PERSÖNLICHER BLOG VON DR JOHN H WATSON
Ein Wort über Sherlock Holmes? Sicher. Ich habe mehrere parat, desillusionierend für die meisten meiner Leser, fürchte ich. Er ist der schlimmste Mitbewohner, der in ganz London aufzutreiben ist – er ist unordentlich, nicht in der Lage, seinen Maßanzug mal in TESCO beim Einkauf zu zeigen, bezahlt nie die Miete und beleidigt alle in seiner Umgebung – mich eingeschlossen- indem er sie als Idioten bezeichnet. Des Weiteren ist das Konzept der Privatsphäre etwas ihm völlig Unbekanntes und es scheint für ihn eine persönliche Beleidigung darzustellen, sollte ich es wagen, eine Freundin zu haben. Anstelle von Milch finden sich in unserem Kühlschrank diverse Körperteile und was er ständig in den Töpfen kocht – ich wünsche es gar nicht zu wissen. Ich vermute, Sie werden denken, ich bereue meine Entscheidung mit einem Mann zusammengezogen zu sein, den ich weniger als vierundzwanzig Stunden kannte und von dem ich den Eindruck erhielt, er sei die personifizierte Arroganz in einem Designer-Anzug. Nun,-
„Sie schreiben wieder über mich?“, erkundigte sich Sherlock Holmes mäßig interessiert, als er kurz von der Arbeit aufsah, die ihn in den letzten Tagen beschäftigte.
John Watson seufzte. Seit zwei Tagen waren es die ersten Worte, die ihm der Detektiv zukommen ließ. „Ja, interessiert es Sie?“
„Nein“, antwortete er, stand aber auf und warf einen Blick über die Schulter seines Mitbewohners. Nach den ersten Zeilen hörte er auf zu lesen. „Langweilig, John! Und Sie bringen es durcheinander, wie gewöhnlich. Alles benötigt eine klare Struktur.“ Er richtete sich auf, und legte seine Hände kurz auf die Schultern des Arztes. „Und ich benötige Ihren Computer.“ Seine Ablenkung funktionierte: John Watson zuckte leicht zusammen und er konnte sich ungestört den Laptop nehmen.
„Sie haben doch einen eigenen“, beschwerte sich der Arzt.
„Den müsste ich erst hochfahren, das würde zu lange dauern.“
Heute scheint er in Redelaune zu sein, dachte John. Vielleicht erfahre ich, was ihn die letzten Tage so sehr eingenommen hat.
„Was machen Sie überhaupt?“ Erstaunt betrachtete John die Vorrichtung, die beinahe die gesamte Fläche des Wohnzimmers einnahm. Sherlock hatte einen Großteil der Einrichtung an die Wände geschoben, wo sich nun die gesamte Unordnung zu bedrohlich wackeligen Stapeln auftürmte. Nur die beiden Sessel standen noch dort, wo sie hingehörten.
Die Mitte des Wohnzimmers glich nunmehr einer ziemlich grotesken Bühne. Ein Flutleuchter, der sehr danach aussah, dass er eher an einen Tatort, als in eine Londoner Wohnung gehörte, bestrahlte ein weißes Bettlaken, das auf eine Wäscheleine gespannt war. Darum herum hatte Sherlock diverse technische Geräte platziert – und alles über Kabel miteinander verbunden. Eines davon sah einem Notstrahler sehr ähnlich. So etwas wie ein Seismograph schien ebenfalls darunter zu sein.
„Ein Experiment“, antwortet dieser abgelenkt, als er Johns Browserverlauf löschte. „Es sollte nicht so schwer sein. Hm…“ Der Detektiv schloss den Laptop an ein Kabel, dass zu einer Art Projektor führte an. Nach mehreren Minuten verlor John das Interesse an den Machenschaften seines Mitbewohners, stand auf und entschied, dass der Kühlschrank wahrlich mehr zu bieten hatte als ein schweigender Wissenschaftler.
Gerade als er die Tür des Kühlschranks zuwarf, weil ihm eine Hand entgegen ragte, hörte er einen begeisterten Ausruf und Klatschen hinter sich. „Haha! Es funktioniert! Fantastisch!”
John drehte sich um. Zuerst sah er nicht, worüber sich Sherlock so sehr freute. Erst als er wieder im Wohnzimmer stand, bemerkte er die Veränderung.
Das Leinentuch war heruntergerissen und in der Mitte des Raumes, zwischen all den technischen Geräten waberte eine halbdurchsichtige untersetzte männliche Gestalt – im Anzug und mit Schnauzbart.
„Wer zur Hölle sind Sie?“, entfuhr es ihm.
Sherlock hatte schon wieder das Interesse verloren. „Ist es nicht offensichtlich?“, fragte er, als er die Gestalt umrundete.
Immerhin das, oder der, der im Raum schwebte schien müßig genug zu sein, ihm seine Frage zu beantworten. „Ich wurde am 22. Mai, im Jahre 1859 in Edinburgh, einer Stadt in Schottland, unter dem Namen Arthur Ignatius Conan Doyle geboren.“
„Wer?“
Dieses Mal erklärte Sherlock: „Ein großartiger Autor der Kriminalgeschichte und mittlerweile ein Geist, soweit ich beurteilen kann.”
„Ein Geist?“ John wich entsetzt zurück. „Ein echter lebender Geist? Hier? In der Baker Street?”
Der Detektiv hingegen wirkte wenig beeindruckt. „Offenkundig.“
„Warum sind Sie so ruhig?”, brauste John auf.
Sherlock musterte den Geist eindringlich, so, als würde er einen Klienten oder potentiellen Verbrecher nur mit seinem Blick all seiner Geheimnisse berauben. „Weil wir einander kennen, nicht wahr, Sir Conan Doyle?“
„Klammere dich nicht zu schnell an Schlussfolgerungen, Sherlock Holmes“, rügte der Geist den Detektiv wie ein strenger Lehrer einen rebellischen Jungen zurechtwies. „Bist du denn nicht daran interessiert, warum du bist wie du bist?“
„Er hat einen widersinnigen Bruder, der sich nicht ansatzweise um ihn kümmert und wenn doch, dann nur mit Herablassung!“ John atmete tief ein, um sich zu beruhigen. Er diskutierte mit einem Geist. In der Baker Street. Es könnte schlimmeres geben. Was auch immer das sein mochte. „Das sollte es erklären”, setzte er letztendlich hinzu.
Doch Sherlock wedelte nur abwertend mit der Hand. „Nein, nein. Er spricht davon, wie mein und sein Leben miteinander verknüpft sind.“
Der Geist nickte zustimmend. „Ganz recht, mein lieber Holmes. Mein Vater war ein Alkoholiker und erreichte in seinem gesamten Leben nichts. Meine Mutter jedoch“, er seufzte, „ich betete sie an. Sie war eine großartige Geschichtenerzählerin. In meiner frühen Kindheit, soweit ich mich erinnern kann, stechen ihre Geschichten sosehr aus meinem Gedächtnis hervor, dass sie die Ereignisse in der realen Welt überschatten.“ Eine dramatische Pause.
„Aber?“, fragte John.
„Aber?”
„Es gibt immer ein aber”, erklärte John, leicht genervt. „Sie würden uns nicht so viel von Ihrer Märchen-Kindheit erzählen, würde es ohne eine nennenswerte Tragödie so weitergehen.“
(Sherlock grinste Conan Doyle stolz an. „Hab‘ ihn gut trainiert, nicht wahr?“)
Die Augen des Geistes verklärten sich. Er war nun tief in seiner eigenen Kindheit versunken. „Als ich neun Jahre alt wurde, schickte mich meine Familie nach England um dort für die nächsten sieben Jahre eine jesuitische Internatsschule zu besuchen. Die Erziehung war streng… oft versuchte ich zu fliehen… die Strafen hart… die Briefe meiner Mutter das einzige, was mich am Leben erhielt…“ Er räusperte sich. „Und ich bemerkte, dass auch ich ein Talent dafür besaß, Geschichten zu erzählen. Jüngere Schüler gesellten sich oft zu mir und lauschten dem hingebungsvoll, was ich für sie ersann.“
„Warum ist das wichtig?“, fragte John. Warum sind Sie überhaupt hier? Warum beschwört ein so meisterlicher Detektiv den Geist eines Geschichtenerzählers? Eines schottischen noch dazu.
Sherlock seufzte und ließ sich in seinen Sessel fallen. „Oh, John, Sie denken immer noch nicht. Da Sie eine Vorliebe für Trivialitäten haben, können Sie sich an den Computer setzen und Sir Doyle recherchieren, während ich bevorzuge dem Mann selbst zuzuhören. Fahren Sie bitte fort, aber kürzen Sie Ihre Familienprobleme.“
„Zusammengefasst war ich gewollt und überzeugt der Welt gegenüberzutreten um für das geradezustehen, was mein Vater verdorben hatte. Als ich nach Jahren zurückkehrte, litt er unter schwerer Demenz, so klärten sich bald auch die Familienangelegenheiten.“ Wieder ein Seufzen. „Obwohl die Familientradition eine künstlerische Karriere vorschrieb, entschied ich mich für die Medizin. An der Universität in Edinburgh führte ich medizinische Studien durch. Dr. Joseph Bell, ein Meister der Beobachtung, Logik, Deduktion und Diagnose wurde in dieser Zeit zu meinem Idol.“
John sah vom Bildschirm auf, über den mehrere Bilder des nicht nur Geschichtenerzählers, sondern anscheinend ziemlich anerkannten Autors, zogen. Diese Bemerkung des schottischen Geistes hatte seine Aufmerksamkeit erregt. „So einen lernen wir alle mal kennen, was?“ Beinahe konnte er Sympathie für den Geist aufbringen.
Allerdings ignorierte dieser ihn. „Und so, es zogen einige Jahre ins Land, verfasste ich mehrere Kurzgeschichten, die im Chamber’s Journal und der London Society verlegt wurden. Dann arbeitete ich als Arzt auf einem Dampfschiff, das in die Arktis fuhr, doch dieses Leben widerte mich an und so kam ich nach Portsmouth. Dort eröffnete ich meine erste eigene Praxis. Leider lief sie nicht gut, so schrieb ich wieder mehr in meiner erzwungenen freien Zeit. Im August des Jahres 1885 heiratete ich Louisa Hawkins, eine wirklich-“
Sherlock, der nicht viel für diesen sentimentalen Teil übrig hatte, unterbrach die Ausführungen Doyles. „Im März des nächsten Jahres, 1886, begann er den Roman zu schreiben, der mir Ruhm einbrachte“, erklärte Sherlock stolz.
„Ihm“, korrigierte John.
„Wie bitte?“
„Der Roman brachte ihm Ruhm ein. Nicht Ihnen.”
„Uns beiden, so gesehen”, lenkte der Geist beschwichtigend ein, bevor sich ein Streit zwischen den beiden Männern ausbreiten konnte. „Seit langer Zeit schon verabscheute ich die dramaturgische, sowie die reelle polizeiliche Arbeit in England. Detektive fanden durch Zufall eine Spur oder einen Täter und arbeiteten geradezu stümperhaft. Keiner von ihnen dachte nach! Ich brauchte jemanden, der sich nicht auf pures Glück verließ, jemanden der meinem guten Dr. Bell gleich, beobachtete und schlussfolgerte. A Tangled Skein [dt.: Eine verwickelte Reihe/Strähne] erschien in Beeton’s Christmas Annual unter dem Namen Eine Studie in Scharlachrot [original: A Study in Scarlet] und wortwörtlich stellte ich der Welt Sherlock Holmes und Dr. Watson vor.“
„Alles klar. Ein Geist. Ein redender Geist. Und ich habe eine Studie in Pink geschrieben! Ich. Tut mir leid, aber das hier”, John Watson zeigte auf die wabernde beleuchtete Gestalt im Raum und die ganzen darum aufgebauten Apparaturen, „das glaube ich nicht. Nein, das nicht.”
„John…“
„Lass ihn wütend sein, er wird es noch früh genug verstehen.“ Wieder machte der Geist eine Pause und als er weitersprach war seine Stimme ruhiger und es war als erzählte er eine eben erdachte Geschichte und nicht etwa Sherlock’s Historie. „Ich wollte nicht, dass du weltberühmt wirst. Noch hätte ich es erwartet. Ich wollte als seriöser Autor anerkannt werden, für alle meine Werke und nicht nur als der Mann, der einen einzigartigen Detektiv zum Leben erweckt hatte.“
„Consulting Detective“, korrigierte Sherlock. „Ich habe den Beruf erfunden.“
„Und ich dich. Einige Jahre später wollte ich erneut eine Kriminalgeschichte schreiben. Es fehlte mir an einem herausragenden Detektiv, bis mir einfiel, dass ich schon einen hatte. So setzte ich den ersten Holmes-Roman fort und nannte jenen zweiten Das Zeichen der Vier [The Sign of Four]. Dieser Roman, dieser zweite hat dich, Holmes, und auch mich auf ewig in die Annalen der Literatur geschweißt. Genau wie eine Serie von Kurzgeschichten, in denen ich mit den Selben Charakteren arbeitete.“
„Wie viele genau?“, erkundigte sich Sherlock.
„56 Kurzgeschichten und vier Romane. Doch, wir würden etwas überspringen. Im Jahr 1891, als ich noch an den ersten Geschichten arbeitete, brachte mich eine Erkältung an den Rand von Leben und Tod und ich bemerkte in einem meiner zu dem Zeitpunkt wenigen hellen Momente, dass ich meine medizinische Laufbahn aufgeben und ein unabhängiges Leben als Schriftsteller führen wollte.“ Er lachte leise bei der Erinnerung.
Sherlock konnte sich ein Raunen nicht verkneifen. Von solch einem wechselhaften, bei Zeiten kindlichem Charakter konnte nichts Gutes bei herauskommen. Zu schnell langweilten sie sich oder trafen Entscheidungen aus vollkommen absurden Motiven heraus, die letztendlich zwar bemerkenswert, jedoch für viele unverständlich erschienen.
Am Rande bemerkte Sherlock, dass er über seinen Aufstieg als Schriftsteller sprach und wieder ein Beispiel seiner eigenen Unreife gab. „Die Leute fragten mich nach Autogrammen und ich unterschieb sie als Dr John Watson.“
„Aber das ist meine Unterschrift!“
„Und auch die meine, Doktor Watson. Wodurch nur die Legende, der realen Existenz Sherlock Holmes geschürt wurde.“ Ein zufriedenes Seufzen entwich dem Geist, doch das Strahlen in seinen Augen ermattete zu einem müden Ausdruck. „Ein Jahr später entschied ich Sherlock Holmes loszuwerden. Er raubte mir die Nerven.“
Nicht nur Ihnen, hätte John gern angefügt, doch er hielt sich zurück.
Etwas andächtiger fügte Doyle Geist hinzu. „Und ich befürchtete, ich könnte nicht in der Lage sein das Niveau der Charaktere aufrecht zu erhalten, die ich einst erschuf und könnte sie damit in den Ruin treiben. Ich wollte dich mehrmals töten.“ Wieder ein Kopfschütteln. „Einmal hat‘s geklappt”, entfuhr es ihm stolz. „Ich bin auf einer Reise durch die Schweiz gewesen und dort fand ich den perfekten Ort, an dem mein Held sein Ende finden würde. Und dafür erdachte ich mir den besten Gegner, dem du je gegenüber treten könntest, mein lieber Holmes.“
„Moriarty!“
„Nein!” John sprang auf. „Nie, er wird nicht durch Moriarty sterben. Nicht durch ihn.“
„Professor Moriarty“, korrigierte der Geist. „ Er war Professor!“
„Wo?”, fragte Sherlock.
„An den Reichenbachfällen Nahe Meiringen. Im Kampf miteinander stürzten beide in die Tiefe. Wie es kommen musste, ließ ich nicht nur dich sondern auch mehr als zwanzigtausend Abonnements im Wasser versinken. Wie hätte ich je erahnen können, dass so viele Menschen die Zeitung nur wegen dir lasen!“
„Sie haben ihn umgebracht?“ Der Armeearzt war der Verzweiflung nahe. „Wie konnten Sie sich dazu herablassen?“
Sherlock Holmes jedoch bewahrte eine beneidenswerte Ruhe. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und zog mit einer Hand den schwarzen Violinenkasten aus einer verstaubten Ecke hervor und öffnete ihn. „Das würde ihm nicht genügen“, erwiderte er und ignorierte den Geist damit vollständig. „Ein Mann der Ehre, ein Arzt, ein Mann, der im Gericht die Prozesse aufmerksam verfolgte und im Herzen ein eigener Detektiv, merkte, dass ihm ohne mir etwas Bedeutendes fehlte.“ Sherlock legte seine Geige an seinen Hals, ein Zeichen für den Geist seine Geschichte zu beenden. Für Holmes war alles wichtige gesagt.
„Stimmt ganz. Ich selbst löste erfolgreich kriminalistische Verworrenheiten mit der Holm’schen Methode. Holmes tot zu lassen, hätte bedeutet einen Teil meiner selbst zu verleumden. Daher schrieb ich Die Rückkehr des Sherlock Holmes. Dann noch ein Band deiner Erlebnisse und schließlich zog ich mich von der Bühne zurück. 1918 beendete ich das Kapitel Sherlock Holmes für immer. Das Notizbuch des Sherlock Holmes waren die letzten Geschichten. Auch der Krieg hatte mich zerstört. Einige Jahre später, 1930, als ich in den Garten ging…. Das ist das letzte, woran ich mich erinnere.” Das Seufzen des Geistes wurde leiser, auch seine raumfüllende Gestalt erblasste allmählich.
Sherlock Holmes stimmte exzentrisch einige Töne auf seiner Violine an, bevor er den Bogen kurz ablegte. John starrte geschockt die Luft an, dort wo der Geist eines Schriftstellers vor wenigen Minuten noch geflackert hatte. „Arthur Conan Doyle starb am 7. Juli 1930. Aber die Figuren, die er erschuf überlebten die Jahrhunderte. Und genauer betrachtet, das hat er außen vor gelassen, wurde er von meinen Fans bedroht – darum kehrte ich zurück.“ Er setzte zu neuen Tönen auf seiner Violine an. „Ich werde immer zurückkehren, mein lieber Watson.“