Prolog: Das lebende Labyrinth
Bereenga, das Reich der Dschungel, ist ein giftiges Labyrinth aus lebenden Pflanzen, unter dessen dichter Blätterkrone fremdartige Rufe schallen. Über die Hänge der Berge fluten die dichten Pflanzenmassen, ein tiefgrünes Meer, ganz anders als jedes Meer der Jenseitslande.
Die Luft ist schwül und feucht, was den Eindruck verstärkt, unter Wasser zu sein. Die Bäume rauschen im Wind wie Wellen am Strand. Größe Vögel durchteilen die Algenkronen wie Fische auf der Jagd.
Die Tiefen der Urwälder bergen unerforschte Geheimnisse, genau wie die Tiefsee. Je tiefer man hineingeht in die Dschungel, desto schneller schwindet das Tageslicht. Im Zwielicht schleichen gefährliche Jäger herum und lauern Kreaturen, die durch eine bloße Berührung töten können.
In diesem Land sind die Gesetze von Jägern und Gejagten streng. Wenn ein einziger Fehler den Tod bedeuten kann, werden die Lebewesen immer erfinderischer. Sie verstecken sich besser oder tragen die Warnungen ihres Giftes deutlicher zur Schau. Die Jäger erhalten größere Krallen und leisere Pfoten als Antwort.
Hier, verborgen vor der Welt, konnte sich eine andere Realität entwickeln. Ein Ort, so fremdartig, als hätte man eine andere Dimension betreten. Große Raubkatzen, zischende Schlangen, singende Frösche und kreischende Vögel – keines dieser Lebewesen sieht man, ehe es zu spät ist. Auf den ersten Blick ist der Wald grün und leer, verlassen, doch wimmelt es hier vor Leben. In Wahrheit gibt es nirgendwo in den Jenseitslanden so viele Lebewesen wie hier, nur sind sie getarnt und versteckt. Sie wimmeln unter der Rinde, kauern unter Blättern, verstecken sich im Geäst. Zwischen den Wurzeln und Steinen liegen Höhlen, aus denen wachsame Blicke jede Bewegung verfolgen. Andere Wesen verstecken sich direkt vor den Augen des Betrachters, getarnt als Blätter, Zweige oder wunderschöne Blüten. Nichts in Bereenga ist, wie es scheint.
Oylen ja Bereenga, die Perle des Dschungels, verbirgt sich irgendwo in der Ferne. Keine Karte weist zu ihrer Position. Kein Pfad existiert, denn jede geschlagene Schneise wird in kürzester Zeit von Pflanzen geschlossen, manchmal gar nach Stunden. Die Dschungel dulden nicht, dass äußere Mächte ihre Gestalt wandeln. Sie verweigern sich jeder Veränderung. Deshalb sind ihre Bewohner auch so schnell bereit, Kalynor anzugreifen. Sie hassen jede Macht, die ihnen ihren Willen aufzwingen will, und Kalynor ist eine solche Macht. Folglich richtet sich der Hass der Bereengi auf diesen Feind, auf die Eroberer, die einst mit Äxten und Sägen an die Grenze ihres Landes klopften.
Die Wiesen, die sich vor den Dschungel erstrecken, künden noch von dieser Zeit. Eine harsche Linie der Bäume erhebt sich dort, davor stehen nur einzelne, junge Pflanzen im Gras, tapfer behaupten sie sich zwischen den Stümpfen ihrer gefallenen Ahnen. Dieses Land ist für den Dschungel verloren, auch wenn Kalynor mit Gift und Speer vertrieben wurde. Die Bäume können zwischen den Gräsern keinen Fuß mehr fassen. Denn der Kampf, der im Inneren der Dschungel tobt, tobt nicht nur zwischen Tieren. Auch die Pflanzen bekämpfen einander, sie würgen und vergiften, sie ertränken ihre Konkurrenten in Schatten. Auf den Wiesen haben die Gräser diese Lektion gelernt, nur wenige Bäume können sich hier behaupten.
Es wird Jahre dauern, Jahrzehnte, bis diese Wunde wieder verheilt ist. Und so lange wird der Groll auf Kalynor existieren, der Zorn der Dschungel.
Dieses Land weiß um den Wert eines jeden Baumes, der tausenden Seelen ein Zuhause bietet. Der Verlust so vieler muss gesühnt werden. Wenn keine Macht kommt, um sie aufzuhalten, werden die Bereengi Gift und Flamme senden.
Und nun kam keine Nachricht mehr aus den Tiefen der Dschungel zurück. Ein Schweigen, das nichts Gutes bedeutet …