Ich suchte sie überall.
Zuerst auf meinem Schreibtisch. Gut möglich, dass ich sie hier zwischen all den Papierbergen verlegt hatte. Aber da war sie nicht.
Auch nicht unter dem Schreibtisch.
Da es ohnehin Zeit war, Staub zu wischen, wischte ich also Staub - fand sie aber trotzdem nicht. Weder auf der Kommode noch hinter den Büchern auf dem Bücherregal.
Dann durchsuchte ich alle Küchenschränke: Die Vorratsschränke so gut wie auch die Geschirrschränke. Nichts. Auch im Müllsack fand ich keine Spur von ihr.
Ich durchwühlte die Kleiderschränke. Nichts, das auf sie hindeuten würde.
Bereits sehr entmutigt durchforstete ich das Badezimmer. Aber ausser ein paar alten Shampooflaschen war auch hier nichts zu finden.
Ich setzte ich mich in die Küche und überlegte.
Auf einmal durchfuhr es mich heiss: Sie würde doch wohl nicht...! Rasch schlüpfte ich in meine Winterstiefel, zog den Mantel an und nahm im Vorbeigehen noch den Wollschal mit.
Ein eisiger Wind blies mir um die Ohren, als ich das Haus verliess. Erst jetzt merkte ich, dass ich Mütze und Handschuhe vergessen hatte. Egal, nun gab es Wichtigeres!
Es dämmerte bereits, während ich dem Wald zustapfte. Aufmerksam sah ich mich um. Vielleicht dort? Nein, es war nur ein Strauch, welcher sich unter der schweren Schneelast bog.
Ah, hier? Nein, es war ein Eichhörnchen, welches einen Baum raufflitzte.
Tiefe Stille umgab mich, als ich den Wald erreichte. Ich liebte diesen Ort, kannte ihn gut. Und doch hatte ich keine Ahnung, wo ich sie suchen könnte, wusste ja nicht einmal, ob sie überhaupt irgendwo hier war.
Ob ich rufen sollte? Doch - wie sollte ich sie nennen? Sie hatte mir ihren richtigen Namen nie verraten. Ich wusste nur, dass sie schön war. Und dass sie sich jedes Mal in einer anderen Form zeigte.
Wonach suchte ich eigentlich genau? Ziellos irrte ich nun durch den Wald. Vor meinem Mund bildeten sich kleine Dampfwolken. Die Kälte begann mir durch die Kleider zu kriechen. Grimmig dachte ich an meine Mütze und die Handschuhe, die zu Hause die Wärme genossen.
Auf einmal entdeckte ich zwischen den Bäumen ein Dach. Merkwürdig - ich hatte in diesem Wald noch nie ein Haus gesehen! Langsam ging ich näher. Tatsächlich: Hier stand eine alte, baufällige Hütte. Die Fensterläden waren geschlossen. Es sah aus, als sei schon lange niemand mehr hier gewesen.
Etwas unsicher näherte ich mich der Türe, welche recht schief in den Angeln hing und klopfte.
Nichts geschah. Was hatte ich denn erwartet? Dass eine Hexe wie in einem Märchen herauskäme und mir Kuchen anbieten würde? Ich merkte, dass ich nun auch noch Hunger zu verspüren begann und sich meine Laune verschlechterte.
Wo aber war sie?
Ratlos setzte ich mich auf die kleine Bank neben der Tür.
Es war nun beinahe dunkel im Wald. Eigentlich sollte ich dringend umkehren, um den Heimweg noch zu finden. Aber ohne sie wollte ich nicht nach Hause, zu lange schon war sie weg.
Ich beschloss, mutig zu sein.
Noch einmal klopfte ich an die Türe, lauschte nach drinnen. Als ich nichts hörte, öffnete ich sie vorsichtig.
Drinnen war es hell. Überrascht machte ich einen Schritt vorwärts, dann noch einen.
Da lag sie.
Mit grossen Augen blickte sie mich an. Ihre Lippen waren blau vor Kälte. Sie schien am Boden festgefroren zu sein.
Voller Freude stürzte ich mich zu ihr hin, kniete nieder.
"Da bist du ja!"
Sie reagierte nicht. Nur die Bewegungen ihrer Augen zeigten, dass sie noch lebte.
Sorgfältig hob ich sie hoch. Ihr zarter Körper war eiskalt. Ich wickelte sie in meinen Wollschal und verliess mit ihr die Hütte so schnell ich konnte.
Auf dem Heimweg drückte ich sie fest an mich, sprach beruhigend auf sie ein.
Zu Hause steckte ich sie zuerst einmal in die Badewanne. Während sie im heissen Wasser lag, kehrte langsam wieder Leben in ihren Körper zurück. Ihre Wangen begannen sich zu röten, die Lippen nahmen wieder ihre normale Farbe an.
Als ich das Gefühl hatte, sie sei genug aufgewärmt, wickelte ich sie in warme Tücher und setzte mich mit ihr vors Feuer. Beide schlürften wir heissen Kakao und schwiegen lange einträchtig miteinander.
"Ich wollte nicht so lange wegbleiben," sagte sie auf einmal leise. "Doch dann wurde es immer kälter. Irgend einmal konnte ich mich nicht mehr bewegen. Ich habe nach dir gerufen, aber die Worte blieben an den Wänden hängen."
Sie schmiegte sich an mich. "Doch dann bist du doch noch gekommen!"
Ich streichelte über ihr seidiges Haar.
"Es ist alles gut. Ich bin so froh, dich gefunden zu haben!"
Sie seufzte zufrieden.
"Magst du mir jetzt deinen Namen verraten? Ich wusste gar nicht, nach wem ich rufen soll, als ich dich suchte im Wald."
Sie sah mich erstaunt an.
"Muse. Ich bin doch deine Muse!"
Versonnen lächelte sie mich an. Und dann - küsste sie mich...