Vor zwei Jahren
"Was passiert da drinnen?!"
Es kam keine Antwort mehr, das Funkgerät piepte, aber blieb dann still. Matthias blickte zu dem Fenster hoch, wo jetzt immer mehr Schüsse zu hören waren und konzentrierte sich wieder auf Kate. Er hatte versucht gegenzusteuern und zu verhindern, dass Remy sie benutzte, aber da er keinen Einblick in das Zimmer hatte, konnte er nicht sagen, ob es gelungen war.
"Ich glaube sie kämpfen." Ronnies Stimme zitterte leicht, auch wenn er versuchte es sich nicht anmerken zu lassen. Matthias gedeutete ihm mit einer Handbewegung still zu sein, ließ seinen Geist von Kate zu der nächsten Person gleiten, in der Hoffnung Remy ausfindig zu machen, aber es gelang ihm nicht. Und plötzlich war es still.
"Was ist passiert?!", fauchte er wieder in das Funkgerät. Warum war Remy nicht wieder durch das Fenster nach draußen gekommen? Warum wurde geschossen? Was war bloß geschehen?
"Boss." Endlich meldete Hassan sich. Die Furcht, die sein Herz ergriffen hatte, fiel von ihm ab. "Es gab einen Schusswechsel, alle leben noch. Aber Laurel hat es am Oberschenkel erwischt, ich muss sie verarzten. Remy ist im Gebäude verschwunden." Mit voller Wucht kehrte die Furcht zurück. Im Gebäude verschwunden... Ein Gebäude voller schlafender Kinder. Sofern sie überhaupt noch schliefen, denn bestimmt hatten einige auch die Schüsse gehört oder waren davon aufgewacht.
"Ist Kate da?"
"Hier bin ich." Matthias versuchte die Wut in ihrer Stimme zu überhören.
"Sorge mit den anderen Lehrkräften dafür, dass die Kinder auf den Zimmern bleiben und sich ruhig verhalten. Wir wollen keine Massenpanik."
Es blieb still, bis sich Laurel mit brüchiger Stimme meldete: "Sie ist schon los, hat ziemlich angepisst gewirkt."
Darum konnte er sich jetzt nicht mehr kümmern. Kena Winters lebte noch, das hieß, dass Remy es vielleicht gleich noch einmal versuchen würde. Oder aber er hatte tatsächlich aufgegeben und trat die Flucht an. Denn wahrscheinlich war ihm die ganze Sache jetzt zu heikel. Er schien auch gewusst zu haben, dass sie hier draußen vor dem Fenster hockten, weil er einen anderen Rückweg benutzte.
"Was machen wir jetzt?", fragte Ronnie und unterbrach seine wild durcheinander wirbelnden Gedanken.
"Wir kontaktieren die anderen und schließen uns ihnen an", beschloss er schließlich und stand aus dem Gebüsch auf. "David und Kara sollten mittlerweile sein Fluchtboot entdeckt haben, dort passen wir ihn ab."
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Eine Tür schlug mit einem Knall zu, besorgte und verschreckte Stimmen waren zu hören und Remy konnte gerade noch in einen im Schatten liegenden Gang schlüpfen, als auch schon eine Person im Morgenmantel vorbei rannte. Eine zweite folgte. Er könnte hier mit Leichtigkeit ein paar Kinder als Geiseln nehmen. Aber so weit war er noch nicht gesunken. Außerdem würde das zu viel Aufmerksamkeit auf ihn lenken und ihm nur hinderlich sein.
Der Gang war wieder frei und schnell setzte er seinen Weg fort. Mit jedem Schritt, den er tat, baute sich der neue Plan immer mehr vor seinem geistigen Auge auf. Das was vorhin passiert war, das hatte für einige Komplikationen gesorgt. Nicht nur, war es ihm nicht gelungen Kena zu töten, sie hatten auch noch versucht ihm eine Falle zu stellen. Sie hatten - mit Kate McClatten mit einberechnet - zu dritt agiert, aber er war sich ziemlich sicher, dass da draußen auf der Insel noch mehr lauerten.
Dass sie Ratsmitglieder waren, das war ihm nur allzu deutlich ins Auge gesprungen. Die schwarze Schutzkleidung, die Waffen, die allseits verhassten Handschellen und nicht zuletzt das Funkgerät, welches sie mit ihrem Team verband. Eine hatte er zumindest verletzen und damit bewegungsunfähig machen müssen. Nur wusste er leider nicht wie viele von ihnen noch da waren und wo sie sich befanden. Weniger als drei würden es nicht sein, nicht wenn sie über ihn bescheid wussten. Er konnte sich nicht mehr so genau daran erinnern wie der Rat ihm überhaupt auf die Spur gekommen war. Sie würden da schon ihre Mittel und Wege haben.
Erneut ertönten Schritte vor ihm und diesmal konnte er nicht rechtzeitig in einen Seitengang huschen. Ein rothaariges Mädchen kam um die Ecke und blieb abrupt stehen, starrte ihn mit geweiteten Augen an. Remy sandte schon instinktiv den Befehl aus, dass sie sich nicht rühren und keinen Ton von sich geben sollte, aber irgendetwas stimmte nicht. Es fühlte sich an, als würde seine Forderung auf Stein treffen, abprallen und sich in Luft auflösen. Und in der nächsten Sekunde schrie sie.
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Dieser Bastard. Dieses Arschloch. Dieser...
"Kate, jetzt sagen Sie mal, das waren doch nicht gerade Schüsse, die ich hörte?"
"Doch Theodor, das waren Schüsse", knurrte sie nur und marschierte ohne ihn eines Blickes zu würdigen an ihm vorbei. Aber Theodor Bassett schlang seinen Morgenmantel nur fester um sich und folgte ihr. Entgegen ihrer Erwartungen meckerte er nicht herum oder flüchtete wieder in sein Zimmer, sondern half ihr alle Lehrkräfte zu wecken - sofern sie noch nicht wach waren - und zu sammeln.
"In dieser Nacht sind Ratsmitglieder auf dem Gelände unter der Leitung von Matthias Lenné, um den Verbrecher Remy zu schnappen. Viele von Ihnen werden die Organisation Moira kennen, er ist laut ihren Informationen der Anführer und hatte hier auf der Insel anscheinend etwas zu erledigen."
Kena ließ sie absichtlich unerwähnt.
"Leider ist der Plan schief gegangen und es gab einen Schusswechsel, Remy ist geflüchtet und befindet sich im Gebäude. Er ist extrem gefährlich und kann die Körper anderer Leute kontrollieren. Ich will, dass wir uns über die Stockwerke aufteilen und dafür sorgen, dass die Kinder in ihren Zimmern bleiben. Unter keinen Umständen sollen sie alleine durch die Gänge wandern. Und jetzt los! Beeilung!"
Alle verteilten sich sofort, schnell und ohne Protest, ausnahmslos alle hatten ernste Mienen, bis ihr Blick wieder auf Theodor fiel.
"Ein gefährlicher Verbrecher und Mörder? In unserer Schule?", fragte er mit einer Stimme, die sich um eine Oktave höher anhörte als sie es normalerweise tat. "Bist du dir sicher, dass wir uns da aufteilen sollten?"
"Reiß' dich zusammen. Es geht hier um die Kinder, nicht um uns. Und wenn du dich dabei wohler fühlst, dann komm' einfach mit mir mit." Mit diesen Worten schob sie sich schon an ihm vorbei und bemerkte tatsächlich, wie der eher rundliche Lehrer ihr nachlief.
Wie ein Dackel, dachte sie, während sie spürte, wie wieder die Wut in ihr hochkroch. Aber im Moment hatte sie keine Zeit dafür an Bassetts Verantwortungsgefühl zu appellieren, sie musste Remy finden und ihn unschädlich machen. Sie wagte sich gar nicht auszumalen was er tun könnte, wenn er eines der Kinder in die Hände bekam. Selbst seine Gabe an sich angewendet zu fühlen, würde sie schon für die kommenden Wochen nicht mehr loslassen und dann würde das auch noch einem Kind passieren. Vielleicht würde er sie als Geiseln nehmen, sie sogar mitnehmen und entführen. Sie durfte das nicht zulassen. Sie würde keinem einzigen Elternteil erklären wollen, dass ihrem Kind unter ihrer Aufsicht so etwas zugestoßen war. Niemals hätte sie auf Matthias hören sollen. Er hatte alles ganz normal weiterlaufen lassen wollen, sich extra den Plan mit den Transportkisten ausgedacht, damit Remy keinen Verdacht schöpfte, die Lage als zu riskant abstempelte und die ganze Sache abbließ. Und jetzt lief er hier frei im Gebäude herum.
Sie waren mittlerweile im Flur angekommen, der zu den Schlafzimmern der Erstklässler führte. Kate gedeutete ihrem Kollegen still zu sein und checkte schnell wie viel Schuss ihre Waffe noch übrig hatte. Vielleicht war Remy hier irgendwo in der Nähe, sie mussten alle Möglichkeiten offen halten und hochgradig auf der Hut sein.
Sie hatte gerade erst einen weiteren Schritt gesetzt, als plötzlich ein Schrei relativ in ihrer Nähe ertönte. Der Schrei eines Mädchens, einer Schülerin. Kate rannte los, Theodor auf den Fersen, kam aber schlitternd kurz vor dem Ende des Flurs zum Stehen, der danach um die Ecke führte, dort wo sie die Personen vermutete. Wenn sie jetzt hervortrat und eingriff, würde Remy nur wieder ihren Körper kontrollieren und damit die Kontrolle über die Situation erlangen. Sie musste die Sache schlauer angehen. Aber leider hatte sie da die Rechnung ohne Theodor gemacht.
Der war ihr keuchend hinterher gerannt, bemerkte zu spät, dass sie angehalten hatte, versuchte ihr auszuweichen, stolperte dabei über den Saum seines Morgenmantels und fiel der Länge nach hin, genau in das Sichtfeld der um der Ecke im Flur stehenden Personen. Jetzt konnte sie ihre Anwesenheit nicht mehr länger verbergen. Es galt nur schneller zu sein, als Remy seinen Befehl an ihren Körper erteilen konnte. Mit erhobener Waffe trat sie um die Ecke, scannte sofort den Flur ab, sah die Schülerin, sah Remy, und schoss.
In dem Moment, indem die Kugel durch die Luft schnitt, krachte eine schwere Gestalt von der Seite gegen sie, riss sie von den Füßen und sie stieß hart mit der Schulter gegen die Wand. Sie schaffte es, die Waffe weiterhin festzuhalten und Theodor damit einen Schlag gegen die Schläfe zu erteilen, der ihn benommen zurückweichen ließ. Remy musste seinen Körper kontrollieren, sonst konnte sie sich das Verhalten ihres Kollegen nicht erklären.
Aber plötzlich spürte sie es selbst auch wieder. Wie sie erstarrte, ihre Muskeln ihr nicht mehr gehorchten und ihre Arme sich gegen ihren Willen hoben, den Finger am Abzug der Waffe. Und sie richtete sie genau auf die immer noch erstarrt im Flur stehende Schülerin.
Lauf, wollte sie ihr sagen. Renn um dein Leben, aber auch das gelang ihr nicht mehr. Sie wollte nicht abdrücken. Sie wollte unter keinen Umständen abdrücken, aber sie tat es. Sie konnte nicht anders. Der Schuss hallte in ihren Ohren nach und voller Erleichterung sah sie, dass das Mädchen sich rechtzeitig zu Boden hatte fallen lassen. Dahlia hieß sie, Dahlia Ignis. Der Name war ihr endlich wieder eingefallen.
Als sie sich endlich wieder rühren konnte, war Remy verschwunden und rannte sie sofort auf Dahlia zu. "Ist alles okay? Bist du verletzt?"
"Nein, mir geht's gut." Mit schreckerfüllten Augen sah sie zu ihr auf. "Was war das gerade?"
Anstatt dem Mädchen auf die Beine zu helfen, ließ Kate sich neben sie in die Hocke sinken.
"Remy. Ein Verbrecher, dem hier heute Nacht eine Falle gestellt wurde. Er konnte leider entkommen, weil er die Gabe hat die Körper anderer Leute zu kontrollieren."
Sie konnte fast schon sehen, wie es in ihrem Kopf Klick machen musste und die Angst aus ihrem Blick verschwand, durch einen ernsten Ausdruck ersetzt wurde.
"Sie haben ihn getroffen mit dem ersten Schuss. Ein Streifschuss am Arm."
"Sehr gut", entgegnete sie mit einem grimmigen Lächeln. "Verletzt kommt er weniger weit. Und wenn er von der Insel runter will, dann muss er am Rat vorbei."
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Das Blut sickerte durch seine Finger und die Wunde sandte ein pochendes Brennen durch seinen gesamten Arm. Verbissen spannte er seinen Kiefer an, versuchte den Schmerz einfach auszublenden und sich auf seinen Weg durch die Dunkelheit der Nacht zu konzentrieren. Er war mittlerweile wieder draußen, hatte es aus dem Gebäude hinaus geschafft. Immer noch gingen dort immer mehr Lichter an und wurden ständig neue Stimmen laut. Es würde nicht mehr lange dauern, da war das gesamte Internat in Aufruhr. Und Remy wusste, dass er viele Körper gleichzeitig kontrollieren konnte, aber nicht alle. Er musste von der Insel runter und zwar so schnell wie nur irgends möglich. Jetzt gab es da nur einen Haken: die Ratsmitglieder, die hier noch irgendwo herumgeisterten und scheinbar nur darauf brannten ihm Fallen zu stellen. Er wusste nicht, was sie wussten.
Aber eines war ihm klar: er konnte sich jetzt auf keinen Fall mehr zu dem Boot trauen. Seine Leute würden sich da alleine rausschlagen müssen. Dafür hatte er auch schon Instruktionen bei seiner rechten Hand hinterlassen. Er selbst würde sich der zweiten Option im Falle einer Komplikation widmen: dem Jetski auf der anderen Seite der Insel.
Er hatte schon ein gutes Stück des Weges zurückgelegt, hatte den Steinstrand der Insel erreicht und sah das kleine dunkle Gebilde schon in der Ferne auf dem Wasser dümpeln, als mit einem Mal etwas seine Schulter von hinten traf und einen flammenden Schmerz auflodern ließ. Wieder eine Kugel. Warum hatte er keinen Schuss gehört?! Remy zögerte keine Sekunde sich zu Boden zu stürzen, bevor die nächste Kugel seinen Kopf oder seinen Rücken auf Höhe seines Herzens traf. Mit einem Zischen bemerkte er, dass es hier kaum Deckung gab und er mit dieser zweiten Wunde viel zu viel Blut verlieren würde. Es reichte ihm. Er hatte keine Zeit für diese Späße.
Er drehte sich auf den Rücken, setzte sich halbwegs auf, um immerhin zu sehen woher der Schuss gekommen war und wer ihn abgefeuert hatte. Zwei Gestalten näherten sich ihm, zeichneten sich scharf im hellen Mondlicht ab.
"Du kannst nicht mehr entkommen Remy!", brüllte eine Männerstimme. Die Ratsmitglieder, natürlich. Er wusste nicht woher sie von dem Jetski gewusst oder wie sie sonst hierhergefunden hatten, aber es tat jetzt auch nichts mehr zur Sache. Sie waren hier und sie würden jetzt sofort anhalten. Abrupt stoppten die beiden Gestalten und Remy erhob sich wieder, die Hand jetzt an seine neue Schulterwunde gepresst. Glatter Durchschuss, er würde klarkommen.
Gerade wollte er sich umdrehen und endlich zu dem Jetski laufen, als er innehielt - innehalten musste. Es fühlte sich an, als würde jemand an seinem Beschluss weiterzulaufen ziehen und ihn mit aller Macht davon abhalten wollen. Er schaffte es nur ein paar Sekunden, bis er die unsichtbare Barriere in seinem Gehirn durchbrach und einen Blick zurück zu den beiden Männern warf. Der eine sah noch sehr jung aus, starrte ihn ängstlich an und stand auch schräg hinter dem größeren Mann, der stattdessen einen erhabeneren Gesichtsausdruck hatte, als wäre er von der Körperlähmung überhaupt nicht eingeschüchtert.
Remy lächelte.
Dann hob er die Hand nur minimal an und sah dabei zu, wie die ängstlich geweiteten Augen sich mit Tränen füllten, als der jüngere der beiden sich selbst den Lauf der eigenen Waffe an den Kopf hielt. Er ließ ihn nicht zu lange zappeln, ließ ihm keine Chance vor Angst fast wahnsinnig zu werden. Mit einem Zucken seiner Finger drückte sein Gegenüber ab und Remy sah dabei zu, wie sein Körper mit einem dumpfen Aufprall auf den Steinen aufkam. Ohne jegliche Regung wandte er sich wieder an den anderen Mann.
"Du hast versucht mich aufzuhalten. Aber du bist dem hier nicht gewachsen. Du bist nicht stark genug. Sonst würde er noch leben." Mit einem Nicken seines Kopfes deutete er auf die Leiche des jungen Mannes. "Denk' darüber nach, Matthias."
Er hatte gerade erst das letzte Wort ausgesprochen, als die Welt plötzlich in einem ohrenbetäubenden Knall und einem Flammenmeer unterging. Die Explosion riss ihn von den Füßen, die Druckwelle presste ihm alle Luft aus den Lungen, sein ganzer Körper schien zu brennen, gleichzeitig auseinanderzureißen und sich zusammenzukrampfen. Sein Schädel pochte, als er wieder auf dem Boden aufkam und hinauf in den Sternenhimmel blickte. Da war das Sternenbild des kleinen Bärs. Kena hatte ihm das gezeigt. Kena...