Bevor sich die alte Frau bückte, um den Ofen zu kontrollieren, begegneten ihre dunklen Augen dem Blick des Mädchens. Verwundert vergaß sie einen Moment, was sie vorgehabt hatte. Die Blicke der beiden Frauen verschmolzen ineinander und Gretel entdeckte das Leuchten in den Augen der Alten. Es schien über ihr Gesicht zu flackern und erhellte ihr runzliges Gesicht. Pure Liebe strahlte sie aus! Gretel blieb der Mund offen stehen. Aber schon hatte sich die Alte abgewandt. Das Mädchen starrte auf ihren Rücken. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, spürte ein Kribbeln in ihnen. Aber sie unterdrückte ihren Impuls zuzustoßen. Stattdessen verschränkte sie die Hände hinter ihrem Rücken. Man tauscht nicht einfach ein Leben gegen ein anderes ein. Wie oft hatte sie geweint, wenn ihr Vater eines der Lämmer diesem Grobian mitgegeben hatte und dafür totes Fleisch bekam! Als die Alte sich wieder aufrichtete, wich Gretel einen Schritt zurück. Las sie Verwunderung in deren Gesicht? „Ich werde mich jetzt schlafen legen“, verkündete die Alte, „bereite mir alles vor“.
Als Gretel in den Garten schlüpfen wollte, zischelte Hänsel ihr aus seinem winzigen Gefängnis heraus zu: „Warum hast du die Chance verpasst? Wir werden nie hier heraus kommen!“
Gretel zog die Stirn zusammen und presste die Lippen aufeinander. Statt einer Antwort drückte sie sich wortlos an ihm vorbei. Draußen pflückte sie die jungfräulichen Blüten der sieben Königinnen. Einer Eingebung folgend rupfte sie noch einige vertrocknete Fruchtstände ab, die sie in ihrer Schürze versteckte. Dann brachte sie die Blüten ins Haus und kochte sie zusammen in frischem Brunnenwasser auf. Das ganze füllte sie in die große Flasche, die nur für diesen speziellen Trank gebraucht werden durfte. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und spähte zu der Alten hinüber. Ihr Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig. Unter der Bettdecke ragte das Band hervor, an dem der Schlüssel zu Hänsels Verlies hing. Soll ich? Unschlüssig näherte sich Gretel dem Bett. Die Alte rührte sich nicht. Gretel trat rasch näher und zupfte vorsichtig an dem Band. Der Arm der Alten rutschte unter der Bettdecke hervor und der Schlüssel entglitt dem sonst kräftigen Griff. Hastig und mit zitternden Händen ergriff Gretel die Beute und huschte eilig zum Verlies ihres Bruders.
„Nun mach schon“, drängte er mit kaum unterdrückter Angst in der Stimme.
„Scht“, erwiderte sie. Endlich gelang es ihr, den Schlüssel umzudrehen und Hänsel war frei.
„Nur fort von hier“, rief er und griff nach ihrem Handgelenk. Er zog sie mit sich ins Freie.
Gretel erhaschte noch einen letzten Blick auf die schlafende Alte. Wenigstens wird sie ihren Zaubertrank vorfinden, dachte sie und folgte ihrem Bruder auf dem breiten Weg.
Bald verzweigten sich die Pfade und sie wählten einen schmaleren, obwohl sie keine Ahnung hatten, in welche Richtung sie sich wenden sollten. Die Sonne kam hinter den Wolken hervor und so brauchten sie wenigstens nicht zu frieren. Unterwegs fanden sie ausreichend Beerensträucher und reichlich essbare Wildkräuter.
„Ist es nicht wundervoll, wie die Natur für uns sorgt“, rief Gretel begeistert aus.
Doch Hänsel konnte ihre Begeisterung nicht recht teilen. Er drängte weiter und weiter. Erst als er schließlich zugeben musste, dass sie am heutigen Tag die Siedlung nicht mehr würden finden können, begann auch er, die Schönheit des Waldes zu bewundern.
„Wenn die Natur schon für uns sorgt, wird sie auch für eine gute Schlafstatt sorgen“, meinte Gretel unbekümmert und sie sammelte lange Gräser, die ihnen als Kissen dienen mochten.
Und tatsächlich fanden sie kurz vor Einbruch der Nacht einen besonders großen Baum, unter dessen langen Zweigen sie geschützt waren. Die Gräser, die Gretel gesammelt hatte, polsterten gut die Härte seiner Wurzeln, so dass sie sogar sehr bequem lagen.
So wanderten sie weiter und weiter und Hänsel gewöhnte sich daran, dass die Vorhersagen seiner Schwester immer eintrafen – weder wurden sie verfolgt, noch mussten sie Mangel leiden. Dass der Wald kein Ende zu nehmen schien, störte ihn immer weniger. Allerdings murrte er einen halben Tag, als ihm Gretel untersagte, mit einer selbstgebastelten Schleuder auf Hasen zu zielen, und sie auch vom Bau einer Falle vielleicht für ein Reh nichts wissen wollte.
Nach vielen, vielen Tagen und Nächten, die sie gewandert waren, verkündete Gretel eines Morgens: „Heute, am späten Nachmittag, werden wir zu Hause sein.“
„Du spinnst“, sagte Hänsel und gähnte. Er wollte sich noch einmal auf die andere Seite drehen und weiter schlafen. Sie würden ja doch wieder – wie immer – wandern, essen, was sie unterwegs fanden und schließlich nach einem Schlafplatz Ausschau halten. Also wozu die Eile?
„Du musst aufstehen“, wurde er gestört, „wir müssen der Sonne folgen.“
„Sonne? Hier im dunklen Wald Sonne? Wie willst du dich hier nach der Sonne richten?“
„Es ist wichtig“, beharrte Gretel, „die Strahlen brechen sich je nach Uhrzeit auf andere Weise und lassen die Tannen anders leuchten. Ist dir das noch nicht aufgefallen? Gestern habe ich bemerkt, dass sie anders geworden sind. Also ist die Luft anders – und das bedeutet, dass wir uns dem Rand des Waldes genähert haben. Heute werden wir hinaus finden, aber es gelingt uns nur, wenn wir genau auf die Schattierungen achten. Sonst geraten wir wieder tiefer hinein“, setzte sie ihrer kleinen Rede hinzu.
Hänsel beobachtete sie mit offenem Mund. Er war noch nicht auf die Idee gekommen, seine Umgebung so genau zu betrachten. Er setzte sich auf, kratzte sich am Hinterkopf und überlegte. Es war einen Versuch wert. Einen besseren Plan hatte er nicht. Vielleicht würde es heute Abend ein ordentliches Mahl geben? Die Aussicht gab ihm Schwung. Er stand auf, reckte sich und griff nach dem Wanderstab, den er von einem Baum abgerissen hatte. Er leistete gute Dienste, wenn das Gestrüpp zu dicht wurde. Außerdem konnte er sich verstohlen darauf abstützen, wenn er bei den Wanderungen müde wurde. „Also auf“, rief er und startete.
Gretel hüpfte munter hinter ihm her. „Wir müssen da lang“, sagte sie und zeigte in eine bestimmte Richtung.
Er folgte ihrem Wink, obwohl er nichts besonderes erkennen konnte.
Als sie Walderdbeeren entdeckten, stürzte sich Gretel begeistert auf sie.
„Komm“, sagte er und winkte ungeduldig. Wozu sich nach diesen winzigen Dingern bücken, wenn sie doch bald einen gedeckten Tisch vor sich haben würden?
Doch Gretel naschte unbeirrt und zog schließlich ihre Bluse aus, band sie zu einer Tragetasche, die sie mit Walderdbeeren füllte. Wer weiß, wozu sie sie gebrauchen konnte.
„Hurra“, rief Hänsel schließlich, als sie wirklich an eine Lichtung kamen. Mehr als ein Dutzend kleine Hütten standen hier! Er stürmte geradewegs darauf zu.
Gretel hätte lieber unbemerkt beobachtet, aber nun war ihre Anwesenheit schon aufgefallen und sie folgte ihrem Bruder zögernd.
Tatsächlich kamen ihnen einige Menschen vage bekannt vor. Die Dorfbewohner blieben stehen und steckten die Köpfe zusammen. Einer lief davon und kam kurz darauf mit einem alten Mann wieder. Der schüttelte immer wieder mit dem Kopf. So standen sie sich gegenüber, die Dorfbewohner hatten einen Kreis um sie gebildet.
Schließlich kam eine sehr alt wirkende Frau hinzu. Kaum hatte sie sich an den anderen vorbei gedrängt und die beiden Neuankömmlinge beobachtet, als sie die Hände vor den Kopf schlug und laut zu schluchzen begann. „Meine Kinder“, rief, nein, weinte sie immer wieder. „Meine Kinder, meine Kinder.“
Der Mann hörte auf, angesichts diesen klaren Beweises, mit dem Kopf zu schütteln und trat zu der Frau, um seinen Arm um ihre Schulter zu legen und ihr so ein wenig Schutz zu bieten.
„Mama?“ Gretel trat auf die beiden zu. Sie knöpfte die Blusen-Tasche auf. „Schau mal, was wir euch mitgebracht haben“.
Als die Frau einen Blick auf die Waldfrüchte geworfen hatte, begann sie erneut zu heulen und dieses Mal reichte ihr Atem nicht einmal mehr für die Worte „meine Kinder“.
Der Mann musterte mit scheuem Seitenblick den Jüngling, der sein Sohn war, und nun näher trat. Hänsel hatte seinen Stock erhoben. Erst als er die Angst im Gesicht seines Vaters und das missbilligende Stirnrunzeln seiner Schwester sah, warf er ihn beiseite. „Da sind wir wieder“, sagte er.
Seine Mutter hörte auf zu weinen und schaute auf. „Kommt“, sagte sie und ließ sich von ihrem Mann zu ihrer Hütte führen. Es dauerte eine Weile, bis sie in der Lage war zu sprechen. Dann aber hieß sie die Kinder willkommen. Sie bedankte sich für die seltenen Früchte, die dem allzu kargen Auskommen der beiden willkommene Abwechslung hinzufügten und ließ es zu, dass Gretel den Garten übernahm.
Sie verriet nie, woher sie die Samen der sieben Königinnen hatte. Aber die heilende Wirkung ihrer Blüten-Getränke wurde schnell bekannt und so kamen von weit her immer mehr Menschen, um sie aufzusuchen. Darunter war auch einmal ein besonderer junger Mann, der um Hilfe für seine Schwestern suchte. Er kam noch oft wieder, obwohl niemand in seinem Ort mehr Hilfe benötigte, denn einmal gesund mit dem Saft der sieben Königinnen ist gesund für immer. Darauf angesprochen, gestand er Gretel seine heimlichen Gefühle und sie bauten sich zusammen ein neues Heim.
Auch Hänsel heiratete ein junges Mädchen und so wuchs ihr Dorf schnell zu einer fröhlichen Gemeinde heran.
Eines Tages, Gretel schaute im Garten nach den sieben Königinnen, als eine alte, alte Frau des Weges kam. Sie schleppte viele Blumen, Blüten und Samen und Gretel erkannte all die besonderen Heilpflanzen, die nur im Garten der Hexe wuchsen. Ein Schauer lief durch ihren Körper, denn sie befürchtete späte Bestrafung ihrer Flucht. Doch die Alte sagte kein Wort. In ihre Augen traten Tränen, als sich ihre Blicke trafen. Von einem Moment zum anderen sah Gretel wieder dieses Leuchten und die Alte wirkte wie ein hübsches Mädchen. Eine seltsame Liebe umfing sie beide wie eine große Glocke. Dann war der Moment vorüber. Die Alte legte ihre Gaben nieder und wandte sich um. Wohin sie gegangen ist, weiß niemand.
„Wer war das“, verlangte das kleine Mädchen zu wissen, das sich an Gretels Rocksaum geklammert hatte.
„Das?“ Gretels Blick folgte der krummen Gestalt, die Richtung Wald davon schlurfte. „Das war die gute Fee, von der ich dir erzählt habe“. Sie streichelte den Kopf ihrer jüngsten Tochter. „Schau, sie hat uns ihre Seele gebracht“, sagte sie und gemeinsam hoben sie die Blüten und Samen auf. Gretel konnte sie noch alle benennen und ihre Tochter las alle Informationen über die besonderen Heilwirkungen von ihren Lippen ab.
Sie strich über eine Blume und lachte, weil die ihre Haut kitzelte. „Die muss dich richtig lieb haben.“