Ich wusste nicht woher das flaue Gefühl in meinem Bauch kam, ob es an den Gedanken an meine Heimat lag, die ich solange nicht mehr gesehen hatte oder daran, dass es an Board der großen Fähre doch ganz schön schaukelte. Schon früher war mir auf längeren Autofahrten und auch auf Schiffsfahrten regelmäßig schlecht geworden. Nachdem ich mein Gepäck in die viel zu kleine Kabine ohne Fenster gebracht hatte, stand ich nun an der Reling und betrachtete den Hafen Göteburgs, während die Fähre langsam ihre Fahrt begann.
Am nächsten Morgen sollten wir Kiel erreichen, Kiel hier hatte ich 18 Jahre meines Lebens verbracht und mir vor 8 Jahren geschworen, nie wieder einen Fuß hierher zurückzusetzen.
So zumindest war mein Plan, bis meine kleine Schwester mir freudig per Kurier ihre Einladung zur Hochzeit überbringen ließ, nein anrufen wäre natürlich viel zu einfach gewesen. Stattdessen hatte ich bei meinen Eltern angerufen, obwohl weder ein Geburtstag noch Weihnachten anstanden. Und dann zwischen irgendwelchen Vorwürfen hatte ich tatsächlich zugestimmt bereits 4 Wochen vor der Hochzeit anzureisen und bei den Vorbereitungen zu helfen. Ich war mir sicher, dass diese Hochzeit größer und pompöser ausfiel als die der britischen Königsfamilie.
Zur Ablenkung ging ich an die kleine Bar auf dem Deck und bestellte mir einen Pina Collada. Fast alle Stühle waren besetzt, es war Sommer und viele Familien waren auf dem Weg in die Ferien. Etwas abseits entdeckte ich dann aber doch noch einen Liegestuhl mit einem kleinen Tischchen nebenbei. Nachdem ich einen Schluck getrunken hatte, stellte ich mein Glas auf den Tisch, ließ mich in den Liegestuhl fallen und streifte meine viel zu hohen Schuhe von meinen Füßen. Die Pumps hatten nach den ganzen Stunden ordentliche Druckstellen hinterlassen, über die ich vorsichtig strich, ich war es einfach nicht gewohnt auf den Schuhen zu laufen. Aus meiner Handtasche griff ich nach meinem Buch, dass ich mir extra für die Fahrt besorgt hatte, da mir vorher schon klar war, dass ich nie und nimmer hier schlafen könnte. Aber der Flug wäre einfach zu teuer geworden, ich musste eh den Gürtel enger schnallen, denn nun musste ich vier Wochen pausieren, was natürlich auch kein Geld bedeutete.
„Excuse me, this chair is still available?“
Erschrocken zuckte ich zusammen und erwachte aus meinem Tagtraum, wobei mein Buch mir aus der Hand fiel. Schnell griff der Unbekannte danach, warf einen Blick darauf und legte es dann auf den Tisch neben meinen Cocktail.
„Oh Sie sind Deutsche?“ fragte er in zwar gutem Deutsch, aber der Dialekt war sofort herauszuhören.
„Yes, this chair is still available. Und ja ich bin Deutsche und Sie nach dem Dialekt zu urteilen, kommen aus Lettland?“ nun war es an ihm, mich mehr als erstaunt anzuschauen und ich konnte mir ein kleines Grinsen nicht verkneifen. Ich lag allerdings doch knapp daneben, er kam aus Estland, was ja aber so gut wie das gleiche war. Ich klärte ihn aber schnell darüber auf, dass ich als Sprachlehrerin arbeitete und in den letzten Jahren mit Menschen aus fast allen Ländern der Welt zusammengearbeitet hatte und es ein kleiner Tick von mir war, am Dialekt zu erkennen, aus welchem Land sie stammten.
„Urlaub in Schweden?“ interessiert sah er mich an und ich war dankbar um die kleine Ablenkung, denn die See war unruhig und ich hatte das Gefühl jede Welle in meinem Magen zu spüren.
„Leider nicht, ich arbeite in Göteburg, aber ursprünglich komme ich aus Kiel, also ich bin dort geboren und meine kleine Schwester heiratet, da werde ich nun leider auch erwartet. Glaube mir, ich würde gerade lieber an jeden anderen Ort der Welt fahren, als nach Kiel. Ich bin übrigens Elisabeth, aber du kannst gerne Ellie sagen.“
„Hallo Ellie. Ich bin Dener. Freust du dich gar nicht auf die Hochzeit deiner Schwester? Wie lange warst du denn nicht mehr in Kiel?“
„8 Jahre, ich bin mit 18 Jahren von zu Hause weggegangen und seitdem nie wieder zurückgekehrt. Meine Schwester und ich hatten nie das beste Verhältnis, es ist kompliziert. Lass uns lieber über was anderes sprechen, was führt dich nach Kiel?“
Ich erfuhr, dass er seit einem Jahr in Kiel arbeitete und er gerade aus dem Sommerurlaub kam. Nachdem er ein paar Wochen in Tallin in seiner Heimat gewesen war, hatte er noch Freunde in Göteburg besucht und war nun auf dem Rückweg nach Kiel. Er erzählte mir voller Stolz das er beim THW Kiel Handball spielte. Ich selber war auch einmal bei einem Spiel gewesen, das war allerdings schon mindestens 10 Jahre her und damals hatte ich mit einer Freundin zusammen Stefan Lövgren bewundert. Bei dieser Erinnerung musste sogar ich lachen, eine der wenigen schönen Erinnerungen. Mittlerweile ging die Sonne unter und es wurde langsam kühl, so dass sich eine Gänsehaut auf meine nackten Arme legte.
„Hast du schon etwas zu Abend gegessen?“ jetzt wo Dener Abendessen erwähnte, meldete sich mein Bauch prompt zu Wort.
Gemeinsam gingen wir in das Innere des Schiffes, um das Restaurant aufzusuchen. Dener war trotz meiner hohen Schuhe noch ein gutes Stück größer als ich und es war ihm deutlich anzusehen, dass er viel Sport trieb. Breite Schultern zeichneten sich unter seinem engen weißen Shirt deutlich ab und auch ein Blick auf seinen Hintern konnte ich nicht abwenden. Meine letzte Beziehung war schon viel zu lange her, wenngleich ich auch irgendwie die Hoffnung auf die große Liebe verloren hatte. Zu oft war ich enttäuscht und verarscht worden. Wie selbstverständlich hielt Dener mir die Tür zum Restaurant auf, auch hier war einiges los und es dauerte etwas bis wir einen freien Tisch fanden. Die Preise waren deftig und ich entschied mich für Pasta, während er ein Steak bestellte.
„Sprachlehrerin, was genau bedeutet das, du arbeitest an einer Schule? Ich habe auch an einer Sprachschule Deutsch gelernt, aber das meiste habe ich von meinen Kollegen gelernt“ er sprach wirklich ganz gut deutsch, ich fand kaum etwas was ich verbessern würde.
„Ich arbeite auf selbständiger Basis, Vormittags an Schulen und Kindergärten und Nachmittags und Abends an Sprachschulen. Sprachen zu lernen hat mir schon immer viel Spaß gemacht und ich wollte etwas von der Welt sehen und so lässt sich alles perfekt vereinbaren. Nach dem Abitur bin ich nach London gegangen und habe dort Deutsch, Englisch und Französisch als Fremdsprache studiert. Danach war ich in Paris, Brüssel und nun lebe ich seit einem knappen halben Jahr in Göteburg. Ich wollte immer schon gerne eine nordische Sprache lernen und schlussendlich ist es schwedisch geworden.“
„Wahnsinn so viele Sprachen fließend zu sprechen finde ich echt klasse“ Dener hatte sich etwas nach vorne gebeugt und spielte mit seinen Händen an den kleinen Salz- und Pfefferstreuern auf dem Tisch. Eine Kellnerin brachte unsere Getränke und ich sah ihn noch einmal genauer an. Seine blonden Haare waren perfekt gestylt während der Dreitagebart ihn lässig und älter wirken ließ, als er wahrscheinlich war.
„Aber genug von mir, also der große THW? Wie ist es, wenn man da spielt?“ nun sah er mich direkt an und seine Augen begannen richtig zu leuchten, der Stolz in seinem Blick war nicht zu übersehen.
„Es ist unglaublich, diese Halle, die Atmosphäre, die Fans, die anderen Mitspieler, die Jungs sind richtige Stars und plötzlich war ich mittendrin, ich kann es noch immer nicht fassen. Mein Traum ist wahr geworden, ich bin einfach nur glücklich“. Während des Essens erzählte Dener noch von seiner ersten Saison in Kiel und ich war einfach froh über das nette Gespräch.
2 Stunden später hatten wir beide unseren 3 Cocktail vor uns, es war Happy Hour und mittlerweile musste ich eigentlich ständig nur noch kichern. Diese Cocktails bestehen doch eigentlich hauptsächlich nur aus Saft, dachte ich zumindest bis vorhin noch. Auch Deners Wangen waren deutlich gerötet vom Alkohol. Ich brauchte unbedingt einmal frische Luft, doch als wir aufstanden, verlor ich das Gleichgewicht und Dener konnte mich gerade noch so festhalten. Seine starken Arme und sein Geruch waren einfach zu verführerisch und ehe ich mich versah, musste ich mich schon übergeben.
Oh man, ich konnte mich nicht erinnern wann ich das letzte Mal solche Kopfschmerzen gehabt hatte. Noch hatte ich die Augen geschlossen und fürchtete mich ehrlich gesagt auch etwas davor sie zu öffnen. Nur langsam kamen die Erinnerungen an die letzte Nacht zurück in meinen Kopf und dann konnte ich gar nicht anders als schlagartig die Augen zu öffnen, es war also kein Traum gewesen. Neben mir lag Dener, tief schlafend. Mir war danach einfach meinen Kopf gegen die nächste Wand zu schlagen, wie hatten tatsächlich die letzte Nacht miteinander verbracht, wobei ich mich nicht mehr so wirklich an Details erinnern konnte. So leise wie möglich wühlte ich in meiner Handtasche nach Aspirin und fand zum Glück auch welche. Der Blick auf mein Handy verriet mir das mir noch gut 1 Stunde blieb, bis wir in Kiel anlegten. Zumindest waren wir in meiner Kabine, ich beschloss Dener fürs Erste schlafen zu lassen und mir stattdessen eine heiße Dusche zu gönnen. Das warme Wasser tat einfach nur gut und auch die Aspirin begann zu wirken. Als ich aus der Dusche getreten war und mich in eines der Handtücher gehüllt hatte, hörte ich Dener auf Deutsch telefonieren.
„Ellie ist gerade unter der Dusche, kann ich was ausrichten?“ so schnell ich konnte eilte ich in die Kabine zurück, Dener stand nur in Boxershorts mit meinem Handy am Ohr und telefonierte. Als er mich erblickte, lächelte er mich verlegen an und reichte mir mein Handy. Der Blick auf das Display ließ mich kurz aufstöhnen.
„Hallo Mutter“
„Nein, mir geht es gut. Ja, ich war bloß duschen. Ja, heute Abend um 19 Uhr bei euch und ja ich bin pünktlich“ am liebsten hätte ich mein Handy über Board geworfen.
„Deine Mutter hat mich auch eingeladen“ Dener sah mich überrascht an und ich war einfach nur sprachlos. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich ja nur ein Handtuch um meinen Körper gewickelt hatte.
„Pass auf, ich gehe jetzt mal in meine Kabine, gehe duschen und du machst dich auch fertig und dann trinken wir gleich noch einen Kaffee und ich hole dich in ein paar Minuten wieder hier ab.“ Ich nickte nur und war dankbar über diese Entscheidung. Am liebsten hätte ich mich jetzt einfach in meine kleine Wohnung zurückgezogen und die gesamten letzten Stunden Revue passieren lassen, doch stattdessen würde ich gleich wieder mit meiner Vergangenheit konfrontiert werden, die mir mein Leben so schwer gemacht hatte. Allein der Gedanke an meine Eltern und meine Schwester löste in mir schon gewisse Hassanfälle aus und dann war da ja auch noch Dener. Der Mann mit den geheimnisvollen Augen, den ich nach nicht mal 3 Stunden Bekanntschaft direkt vor die Füße gekotzt hatte und der mich dann volltrunken in meine Kabine gebracht hatte. Ich war an Peinlichkeiten mal wieder nicht zu übertreffen. Und wäre das alles nicht schon schlimm genug, hatte er auch noch mit meinem Handy mit meiner Mutter telefoniert. Auf jeden Fall würden nachher Fragen kommen, Fragen die ich irgendwie beantworten musste, vielleicht war es gar keine schlechte Idee wenn er mich heute Abend begleiten würde. Zumindest würde es meine Eltern ablenken und da sie ja so gute Manieren hatten, würden sie mich sicherlich nicht sofort mit all den Vorwürfen der letzten 8 Jahre konfrontieren.
Schnell zog ich eine Jeans, eine Bluse und meine Ballerinas an, föhnte meine Haare, drehte sie zu einem einfachen Dutt zusammen und legte etwas Make Up auf. Während ich meinen Koffer wieder schloss, klopfte es auch schon an der Tür. Dener trat ein und wirkte auch deutlich frischer, er hatte sich auch komplett umgezogen und auch seine Haare lagen wieder perfekt.
„Also wenn dein Angebot noch steht mit dem Abendessen, würde ich es vielleicht doch annehmen?“ fragend sah ich ihn an, er lächelte glücklicherweise freundlich und schlug vor, dass wir die Details unbedingt bei einem schnellen Kaffee besprechen sollten, denn ohne Koffein am Morgen war er zu nichts wirklich zu gebrauchen. Da wir schon fast in Kiel waren, nahmen wir unser Gepäck direkt mit und Dener war so freundlich mir einen meiner Koffer abzunehmen. Da ich ja 4 Wochen bleiben würde, hatte ich doch mehr Gepäck gebraucht, als zuerst angenommen. Er selber hatte nur eine größere Sporttasche dabei.
Nach dem ersten Schluck Kaffee merkte ich deutlich wie wieder Leben in meinen Körper durchdrang. Ich wusste, dass ich Dener eine Erklärung schuldete, was meine Eltern betraf und eventuell sollten wir auch noch einmal über die letzte Nacht sprechen.
„Meine Eltern sind speziell. Mein Großvater und mein Vater sind Staatsanwälte, meine Mutter ist Richterin, meine Schwester Rechtsanwältin und ihr Verlobter ist gerade zum Staatsanwalt befördert worden. Und für meine Eltern zählt alleine das, ich war schon immer das schwarze Schaf der Familie. Genaugenommen hatte ich keinen von ihnen in den letzten 8 Jahren gesehen. Ich bin nicht nur nervös wegen heute Abend, nein ich habe richtige Angst, also wäre ich dir wirklich sehr dankbar, wenn du mich begleiten würdest. Und was gestern Nacht betrifft, sollen wir das einfach vergessen und ich verspreche nie mehr so viel Alkohol in deiner Gegenwart zu trinken?“ Ich hatte so schnell gesprochen, dass ich bezweifelte, dass Dener tatsächlich alles verstanden hatte und tatsächlich sah er mich etwas merkwürdig an, ich betete bloß das er ja sagen würde.
„Okay, Abendessen klingt sehr gut. Ach ich fand dich so betrunken eigentlich ganz lustig“ sein belustigtes Grinsen gefiel mir so gar nicht und ich war mir nicht sicher, ob ich überhaupt wissen wollte, was letzte Nacht passiert war.
Gemeinsam verließen wir die Fähre, ich gab ihm meine zukünftige Adresse und wir tauschten Handynummern. Dener versprach mich um 18:30 Uhr abzuholen.
Als er mir zum Abschied noch zuzwinkerte, atmete ich einmal tief durch, bevor ich mir ein Taxi herbeiwinkte.