf und beginnt auf einmal nebenbei zu reden. Sie spricht mit Nora und schimpft nebenbei mit ihrem Sohn, bis sie beim Auto sind und das Gepäck im Kofferraum verstaut haben. Während Max hinten auf der Rückbank mit dem Spielzeug spielt, welches seine Mutter dort für ihn in einem Rucksack für die Fahrt aufbewahrt, reden die beiden Erwachsenen über frühere Zeiten.
Um Noras Mutter zu entlasten und den Kindern eine Abwechslung zu bieten, wurde Nora früher in den Sommerferien nach Wien zu ihrer Tante und Cousine geschickt. Obwohl Nora und Karin sich äußerlich zum Verwechseln ähnlich sahen, glichen sich die beiden innerlich kaum. Karin war äußerst korrekt und sehr ordentlich. Nora hingegen liebte das Abenteuer, war chaotisch, kreativ und lebte von einem Tag auf den anderen. Wenn Nora an die Zeit zurückdenkt, wird sie ein bisschen melancholisch, denn all die Eigenschaften, die sie früher ausmachten, sind nur mehr sehr schwach vorhanden. Heute ist sie unsicher, verbringt die meiste Zeit zu Hause, vor allem vor dem Fernseher und trinkt am liebsten allein Rotwein.
An den Gedanken, weit weg von ihrer Mutter, der Natur, ihren Freunden und der Heimat zu sein, musste sich die jugendliche, Abenteuer liebende Nora anfangs erst gewöhnen. In dieser Zeit fühlte sie sich sehr einsam, und nicht selten saß sie unglücklich im Gästebett und wollte mit keinem reden. Karin konnte ihr nur schwer eine Stütze sein, denn aufgrund der Verschiedenartigkeit, wie die beiden ihr Leben gelebt hatten, kam es zu Missverständnissen und Vorurteilen. Nora konnte sich nicht vorstellen, dass es für einen Teenager lustig ist, in den Ferien allein zu Hause zu sitzen und sich mit Lesen oder Lernen zu beschäftigt, wie ihre Cousine es oft tat. Da Nora es gewohnt war, sich im Sommer im Freien aufzuhalten und dort gemeinsam mit ihren Freundinnen herumzutollen, war es für sie schwer einzusehen, warum sie ihren Urlaub im Haus verbringen sollte. Trotz ihres Unglücklichseins vertraute sie sich niemandem an, und die Tante musste selbst die Ursache für das ungewöhnlich traurige Verhalten ihrer Nichte herausfinden. Erst als sie den Grund, der für den Rückzug ausschlaggebend war, erkannte, begann sie gemeinsame Ausflüge zu organisieren in der Hoffnung, dass ein geplantes Abenteuer Nora gut tun würde. Ab diesem Zeitpunkt wurden die Ferien lebenswert, und nicht nur Nora profitierte vom Tapetenwechsel. Trotz der vielen Aktivitäten und den vielen gemeinsamen lustigen Stunden war zwischen den Mädchen immer eine gewisse Distanz da.
Bevor Nora noch in die Wohnung eintritt, sieht sie in der Tür, wie ordentlich der Vorraum aufgeräumt ist. Nora ist ein wenig verlegen, wenn sie daran denkt, wie chaotisch ihr Vorzimmer daheim ist. Es ist ihr allerdings ein Anliegen, nicht unangenehm aufzufallen, weshalb sie auf der Türmatte sorgfältig ihre Füße abstreift und dann in die Wohnung eintritt.
Nachdem sie die Schuhe auf die Ablage gestellt hat, nimmt sie die Hauspatschen entgegen und merkt, wie kuschelig warm sie sind. Als sie sich wieder aufrichtet, sieht sie einen Mann, der etwa in Karins Alter ist. Leider ist ihr in dem Moment sein Name entfallen. Freundlich begrüßt der Mann den Gast, und als er die Irritation in Noras Gesicht sieht, stellt er sich noch einmal vor. Nora wird aus Verlegenheit rot, und die Sache wird auch nicht besser, als die beiden sich gegenseitig begutachten. Erwin ist ganz anders, als Nora es sich ausgemalt hatte. Er hat schwarzes, gekämmtes Haar, duftet nach Rasierwasser und ist ordentlich gekleidet. Während Nora noch in Gedanken ist, greift Erwin nach der Tasche und dem Rucksack und streift sie dabei. Mit einem „Pardon, die Dame“ entschuldigt er sich und fordert sie dann mit einer markanten Handbewegung auf, ihm zu folgen.
Karin, die den beiden durch den langen Flur bis zum letzten Zimmer gefolgt ist, schaut Nora zufrieden an und sagt ihr, dass dies, nach frischen Blumen duftend, nun ihr Reich sei. Nora sieht sich im Raum um und muss feststellen, dass es hier genau so aussieht wie in einem Werbekatalog. Alles ist pikobello sauber, die Fenster sind geputzt, der Staub weggesaugt und alles ist aufgeräumt. Während Nora beginnt, ihr Gewand in den steril wirkenden Kasten zu räumen, der obendrein nach frischem Lavendel riecht, verschwinden die Gastgeber aus dem Zimmer und schließen die Tür. Nora lässt sich auf das Bett fallen und merkt, wie weich es ist. Auch das duftet nach frischer Wäsche. Nora hätte noch gern ihre Tasche fertig ausgepackt, doch da klopft jemand an die Türe. Es ist Max, der ausrichtet, dass das Essen angerichtet ist.
Langsam geht Nora den Gang entlang und sucht das Bad, da sie unbedingt noch die Hände waschen möchte. Doch sie kann den richtigen Raum nicht finden, denn alle Türen sehen gleich aus. Leise öffnet sie eine nach der anderen. Wie das Gästezimmer sind die anderen Räume, bis auf das Kinderzimmer, äußerst ordentlich. Max steht in der Küchentüre und starrt sie an. Erst jetzt bemerkt Nora, dass sie beobachtet wird, und es ist ihr äußerst peinlich. Schüchtern fragt sie, wo sie denn Hände waschen könne und Max läuft zu einer Tür, die Nora noch nicht geöffnet hat. Erleichtert geht Nora anschließend in den Essraum, in dem ein reichlich gedeckter Tisch steht.
Erwin hat für die Familie gekocht, es gibt Fisch, Erdäpfel und Fisolen. Da es bei Nora normalerweise immer schnell gehen muss mit dem Kochen, ernährt sie sich meist von Tiefkühlkost, worüber sie selber eigentlich gar nicht so unglücklich ist. Gesunde Speisen, im Besonderen Meerestiere, gibt es bei ihr nicht oft, da ihr das nicht sehr zusagt. Weil sie jedoch merkt, welch großen Hunger sie hat und sie obendrein nicht unhöflich sein möchte, lässt sie sich eine große Portion geben.
Während des Essens stellt Nora fest, dass Erwin, genauso wie Karin, sehr kommunikativ ist. Er ist ein leidenschaftlicher Sänger und unterrichtet, wenn er nicht gerade mit seinem Ensemble auf Tournee ist oder im Theater singt, die Wiener Sängerknaben. Anfangs interessiert sich Nora noch sehr für die Geschichte und die Arbeit von Erwin, doch als er lang und breit ausholt und immer mehr über das Singen redet, hört sie nur noch halbherzig zu. Erwin merkt, dass das Interesse nachlässt, und fragt daher, was sie denn beruflich mache. Nora, die nicht gewohnt ist, Fisch zu essen, passt auf, um keine Gräte zu übersehen oder mitzuessen und vermeidet, mit vollem Mund zu reden. Schließlich antwortet sie, dass sie gelernte Krankenschwester sei. Während Nora, die nicht über ihre Arbeit sprechen will, überlegt, welche Fragen sie nun über sich ergehen lassen müsse, stiehlt Max ihr die Show. Er hat aufgegessen und möchte nicht mehr sitzen bleiben. Es gibt ein Theater, denn Karin möchte, dass er Hausaufgaben macht, doch er bettelt, fernsehen zu dürfen.
Nach dem Essen beginnen die Erwachsenen, den Tisch abzuräumen. Während das Geschirr in den Geschirrspüler wandert, erfährt Nora, dass am Abend im Hof des Hauses ein Grillfest veranstaltet wird, zu dem alle Wohnungseigentümer und deren Familienangehörige eingeladen sind. Karin möchte, dass Nora auch zu diesem Fest geht. Anfangs ziert sich Nora, doch dann willigt sie ein, wenigstens für eine kurze Zeit mit den anderen zu feiern. Karin wird für diese Veranstaltung auch etwas vorbereiten, da jeder Wohnungseigentümer etwas zum Grillen mitbringen soll. Karin hat versprochen, Salat und Soßen beizusteuern. Nora fragt Erwin, ob man in der Gegend irgendwo gemütlich und ungestört spazieren gehen kann, denn sie möchte gern ein bisschen allein sein. Er erklärt Nora den Weg zum Lainzer Tiergarten, der etwa einen halben Kilometer von ihrer Wohnung entfernt liegt. Noras Stimmung hebt sich ein wenig und sie nimmt die Wegbeschreibung an sich, die Erwin ihr umständlich auf ein Blatt Papier gezeichnet hat. Total vergessen, dass es in Wien auch Grünflächen gibt, geht Nora den Weg in Richtung Pforte. Es dauert nicht lang, bis Nora mitten in der Natur im Gras sitzt und die Schuhe auszieht. Vorsichtig berührt sie den Boden mit ihren Füßen, legt sich dann zurück und starrt müde in die Wolken.