Jahrelang hing er unbehelligt auf dem Balkon. Fing das
Waldpanorama bei Tag ein.....die Sonnenuntergänge und
das Lichtermeer am Horizont in der Nacht.
Gross und rund mit einem weissen Holzrahmen prangte der
Spiegel auf ihrem Balkon - erfreute sie in der Küche und auch im
angrenzenden Wohnzimmer beim Blick nach draussen in der Ecke,
die sonst eher trist und trostlos gewesen wäre.
Eines schönen Tages hatte auch eine kleine Blaumeise ihn entdeckt. Und damit auch sich selbst. Sie hatte es durch Zufall beobachten können, wie dieser erste Kontakt begann. Und das geschah nicht in sehr freundlicher
Weise.
Er hatte in der ersten Minute dieses Gegenüber bereits zum
Feind Nr. 1 erklärt - und ihm seinen wütend Protest entgegen-
geschnäbelt. Den Vogel im Spiegel mit empörtem auf und nieder Geflatter zu beindrucken versucht. Sogar einen heftigen Rempler gegen den
Spiegel hatte er riskiert.
Sie konnte ihm in seiner kleinen Pause auf der Lehne ihres in
der Nähe stehenden Korbstuhls ansehen, wie entrüstet er über
diesen Gegner war, der offensichtlich nicht nachgeben wollte.
Mit aufgestelltem Kämmchen das Köpfchen hin und her bewegte -
wie nach einer neuen Strategie sinnend, die beim nächsten Mal
den Erfolg bringen sollte.
Und los ging's - auf ein Neues.....das aber dann doch wieder
in einem 0 : 0 Unentschieden auf der Lehne des Korbstuhles
endete.
In den darauffolgenden Korbstuhl-Pausen war sein Ärger
über diesen unverschämten Vogel im Spiegel völlig unge-
brochen....und die Kraft in diesem kleinen Körper scheinbar
auch. Er begann die Lehne des Korbstuhls in Angriff zu nehmen...
ihm konnte er "etwas antun" - und das schien ihm gut zu tun.
Der Erfolg zeigte sich ihm wenigstens sichtbar in kleinen
Spänchen, die ihm um das Köpfchen flogen. Sie hatte dieses "Vogeltheater“ mit wachsender Besorgnis beobachtet. Und erst Mall durch ein kurzes Öffnen der Balkontür unterbrochen.
Den Spiegel wollte sie des Anblicks und Weitblicks an diesem Platz eigentlich nicht missen und auch nicht abnehmen....aber....
die Aussicht auf einen täglichen Kampf des kleinen Kerls vor dem
Spiegel liess sie auch nicht gerade frohlocken.
Sie suchte nach einem Tuch - um ihn wenigstens zuzuhängen und dem kleinen Piepmatz eine Verschnaufpause zu verschaffen. Gesagt - getan...aber keinesfalls genehmigt.....wie sich sofort zeigte.
Der plötzlich verloren gegangene Gegner erboste ihn noch mehr.
Kurz flog er mit wütend aufgestelltem Kämmchen an die Balkon-
tür....um ihr flatternd seine Empörung schrill entgegen zu schmettern.
Sie war fassungslos – so eine Reaktion hatte sie nicht erwartet.
Sie fühlte sich persönlich und sehr deutlich gemeint und angesprochen von diesem kleinen Vogel. Der sich jetzt auf das Tuch stürzte und daran zu zerren begann. Aber zwischendurch auch immer wieder an die Balkontür
flatterte – wie wütend schimpfend aber auch bettelnd zugleich,
das Tuch doch wieder zu entfernen....
Wie sie ihn so fassungslos und völlig überrascht beobachtete....
fiel ihr ihr eigener Kampf mit dem Spiegel ein...nein....nicht nur mit diesem ....mit jedem Spiegel eigentlich. Mit jedem Spiegel, der ihr Abbild zeigte....mit dem sie Feind war - auf Kriegsfuss war ....
schon immer ...oder noch länger ?
Und doch immer wie magisch angezogen hineinblicken musste...
aber nur um sich die Worte anzutun....die sie schon immer kannte.....
"wie siehst du denn wieder aus ?"
In dem Moment knallte die kleine Blaumeise vor die Scheibe der
Balkontür und fiel wie ein kleiner Stein zu Boden. Zu Tode er-
schrocken öffnete sie die Tür und beugte sich vorsichtig zu ihm
herunter- nahm den kleinen Piepmatz behutsam in die Hand...
"Lieber Gott – lass ihn am Leben" - war ihr inniges Stossgebet
zum Himmel....als sie ihn vorsichtig in ihre beiden Hände bettete
und sich innig wünschte, dass wieder Leben in ihn in kam.
In dem Moment rutschte das Tuch von dem Spiegel und zeigte
ihr ihr eigenes Spiegelbild mit dem Vögelchen in beiden Händen
und dahinter die strahlende Sonne über dem Waldesrand....
Und zum ersten Mal fiel ihr kein böser Kommentar ein– bei
ihrem eigenen Anblick...
Aber vllt. hatte sie auch nur die Sonne geblendet ? ....Nein...als hätte die kleine Blaumeise einen Energie-schub durch irgendetwas bekommen – begann sie sich zu bewegen und etwas zu schütteln.
Vorsichtig legte sie den kleinen Kerl in einem Blumenkübel auf die sonnengewärmte Erde, um ihm keinen Schrecken ein-
zujagen bei seinem weiteren Erwachen...und ging in die Wohnung
hinter die Balkontür zurück, um ihn von dahinter weiter zu beob-
achten....
Unvermittelt schellte es an der Tür - nur kurz dachte sie...bin gleich wieder da - schickte sie ihm... Als sie zurückkam...war der Kleine jedoch bereits verschwunden. Eine winzig kleine Feder war im Blumenkübel zurück geblieben.
Sie nahm sie achtsam hoch und trug sie in ihr kleines Schatz-
kästchen – wo sie alle ihre Besonderheiten und Zeichen auf-
bewahrte ....die ihr von "Oben“ hier und da mal geschickt wurden.
An diesem Abend galt ihr letzter Gedanke dankbar der kleinen
Blaumeise...die sie wohlbehalten in irgendeinem Baumwipfel
hoffte....