Du bist Brenna Sundergeer.
Nach einer wochenlangen Reise steht ihr endlich vor einer undurchdringlichen, grünen Wand, dem Dschungelreich, das sich sehr abrupt an die Wiesen anschließt.
Bis eben wart ihr auf endlosen Feldern dichten, hohen Grases. Es reicht euren Pferden bis zum Bauch. Deine Duma watet voran wie durch Wasser. Atesh – der neben deinem Bruder auch Aji trägt, folgt in der Schneise, die dein Kaltblut gegraben hat und die sich kurz hinter euch wieder schließt.
Jeder Schritt stört die Insekten auf, die hier leben. Wolken weißer, winziger Motten schwirren um euch herum. Es ist Nachmittag, die Luft glühend heiß und erfüllt vom Gesang der Grillen. Eure beiden Kaltblüter schnaufen hörbar. Das Maultier, welches mit eurem Gepäck hinter Arthrax folgt, ist etwas leiser.
„Das muss es sein“, murmelst du schließlich. „Grün und undurchdringlich, genau, wie Karja es gesagt hat.“
Du bremst Duma. Arthrax treibt Atesh neben sie und so betrachtet ihr die Dschungel eine Weile. Wogen und Hügel aus Grün erstrecken sich vor euch, so weit das Auge sieht, über die Hänge mehrerer Berge. Die Dschungel fließen wie eine Decke über das Land, und wohl auch hinter den Bergen weiter, von denen nur einige weiße Gipfel durchbrechen.
Was darunter liegt, könnt ihr nicht erkennen. Du siehst zu deinem Bruder und dem jungen Zauberlehrling herüber.
„Da müssen wir wohl rein …“
„Immerhin ist es mal keine Wüste.“ Arthrax lächelt schief. „Hier gibt es mehr als genug Deckung für uns.“
„Ja – aber für unsere Feinde auch!“ Du schüttelst den Kopf. Wie immer sieht Arthrax nicht über seinen Tellerrand hinaus. Er hat auch nicht verstanden, wieso du einen Umweg durch die Grenzgebiete von Barkan’dor nehmen wolltest. Doch so habt ihr euch den Dschungeln östlich der großen Schlucht genähert, die das Land davor zeichnet. Eine Spalte, die sich von Bereenga bis zur Grenze von Kalynor zieht. Ihr wärt eigentlich auf der Westseite gereist, am Graumeer entlang, doch damit hätten die Bewohner der Dschungel sicherlich gerechnet. Die Bereengi – so heißen sie laut Karja – werden ahnen, dass ihr herkommen wollt. Abgesehen von Flutheim ist dies das letzte Jenseitsland, was noch einen Stein besitzt – nun, es gibt noch den Aventurin im Reich der Drachen, doch mit Drachen könnt ihr euch nicht anlegen. Das wäre Selbstmord. Also bleiben nur diese beiden Optionen, wo man euch sicherlich erwartet.
Hier scheinen jedoch keine Wachen zu stehen. Du hoffst, dass deine List geklappt hat. Über die Pfade der Zwerge, die du ja gut kennst, konntet ihr euch von der Seite nähern. In Barkan’dor glaubt man, dass ihr nicht so bald zurückkehren würdest, also konntet ihr dort an den Wachen vorbeischlüpfen. Wie Karja es einmal sagte – wer ihre Straßen benutzt, ist den Zwergen ziemlich egal. Solange ihr nicht mehr in das Bergkönigreich wollt.
Mit sanftem Schenkeldruck treibst du Duma wieder an. Dein Tinker und Arthrax‘ braunrotes Tier mit der weißen Mähne marschieren weiter auf die Wand zu, die den Dschungel abtrennt. Hier gibt es Pflanzen, deren Blätter einem gut als Hut dienen könnten. Sie sind etwa viermal so groß wie dein Kopf. Doch es gibt auch Pflanzen mit fingerlangen, schmalen, gewundenen Blättern und andere mit ganz gewöhnlichem Laub, Farne, rankende Lianen, dichte Pflanzenvorhänge, die von den Ästen höherer Kronen wehen.
Die Dschungel liegen zwischen den Ländern, die ihr zuletzt besucht habt, allerdings ein wenig zurückgezogen in die obere Ecke der Landkarte. Wie Karja euch erklärte, erstreckten sich die Dschungel einst bis fast an Kalynors Grenze, doch diese Zeiten sind vorbei.
Die Blätter teilen sich vor dir. Du tauchst hinein in eine ganz andere Welt. Plötzlich kannst du kaum eine Armlänge weit sehen. Laub und Äste versperren dir die Sicht. Die Luft ist nicht mehr nur warm, sie ist schwül und dick. Die Feuchtigkeit hat sich unter den Blättern gestaut, die allerdings auch einen Teil der Hitze abhalten. Es fühlt sich jedoch an, als würde kein Windstoß sich je zwischen diese Stämme verirren.
„Brenna?“, ruft Arthrax irritiert.
„Leise! Ich bin direkt vor dir.“ Bei den Göttern, er ist wie ein Welpe, den man nicht alleinlassen kann!
„Wie sollen wir uns hier zurechtfinden, ganz zu schweigen von einer Stadt?“
„Eine komplette Stadt zu finden, kann nicht so schwierig sein“, widersprichst du. „Selbst nicht gefunden zu werden, ist eine andere Sache. Also sei still!“
Ihr reitet tiefer in den Wald. Das Licht ist sattgrün und dunkel, gefiltert von den vielen Laubschichten über euch. Als wärt ihr im Inneren eines Smaragds.
Es ist nicht besonders leicht, hier zu atmen. Die Luft ist zum Schneiden dick. Du spürst schnell, wie dir der Schweiß über den Rücken rinnt, und Dumas Atem geht schnaufend. Die Pferde können sich kaum durch das Gewirr aus schmalen Stämmen, Lianen und Wurzeln wühlen.
Als Duma zum dritten Mal innerhalb weniger Minuten stolpert, hältst du an. Dein Kaltblut schnaubt, als Atesh ihr auf den Hintern rückt.
„Was ist? Echt heiß hier, was?“
„Mit den Pferden kommen wir so nicht weiter“, sagst du nachdenklich. „Arthrax … ich glaube, wir sollten sie auf den Wiesen lassen.“
„Was? Meinen treuen Atesh, einfach zurücklassen?“ Entgeistert sieht er dich an. Einige Blätter hängen zwischen euren Gesichtern nach unten. Ihr sitzt halb in den hängenden Lianen.
„Denk mal nach. Der Vorteil der Pferde liegt in ihrer Geschwindigkeit. Aber hier können wir nicht galoppieren. Sie würden sich die Beine brechen oder wir würden von irgendwelchen Ästen aus dem Sattel geschlagen werden. So hat es keinen Sinn. Wir lassen sie draußen zurück, wo sie genug Nahrung finden sollten.“
Dein Bruder verzieht missmutig den Mund.
„Ich denke, sie hat recht“, sagt Aji leise. „Wir kommen zu Fuß schneller voran als auf den Pferden.“
Arthrax seufzt. „In Ordnung.“
Ihr kehrt um. Den Dschungelrand zu finden, ist gar nicht so einfach. Zwar seid ihr nicht weit geritten, höchstens einige Minuten, ihr sucht jedoch fast eine Stunde. Es gibt keine Spur von eurem Weg hindurch. Das Dschungel ist überall gleich dicht. Auch den Ausgang könnt ihr nicht sehen, nur grünen Bewuchs. Als Arthrax schließlich endlich durch Zufall nach draußen stolpert, musst du seiner durch das Grünzeug gedämpften Stimme folgen, obwohl du kaum einen Steinwurf entfernt warst. Es hätten ebenso gut tausend Meilen sein können.
Eure Sättel und alles weitere, was zu schwer zum Tragen ist, vergrabt ihr am Fuß eines besonders auffälligen, einsamen Baumes auf den Wiesen. Ihr nehmt nur die Satteltaschen des Maultiers mit, die ihr wie Rucksäcke tragen könnt, da sie eure Vorräte an Wasser und Nahrung enthalten.
Außerdem habt ihr eure Schlafrollen und die Waffen dabei, aber nicht viel mehr. Arthrax lässt beispielsweise sein Rasierzeug zurück. Vieles wollt ihr nicht weiter mit euch herumschleppen.
Aji streicht über ein in Leder gebundenes Buch, bevor er es ebenfalls in der Erdhöhle versenkt. Das hat er von Allyster, und trotz allem scheint ihm der Abschied schwerzufallen.
„Wir sollten vielleicht auch noch eine Kleinigkeit schreiben“, schlägt er vor. „Nur, dass sie wissen, dass wir jetzt hier sind.“
Du nickst. Zwar hast du niemals schreiben gelernt, aber der Junge wurde ja von Allyster ausgebildet. Also gönnt ihr euch eine weitere Stunde, um euch von der Hitze im Dschungel zu erholen, während Aji eine kurze Botschaft an seinen Meister schreibt.
Die Amsel begleitet euch schon einige Tage und hüpft sofort herbei, als der Zauberlehrling genau wie sonst Elred pfeift. Aji bindet ihr den Brief um und gibt ihr noch einige Nüsse.
„Such dein Herrchen“, flüstert er dem schwarzen Vogel zu. „Sag ihm, dass es uns gut geht.“
Ob es ihm wirklich um Elred geht? Du hast einen anderen Verdacht, aber du schweigst dich aus.
„Was hast du geschrieben?“, fragst du stattdessen, als die Amsel sich in den Himmel schwingt und südwärts fliegt.
„Nur das Übliche. Wir sind am Dschungel, alles super heiß, keine Ahnung, wo Oylen liegt …“
„Keinen Gruß?“
„Na ja … doch, schon.“ Er sieht geradezu schuldbewusst auf. „Wir haben uns zwar nicht unter den besten Umständen getrennt, aber die drei sind immer noch unsere Freunde.“
Du wuschelst ihm durch das Haar, was der Kleine mit einem ärgerlichen Laut abwehrt. Das ignorierst du allerdings und wendest dich stattdessen dem Dschungel zu. Die Wipfel rauschen sacht im Wind. Schwärme bunter Vögel kreisen unter Gekreisch in der Ferne.
Schon dieser kurze Ausritt hat dir gezeigt, wie sehr ihr ihn unterschätzt habt. Der Wald ist heiß und dicht. Dort kommt ihr nicht einfach so hindurch. Ihr werdet den Urwald deutlich langsamer angehen müssen. Und ihr solltet euch Markierungen machen, um den Rückweg zu finden.
Du holst dein Messer heraus. „Ich finde, wir sollten die Stämme mit Kerben versehen.“
„Wieso? Damit die Bereengi merken, dass wir da sind?“
Wie immer hat Arthrax noch nicht an den Rückweg gedacht! „Nein, du Leuchte, damit wir wissen, wie wir am Ende wieder da raus kommen.“
„Du meinst, die Pflanzen haben so eine Kerbe dann noch nicht überwuchert?“ Kopfschüttelnd sieht er dich an. „Wir geben nur unseren Feinden eine Spur, wie sie uns finden können.“
Du merkst, wie dein Blutdruck wieder steigt. Es war eine dumme Idee, mit Arthrax zu gehen. Er ist so ein Idiot! Wegen allem müsst ihr streiten, selbst wegen so einer Kleinigkeit.
„Wie willst du unseren Weg denn markieren?“
„Gar nicht. Wenn wir raus wollen, müssen wir eben einem Bach oder so folgen. Die fließen immer zum Meer.“
Du greifst dir an den Kopf. „Ja, aber das Meer ist im Westen! Und unsere Pferde sind hier.“
„Deshalb hätte ich sie auch nicht zurückgelassen!“ Zornig sieht er dich an. „Müssen wir halt aus dem Westen hier rüber latschen, weil Madame wieder schlau sein wollte.“
„Schlau sein …“ Du japst nach Luft. „Spinnst du eigentlich?“
„Leute!“, unterbricht Aji euch. „Wenn ihr so laut brüllt, brauchen wir uns darum bald nicht mehr zu kümmern, wenn ihr versteht.“
Du nickst einsichtig. „Stimmt. Arthrax, halt die Klappe.“
„Halt selbst die Klappe!“
„Können wir uns einfach mal ohne Streit einigen?“, bittet der Junge genervt.
Du solltest die Vernünftige sein. Das musst du sowieso immer sein, wenn du mit Arthrax unterwegs bist.
Du …
- … setzt dich mit den Kerben durch. Lies weiter in Kapitel 2.
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- … gibst mit einem Seufzen nach. Lies weiter in Kapitel 3.