Wieder einmal haben sich die drei Dichter und Dramatiker in einer Spelunke zu Leipzig zusammengefunden, um ihre Ideen zu diskutieren. Zum unzähligen Male an diesem Abend wird die Tür geöffnet und mit dem kalten Winterwind im Rücken betritt ein Mann das zweifelhafte Lokal. Der Rosenkranz, den er um seinen Hals trägt und die Bibel unter seinem Arm kennzeichnen ihn als Geistlichen. Wie es der Zufall bestimmt, hat er vor wenigen Tagen begonnen Faust zu lesen, musste nach dem Prolog im Himmel jedoch aufhören, da er derart in Disposition mit sich selbst geriet, dass er erst eine zweite Meinung benötigt, eh er sich dazu entscheiden können wird, die Tragödie wiederaufzunehmen. Er glaubt Goethe zu erkennen und geht auf ihn zu. In der Nähe des Dichters und seiner beiden Kumpanen, die eben anstoßen, überkommt ihn der Zweifel ob seines Vorhabens. Seine Finger legen sich enger um die Bibel, er atmet tief durch.
„Sind Sie der Herr Goethe?“
Der mittlere der der drei Männer trinkt einen Schluck und stellt den Becher schwungvoll zurück auf den Tisch. „Höchstpersönlich!“, bestätigt er den Verdacht des Abts.
Dieser verbeugt sich leicht, neigt den Kopf im begrüßenden Nicken. „Welch‘ eine Freude Sie anzutreffen, denn bei der Lektüre Ihres Werkes sind mir einige Fragen gekommen.“
Goethe sieht ihn unverwandt an, während sich die beiden Männer an seinem Tisch weiterhin angeregt miteinander unterhalten. Einer strömt den Geruch fauler Äpfel aus, der andere trägt dekadente Kleidung auf und tippt unablässig mit der Spitze einer Schreibfeder auf den ledernen Einband eines Buches. Ersterer muss wohl Schiller sein, und letzterer... vielleicht würde er es noch herausfinden.
„Sprechen Sie weiter“, ermuntert der Dichter und seine Aufforderung zieht die Aufmerksamkeit der beiden für den Bruchteil einer Sekunde auf den Abt.
„Ich habe mir den Faust zu Güte geführt, der Tragödie erster Teil.“
„So teilen Sie uns Ihre Ansichten mit, mein Herr, wenn Sie nichts dagegen haben, dass meine Freunde mit zuhören werden.“
Marlowe und Schiller nicken dem Abt zu. Woraufhin der sich mit an den Tisch setzt und sogleich zu reden beginnt. Noch immer umklammern seine Finger die Bibel, die er unruhig auf dem grob gehobelten Tisch umherschiebt. „Mein Hauptanliegen ist der Prolog im Himmel. Er gehört doch, wenn ich es richtig erkannt habe, mitsamt dem Vorspiel auf dem Theater und der Zueignung zu den drei Präludien, nicht wahr? Ja? Ich möchte kurz rekapitulieren.“
„Nur zu, der Herr“, ermutigt ihn Goethe selbst, nicht ohne ein Schmunzeln in der Stimme. Auch seine beiden Freunde beugen sich interessiert der Unterhaltung zu. Ähnliche Diskussionen haben sie bereits mehrmals erlebt und können sich zu gut Goethes Reaktionen auf die Vermutungen vorstellen, die unweigerlich folgen werden.
„Im Zentrum steht der Dialog zwischen Gott und dem Teufel. Und Gott bringt die Sprache auf Faust, einen seiner Diener. Mephisto, wie er genannt wird, schlägt nun in einer Wette vor Faust vom rechten Weg abzubringen. Dabei ist Faust lediglich das Wettobjekt der beiden Partien, richtig? Solange er auf der Erde lebt, sofern ich Sie zitieren darf, dem Einfluss des Teufels unterstellt. Damit ist die Basis für... die folgenden dramatischen Verwicklungen errichtet. Die irdische Kernhandlung wird in jenem himmlischen Rahmen umschlossen, die Handlung bereits festgelegt. Gehe ich bisher richtig in meinen Vermutungen?“
Marlowe grinst amüsiert in sich hinein. Goethe rührt sich nicht und so ergreift Schiller für ihn das Wort.
„Soweit, denke ich, stimmt Ihre Lesart. Aber, Ihr könnt nicht sagen, dass der Herr Gott sei. Er ist vielmehr eine – nein, die! – treibende Kraft, da er von den Erzengeln mit der Sonne verglichen wird. Diese stellt bekanntlich das Zentrum unseres Universums dar und ist nicht minder die Quelle des Lichtes.“ Er erhebt zur Erklärung leicht seinen Zeigefinger und stößt den Abt beinahe an der Nase. „Ebenso könnt Ihr Mephistopheles nicht als Teufel brandmarken. Er ist der Geist der Negation, das sagt er selbst mehrmals über sich aus, wenn ich mich recht erinnere. Und Faust ist nicht nur ein Mensch. Er ist ein Universalgelehrter seiner Zeit. Er hat alles gelernt und studiert, was er durfte. Seine Strebsamkeit ist endlos. Er hinterfragt alles und jeden.“
„Auch die Kirche...“, hüstelt Marlowe in die Erklärung.
„Du hast vergessen, Schiller, mein Freund, meinen Faust als Stellvertreter für die gesamte Menschheit zu erkennen. Wie jeder Mensch wird er Fehler begehen, dennoch wird er streben, zerrissen zwischen der Versuchung und dem Wahren – zwischen Mephistopheles und dem Herrn. Darum bringt der Herr die Sprache auf Faust, also den Menschen, seine Diener. Und Mephisto gibt an, ihn durch Verführungen von seiner natürlichen Gier auf Wissen ablenken zu können. Der Herr vertraut Fausten. Er hat den Doktor durch seine eigene treibende Kraft erschaffen, wie den Garten, mit dem er ihn gleichstellt. Gerade jene Überzeugung des Herrn weckt Mephistos Ehrgeiz, diesem das Gegenteil zu beweisen.“
„Und sie dreht sich doch!“ Marlowe hebt seinen Becher, prostet in die Luft und leert es in einem Zug.
Goethe ignoriert den Kommentar Marlowes, der an völlig unpassender Stelle Galilei zitiert. „Beide sind sich ihrer Seite gewiss. Damit wird Faust zum Objekt der Auseinandersetzung beider Partien.“
Marlowe unterdrückt ein Aufstoßen, umfasst den Schädel ganz mit seiner Hand, stützt sich darauf und lehnt sich nach vorn. „Es ist eine Wette, nicht wahr? In letzter Zeit habe ich Gegenteiliges gehört. Es sei ein Pakt gewesen.“
Seine Bedenken entlocken Schiller ein abfälliges Schnauben. Goethe schüttelt verständnislos den Kopf.
„Lächerlich!“, stößt er hervor und schlägt mit der Hand auf den Tisch. Für einen Moment wenden sich dem Trio und ihrem Gast andere Besucher der Spelunke zu. In der Hoffnung vielleicht, es würde eine handgreifliche Auseinandersetzung auf den verärgerten Ausruf folgen. Als Goethe jedoch mit gepresster Stimme weiterspricht, ebbt die Neugierde der anderen ab. „Natürlich ist es eine Wette. Der Herr und Mephisto schließen in mündlicher Form ein Vertragswerk ab, das aus einer Behauptung und Gegenbehauptung besteht. Weiterhin wird die Gegenleistung des Verlierers in der Wette festgelegt. Würde der Herr verlieren, bekäme Mephisto Faust unter seine alleinige Kontrolle und würde ihn jeglicher Obhut des Herren entziehen. Ein Pakt ist etwas ganz und gar anderes.“
„Das klingt nach Hiob“, wirft Schiller ein, der merkt, dass der Abt sein Interesse verlieren wird, sollte er nicht bald einen Punkt finden, an dem er sein Verständnis der Handlung zum Ausdruck bringen könnte.
Erleichtert, einen bekannten Aspekt zu finden, richtet er sich auf und nestelt kurz an seinem hölzernen Rosenkranz. „Eine Bibelgeschichte! Hiob ist ein gläubiger Knecht Gottes, weswegen er erfolgreich ist und eine gesunde Familie hat. Nun wettet Satan mit Gott, dass Hiob, sollte er in der größten Not sein, sich vom Himmel abwenden werde. Folgend veranlasst Satan, dass Hiob alles genommen wird – sein Besitz und seine Familie. Trotzdem bleibt Hiob Gottestreu, wodurch Satan seine Wette verliert.“ Ein zufriedenes Seufzen entweicht ihm.
Marlowe setzt an etwas zu sagen, doch Schiller schüttelt warnend den Kopf. Er solle den Kirchenmann nicht zu sehr provozieren. Zwar verengt er seine Augen und tippt mit seinen Fingern ungeduldig auf dem Schädel umher, doch hält sich zurück. Schiller atmet erleichtert aus.
„Gut ausgeführt“, bestätigt Goethe. „Wie in der Bibel, verweise ich tatsächlich auf die Verführung eines Individuums. Im Gegensatz zu Hiob lässt sich Faust zunächst auf Mephistos kurzweilige Ausflüchte ein.“
Dieses Mal ignoriert Marlowe das fanatische Kopfschütteln seines Kollegen und schlägt einen nonchalanten Tonfall ein: „Zuträglich weiß Faust, dass die Kirche mit ihren starren Vorgaben und Mustern ihn lediglich aufhält, sonst würde er kaum einen Pakt mit Mephistopheles eingehen.“
„Mephisto und Faust sind schon durch den Herrn aneinander gebunden...“, erklärt es Schiller behelfsmäßig.
Goethe nickt, ein dünnes Lächeln auf den papiernen Lippen. „Gewiss. Für den unaufmerksamen Leser mögen Faust und Mephisto als Paktpartner auf gleichem Rang erscheinen. Jedoch befindet Mephisto sich durch seine vorige Wette mit dem Herrn auf einer höheren Ebene.“
„Trotz seiner niederen Position“, bringt sich Schiller wieder ein, da es Goethe nicht für nötig befindet den Unterschied zwischen Mephistos und Faust Ausgangssituation genauer zu definieren, „deren Faust sich nicht bewusst ist, ist dieser siegessicher. Er interessiert sich nicht für die weltlichen Genüsse, sondern einzig und allein für seine Studien. Dazu braucht er Mephisto. Allerdings gibt seine Lebensweise Mephistopheles Angriffspunkte, da Faust aufgrund seines eigenen Verzichts das Leben leid geworden ist und somit den Verlockungen – sollte er ihnen einmal erliegen – schwerer entfliehen könne.“
Marlowe hebt eine Hand und unterstreicht Schillers Wort in der Luft. „Und“, betont er noch einmal, „so verschreibt sich Mephisto Faust zu Lebzeiten und muss ihm, soweit ihm möglich, jeden seiner Wünsche erfüllen. Faust hingegen verspricht Mephisto seine Seele nach seinem Tod zum Dienste im Jenseits. Damit Faust sich nicht aus seinem Pakt lösen kann, wird der Vertrag mit Blut geschrieben und unterzeichnet.“ Er hält inne und hebt die andere Hand mit gleicher Gestik. „Wobei ein Vertrag von gleichrangigen Partnern ausgeht... was in dieser Konstellation nicht so ist...“
Goethe räuspert sich. „Die Kirche bleibt weiterhin außen vor – und ein Kritikpunkt.“
„Alles andere wäre hingegen jeder Logik“, lenkt Schiller ein.
„Genau“, bestätigt Marlowe mit einem zufriedenen Lächeln.
Sie werden von einem entrüsteten Schnauben unterbrochen. „Ihr Ungläubigen!“
Der Geistliche erhebt sich, hört jedoch eine Stimme, die ihn zurückruft.
Marlowe hat sich etwas über den Tisch gelehnt, seine Augen funkeln vor unverhohlener Freude. Er weiß genau, wie er den Abt in das Gespräch zurückholt. „Wollen Sie denn nicht wissen, wie es weitergeht?“
So setzt er sich wieder.
Der alte Schriftsteller lächelt wissend. „Faust wird versuchen, sich von Mephistopheles zu lösen, erkennt aber, dass dieser ein Teil von ihm ist.“
„Das ist vorgegriffen“, weist ihn Goethe zurecht.
Schiller nickt bestätigend. „Zwischenzeitig erliegt er Mephistopheles Versuchungen!“
Marlowe verdreht die Augen und holt mit einer gütigen Miene etwas weiter aus, so wie seine beiden Kollegen es von ihm verlangen. „Zu Beginn schon leiht Faust Mephistopheles seinen Körper, um einen Studenten gezielt in die Irre zu führen, was ihn anscheinend sehr amüsiert – oder lediglich ein Test Mephistos Fähigkeiten darstellt. Bei größeren Taten jedoch zeigt Faust sich unbeeindruckt. Zum Beispiel in Auerbachs Keller zu Leipzig: Mephisto führt ihm das einfache Leben, die Trägheit und Völlerei vor, also jene Wesen der Gesellschaft, die durch Alkohol leicht zu beeindruckend sind. Hierin wird eine Todsünde abgehandelt, so wie ich sie bei mir einzeln vorsprechen lasse. So auch die Wollust, die noch zentraler im Werk meines Freundes erscheinen wird.“
Der Abt hört mit aneinander gepressten Lippen zu. Was er hört, kann er kaum einordnen und noch weniger mit seinem gesitteten Leben vereinbaren.
„Gretchen kommt nicht aus deinen Werken.“
„Gewiss nicht...“
Schiller lacht leise, als er die Verwirrung des Abtes über diesen kurzen Austausch bemerkt. Er unterlässt es jedoch ihn aufzuklären. Stattdessen verschränkt er seine Finger hinter seinem Kopf und lehnt sich zurück, was eine Duftwelle nach gestandenen Äpfeln in die Umgebung entlässt. „In der Hexenküche gelingt es Mephisto erstmalig Fausts völlige Aufmerksamkeit zu bündeln. Zuerst ist er skeptisch, doch nachdem der Trank der Hexe ihn verjüngt und seine ehemaligen Bedürfnisse anstachelt.“ Schiller wackelt mit beiden Brauen und lässt kurz ein laszives Lächeln auf seinem Gesicht erscheinen.
„Oh, ich mochte die Hexe!“, murmelt Marlowe.
Goethe seufzt unterdrückt. „Wenn Ihr richtig rechnet, verrät ihr Einmaleins Faustens Alter.“
Der Abt setzt schon zu einer Frage an, doch wird er wieder unterbrochen.
Schiller grinst immer noch vor sich hin. „Dabei entdeckt Faust eine junge Frau im Zauberspiegel.“ Er löst seine Hände von seinem Hinterkopf und deutet mit wellenartigen Handbewegungen knapp die Silhouette einer jungen Frau an. „Kurz darauf trifft er die Magd Margarethe, kurz Gretchen, auf offener Straße und wird von ihr abgewiesen.“
Die Augen des Abts weiten sich vor Schreck. „Sie ist gläubig, oder?“
Schiller nickt leicht und nimmt erneut seine entspannte Haltung ein. „Ja, darum kann Mephisto sie nicht beeinflussen und muss unter anderem Geschenke für sie stehlen oder ihre Nachbarin ablenken, um dem Paar einige ungestörte Stunden für sich zu geben. Gretchen versucht Fausts Religiosität zu erfragen, doch er weicht wohlwissend aus, da er andernfalls ihre Gunst verlieren könnte.“
„Zwischenzeitig besinnt sich Faust“, wirft Goethe ein, etwas lehrerhaft, wie es klingt.
Sofort revidiert Marlowe seinen Kommentar. „Doch Mephisto versteht es geschickt ihren Körper anzupreisen, womit er Fausts Wollust erneut weckt. Schließlich gibt er nach und wird Gretchens Leben zu Grunde richten. Bevor ihn sein Gewissen überkommt, lenkt Mephisto ihn mit einer Orgie zur Walpurgisnacht ab – auf dem Brocken. Dort überkommt Faust allerdings die Reue und er erkundigt sich nach Gretchens Verbleib. Mephisto ist nun gezwungen ihn zu ihr zu führen.“ Mitleidig sieht er seinen Schädel an und atmet erschöpft, jedoch mit einem kleinen Schmunzeln aus. „Armer Teufel.“
„Was ist denn geschehen?“, haucht der Abt fast stimmlos.
Wieder erklärt Schiller. „Gretchen wurde schwanger und wegen ihres unehelichen Kindes ausgeschlossen, der Geliebte hatte sie verlassen. Aus Verzweiflung ertränkte sie ihr Neugeborenes im Fluss und wird folgend als Kindesmörderin angeklagt. Sie, weiß, dass sie verloren ist und wendet sich an die Kirche. Ihr wird, zumindest, von dieser Seite vergeben. Obwohl es mit etwas mehr Toleranz der Gesellschaft nicht so weit gekommen wäre“, setzte er nachdenklich an und räuspert sich. „Nun denn. Das ist das Ende. Daraufhin führt Mephisto Faust von der kleinen in die große Welt.“
Goethe schnalzt mit der Zunge. „Ihr habt viel ausgelassen, meine Freunde.“
Schiller schmunzelt und Marlowe funkelt den Abt schalkhaft an. „Etwas erstaunt soll der gute Herr beim Lesen auch noch sein. Fakt ist, dass Mephisto seine Hand im Spiel hat, sobald Faust Regeln und Gesetze bricht: Er tötet Gretchens Mutter durch eine Überdosis Narkotika, damit das Paar sich treffen kann und verletzt ihren Bruder im Fechtduell tödlich. Dementsprechend ist Mephisto Fausts dunklere Hälfte und durch ihn wird der Doktor zum Rechtsbrecher in vielerlei Art.“
Goethe seufzt. „Genau, denn wie ihr seht: Wir erschrecken über unsere eigenen Sünden, wenn wir sie an anderen erblicken.“
Outtake zum Schluss (Ich vermute, es ist eigentlich ein Running Gag wenn es um Faust geht...)
„Faust wurde offensichtlich für Trunkenbolde geschrieben“, gibt Marlowe von sich, hebt seinen Becher an und trinkt einen ausgiebigen Schluck des schweren Weines. Goethe unterdrückt es, die Augen zu verdrehen. Den Spaß seines Bekannten kennt er zu gut.
„Für Trunkenbolde?“, erkundigt sich der Abt. „Ich fürchte, ich verstehe nicht.“
Schiller greift ein und zitiert mit zittriger Stimme: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt... Und ehrlich, wer ist sonst zu dieser Uhrzeit unterwegs?“