1 Nathan
Während sie die Straße hinunter lief und der stärker werdende Wind die langen blonden Locken durcheinanderwirbelte und sie zum Tanzen aufforderte, bemerkte sie nicht, dass es langsam begann zu regnen. Ihr war schwindelig, sodass sie den Bürgersteig leicht wankend entlanglief. Die Luft war noch warm trotz der späten Stunde und obwohl der September bereits angebrochen war, konnte man den sommerlichen Duft noch wahrnehmen. Der Sommer trotzte dem Herbst als fiele es ihm schwer, sich zu verabschieden. Am Horizont bildete sich eine fast schwarze Wolkendecke, die ein starkes Unwetter versprach. Windböen wirbelten am Straßenrand liegendes Laub auf. Erst als sie am unteren Ende der langen Einbahnstraße ankam und das Tor zum Park erreichte, hielt sie inne. Vor dem eisernen Tor blieb sie stehen und das Gefühl von Schwindel wurde stärker. Als sie die Augen schloss, musste sie abrupt an den Jahrmarkt denken, den sie als Kind immer gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder besuchte.
Über Jahre hinweg behielten sie diese Tradition, sogar die Abfolge der Fahrgeschäfte hielten sie akribisch ein. Ihr Bruder bestand darauf, immer als erstes auf das Karussell zu gehen, anschließend auf die kleine Achterbahn und danach versuchten alle Vier ihr Glück am Schießstand. Nur selten schaffte es jemand von ihnen über einen Trostpreis hinaus. Worüber niemand wirklich traurig war. Es ging ihnen nie darum, etwas zu gewinnen. Einmal jedoch, im vierten Jahr ihrer Jahrmarkts-Tradition, schaffte es der kleine Max, einen 2 Meter großen Plüschbären zu schießen. Stolz wie Oskar trug er ihn über den ganzen Jahrmarkt und vergaß darüber sogar den traditionellen Abschluss am Zuckerwatten-Stand. Ihre Eltern teilten sich jedes Jahr eine große Tüte Popcorn, Max verschlang eine überdimensionale Zuckerwatte und Amelie entschied sich nach langen Überlegungen jedes Mal für einen Liebesapfel. Ihre Mutter kaufte anschließend immer noch zwei Tüten mit gebrannten Mandeln, eine für sich, die andere brachte sie ihrer besten Freundin vorbei, die im Nachbarhaus wohnte. Der letzte Besuch auf dem Jahrmarkt war nun dreizehn Jahre her. Und doch blieben ihr die Erinnerungen daran und verblassten nicht wie andere Erlebnisse aus ihrer Kindheit. Kein bisschen. Seitdem war viel passiert. Ihr Bruder Max kam bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben als er zwölf war. Es war ein Tag vor ihrem siebten traditionellen Jahrmarktsbesuch. Amelie war gerade fünfzehn geworden. Ihre Eltern trennten sich einige Monate nach dem Unfall und ließen sich scheiden.
Der Verlust ihres Bruders und die Trennung ihrer Eltern riss ihr den Boden unter den Füßen weg. Die folgenden zwei Jahre ihres Lebens waren eingehüllt in Dunkelheit. Sie kann sich nicht mehr an diese Zeit erinnern. So bunt und schön ihr Leben zuvor gewesen ist, voller glücklicher und zutiefst erfüllende und wohlige Erinnerungen, so dunkler waren die Jahre nach den Ereignissen. Sie zog sich zurück, ihre Freunde kamen immer seltener vorbei, nach einigen Monaten bekam sie gar keinen Besuch mehr und sie musste zudem die 10. Klasse wiederholen.
Dann kam Nathan. Ein amerikanischer Austauschschüler.
Er setzte sich an seinem ersten Tag in der Schule neben Amelie. Es gab für ihn auch nur eine andere Alternative. An dem Tisch vom dicken Olli war noch ein Platz frei. Schon immer. Niemand setzte sich je freiwillig neben ihn. Er war in der Klasse wenig beliebt, weniger, weil er dick war, sondern mehr, weil er ständig die Nase hochzog und permanent schwitzte und von der Existenz eines Deos keinerlei Kenntnis hatte. Unglücklicherweise schien er auch sonst nicht viel auf seine Körperhygiene zu achten und wechselte seine Shirts maximal einmal die Woche.
Als Nathan in die Klasse kam, war Amelie seit drei Monaten in der 10b. Anschluss dort hatte sie keinen gefunden, sie sprach mit keinem ihrer Mitschüler und brachte das Desinteresse an ihrer Umgebung zweifellos zum Ausdruck. Ihre neuen Klassenkameraden mieden sie und gaben sich keine Mühe, sich mit Amelie anzufreunden. Amelie war das nur recht. Unter Freunden spricht man über Dinge, über die sie unter keinen Umständen sprechen wollte. Sie wollte nicht gefragt werden, ob sie Geschwister hat, was ihre Eltern von Beruf sind und was sie für Hobbies hat. Mode, Party und Jungs interessierten sie nicht im Geringsten, nach der Schule saß sie zuhause in ihrem Zimmer in der kleinen Wohnung ihrer Mutter und vertrieb sich die Zeit mit Zeichnen, Musik hören und Surfen. Sie kochte abends das Abendessen, aß meistens schweigend mit ihrer Mutter in der winzigen Küche und verschwand danach entweder zurück in ihr Zimmer oder ging in den Park und schlenderte dort umher. Ihre Mutter gab sich zunächst große Mühe, um sie in Gespräche zu verwickeln, sie brachte ihr Armbänder, Ohrringe oder hin und wieder ein Top oder eine Hose aus der Stadt mit. Viele der Dinge hat Amelie nie getragen, obwohl man nicht behaupten kann, dass ihre Mutter hinsichtlich Mode einen schlechten Geschmack hatte.
Nathan ging an jenem Tag, nachdem Frau Spicks ihn der Klasse vorgestellt hatte, durch den Mittelgang bis ganz nach hinten des Raumes, wo Amelie saß. Als er vor ihrem Tisch stand, lächelte er sie an, zeigte auf den Stuhl neben ihr, auf dem ihr Rucksack lag, und fragte: „May I? I don’t think sitting alone is very exciting.“ Nachdem Amelie Nathan einige Sekunden angestarrt hat, nahm Nathan kurzerhand ihren Schulrucksack in die Hand und stellte ihn behutsam neben den Tisch, um sich zu setzen. Damit hatte Amelie nicht gerechnet, schaute leicht überrascht in Nathans immer noch lächelndes Gesicht. Dann streckte er die Hand aus: „Hey I’m Nathan. You don’t have to talk to me or tell me your name. I’ll find out anyway.” Sprach’s, zwinkerte ihr zu und richtete seinen Blick nach vorne. Allerdings hatte der Unterricht keinesfalls angefangen, die gesamte Klasse hatte sich das kurze Schauspiel gebannt angesehen und als wäre der nach vorn gerichtete Blick Nathans das Stichwort gewesen, begann Frau Spicks mit dem Unterricht.
Amelie öffnete die Augen, fixierte die große Kastanie hinter dem Tor und konzentrierte sich auf den dicken Stamm. Langsam verschwand der Schwindel. Konnte das möglich sein? Sie fixierte weiterhin den Stamm der Kastanie und war gerade im Begriff, das Tor zum Park zu öffnen, als vor ihrem inneren Auge abermals sein Gesicht erschien. Sie spürte wieder diesen Stich in der Brustgegend, als sie sich an den Moment, der keine Viertel Stunde her sein konnte, erinnerte. In der U-Bahn. Sie stieg aus, er stieg ein, nahm die gleiche Tür. Sie war die gesamte Fahrt über mit ihrem Handy beschäftigt, recherchierte für einen Artikel über die Herbsttrends in Punkto Lidschatten und Lippenstift und suchte nach passenden farblichen Outfits in den Online-Stores. Die Thematik langweilte sie, obwohl ihr Interesse an Mode in den letzten Jahren sehr groß geworden ist und sie viel in Kleidung und Accessoires investierte. Möglicherweise war das der Grund, warum ihr Chef sie aus heiterem Himmel mit einem solchen Artikel betraute. Das Smartphone in der Hand haltend hob sie ihren Kopf, um die U-Bahn zu verlassen und in diesem Moment trafen sich ihre Blicke. Für den Bruchteil einer Sekunde sahen sie sich an, da war der Stich in der Brustgegend, doch bis sie die Verbindung herstellen konnte und das Gesicht erkannte – vermeintlich erkannte – stand sie bereits auf dem Bahnsteig und die Türen schlossen sich. Sie drehte sich herum, als sich die Bahn in Bewegung setzte. Verzweifelt versuchte sie, die Gesichter in dem Wagon, den sie gerade verlassen hatte, zu erkennen und suchte das seine. Schnell, zu schnell beschleunigte sich die U-Bahn und verschwand im Tunnel. Ihr Blick suchte die Anzeigetafel am Gleis, doch dort war die Zielstation nicht mehr zu lesen, sondern kündigte bereits die nächste eintreffende Bahn an.
Amelie schüttelte ihren Kopf, als würde sie eine nervende Wespe vertreiben wollen, und verwarf den Gedanken. Unmöglich, sagte sie halblaut zu sich selbst. Unbewusst schaute sie noch einmal zurück in den Tunnel, in dem die U-Bahn verschwand und nahm den Ostausgang hoch zur Straße, während sie wieder zurück auf ihr Handy schaute und feststellen musste, dass das Internet unterbrochen wurde. Am Ende der Treppe steckte sie das Gerät in ihre Umhängetasche und steuerte auf das Café an der Ecke zu.