Was wäre, wenn … Aji die Nacht allein überlebt?
Fortsetzung von „Verloren in den Wogen des Krieges“, Kapitel 12.
Irgendwie überstehst du die Nacht. Die glühenden Fische umkreisen dich weiter, doch Allyster und Arthrax können sie vertreiben. Wieder und wieder wedeln sie mit den Armen, um die kreisenden Kreaturen abzuwehren.
Du weißt gar nicht, ob du ihnen bewusst den Befehl dazu gibst. Schon lange kannst du keinen klaren Gedanken mehr fassen. Du kauerst auf der Erde, umklammerst den Ametrin und spürst heiße Tränen auf deinen Wangen. Deine Arme zittern und hinter deinen Schläfen pocht ein hartnäckiger Schmerz.
Irgendwann wird es still. Du siehst dich blinzelnd um und stellst fest, dass du deine Umgebung erkennen kannst. Die Sonne ist aufgegangen! In ihrem Licht kannst du die grünen Palmen auf den Klippen erkennen, das Farngebüsch, die Blüten. Im hellen Sonnenschein ist das Meer am Fuß der Klippen azurblau. Es gibt keine Spur des Geisterschiffes, die Wellen sind nicht einmal besonders aufgewühlt. Unten leuchtet der Sand golden.
Du wendest dich zu Allyster und Arthrax. Sie sehen gar nicht so anders aus. Vielleicht ein wenig steif, reglos, jetzt, da sie dich nicht mehr beschützen müssen.
„Was sollen wir denn jetzt machen?“, fragst du deinen Mentor leise.
Doch Allyster gibt dir keine Antwort. Auch Arthrax kann das nicht mehr. Du weißt, dass sie tot sind, auch wenn sie sich dank des Ametrins noch bewegen können. Vielleicht ist dies der Moment, um die beiden freizugeben. Doch dann wärst du ganz allein in diesem Land der Täuschungen! Nein, du willst sie erst einmal mitnehmen. Als Beschützer.
Mit den beiden Wachen kehrst du zum Strand zurück, und schließlich zu der Bucht, in der Siwa Ekana euch treffen wollte. Der Graumeerer kommt mit einem breiten Lächeln auf dich zu.
„Wie schön, dass ihr es geschafft habt! Also gut, meine Freunde, hier sind eure …“ Er stockt, als Allyster keine Anstalten macht, den merkwürdigen Schlauch entgegen zu nehmen, den Siwa ihm hinhielt.
„Ähm. Ich nehme das.“ Du trittst vor. „Was ist das?“
„Ein Pikun? Er hilft euch, unter Wasser zu atmen.“ Siwa runzelt die Stirn. Nachdem er dir eines der Geräte gegeben hat, versucht er wieder, deinen Begleitern etwas zu reichen.
„Sie … brauchen das nicht mehr“, sagst du leise.
Siwa senkt die Brauen verwirrt – dann reißt er die Augen plötzlich auf, als er etwas in Allysters Blick bemerkt. Oder eher, das Fehlen von etwas. Erschrocken taumelt er zurück. „W-was ist passiert?“
„Es war …“ Mit einem Mal zittert deine Stimme. Dein Hals ist wie zugeschnürt, kein Wort passt heraus. Du versuchst, dich mit einigen Atemzügen zu beruhigen, um Siwa alles ruhig zu berichten, aber stattdessen brichst du in Tränen aus.
„Hey, Kleiner … ganz ruhig …“ Der Graumeerer tritt neben dich und zieht dich vorsichtig in seinen Arm. Eine ganze Weile lässt du dich nur halten, von den Tränenkrämpfen geschüttelt. Irgendwann bist du nach der Nacht und dem Weinen so erschöpft, dass deine Tränen versiegen. Unglücklich erzählst du Siwa alles, was passiert ist.
„Die Geisterschiffe bestehen aus fliegenden Fischen? Ich … ich denke, du bist der erste, der davon berichten kann. Was habt ihr euch bloß dabei gedacht, nachts herumzulaufen? Ich hätte euch deutlicher warnen müssen …“ Reuevoll sieht der Graumeerer dich an. Er legt seine Hände um dein Gesicht und wischt deine Tränen ab. „Es tut mir so leid, Aji! Niemand hier geht nachts nach draußen. Das ist die Zeit, in der die Dämonen herauskommen.“
„Dämonen …“, wiederholst du leise.
„Die Nacht fordert ihren Tribut“, meint Siwa mit düsterer Stimme. „In Blut und Fleisch.“
°°°
Nach einer Weile erinnerst du dich an die drängende Aufgabe. Ihr müsst den Schöpferstein des Graumeers finden. Der Selenit befindet sich in einer Stadt unter den Wellen, die in den Felsen gegraben ist, auf dem sich die Insel befindet. Dafür brauchst du den Pikun. Das Gerät ermöglicht es dir, unter Wasser zu atmen. Siwa Ekana dagegen kann als Graumeerer auch über Kiemen atmen, und Allyster und Arthrax, die dir schweigend folgen, benötigen keine Luft mehr.
Den Diebstahl führst du wie unter Hypnose aus. Du gehorchst Siwas Befehlen. Allyster und Arthrax benutzt du als Ablenkungen, um an den Wachen vorbeizukommen. Allmählich spürst du, wie die Nutzung des Ametrins an deinen Kräften zerrt. Nachdem du mit Siwas Hilfe aus der Stadt unter den Wellen entkommen bist, schläfst du noch am Strand ein.
Ihr habt zwar den Schöpferstein bekommen, doch Triumph fühlst du deshalb noch lange nicht.
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„Aji? Aji, wach auf!“
Siwa rüttelt an deiner Schulter. Du weißt nicht, wie lang du geschlafen hast, aber es war sicherlich nicht lang genug! Es wird gerade dunkel. Da ihr den Großteil des Tages unter Wasser verbracht habt, hattest du höchstens einige Stunden Ruhe.
„Der Diebstahl wurde gemeldet“, erklärt Siwa dir in gedämpftem Tonfall. „Wir müssen weg.“
Schlaftrunken folgst du ihm, als du merkst, dass Allyster und Arthrax noch schlafen. Du drehst dich um – und die Erkenntnis trifft dich wie ein Schlag vor den Kopf. Einen Moment sackt dir das Herz in den Bauch, dir wird übel. Tränen wollen deine Sicht verschwimmen lassen. Rasch umfasst du den Ametrin und aktivierst den Zauber erneut.
Dein Mentor und der Krieger erheben sich mit ungelenken Bewegungen. Dir weht ein vertrauter Geruch in die Nase, der kühle Hauch der Verwesung. Es ist ein klarer Geruch, es stinkt nicht. Jedenfalls noch nicht. Doch du bist sicher, dass die Totenstarre zuvor nicht eingesetzt hatte, während deine Gefährten sich jetzt kaum bewegen können. Ihre Beine und Finger sind tiefrot, teilweise lila.
Doch darum wirst du dich später kümmern. Erst einmal konzentrierst du dich darauf, die beiden Söldner hinter Siwa her zum Schiff zu dirigieren. Der Segler ist in die verborgene Bucht gefahren, in der du auch geschlafen hast. Ein Ruderboot bringt euch vier hinüber. Dann stellst du fest, dass du die Leichen nicht dazu bringen kannst, die Leiter hinaufzusteigen. Der Befehl übersteigt ihre Möglichkeiten.
„Ich weiß, dass du ihnen vermutlich ein gutes Begräbnis verschaffen willst“, sagt Siwa langsam. „Aber das hier kostet uns viel Zeit.“
„Hol ein paar Taue“ sagst du grimmig. „Deine Männer sollen sie festbinden!“
Schließlich zieht ihr die Körper deiner Freunde über die Bordwand hinauf. Dir fällt auf, dass du Arthrax die beiden Schöpfersteine immer noch nicht abgenommen hast. Du lässt den Krieger nach dem Ammoniten und dem Vesuvian greifen. Im Griff von Brennas Bruder bleiben beide Steine dunkel. Sie erkennen einfach nicht, dass es immer noch Arthrax ist!
Nachdem beide an Bord sind, gehst du mit deinen Gefährten in den Bug und überlässt die Rückreise Siwa. Er steuert eine nahe Insel ein, sodass ihr die Nacht nicht auf dem offenen Meer verbringen werdet, aber auch nicht in der Reichweite der Wachen bleibt.
Irgendwann fallen dir, auf einer Rolle Taue zusammengekauert, die Augen wieder zu.
°°°
Du erwachst unter einer Decke, die du noch nie gesehen hast. Doch du beachtest sie kaum. Es ist mitten in der Nacht, nur einige Schiffslaternen leuchten. Im Dunkeln tastest du panisch nach Allyster und Arthrax. Sie sind ohne die Kraft deines Zaubers wieder in sich zusammengefallen! Die Totenflecken haben sich sofort ausgebreitet.
In Panik ergreifst du den Ametrin und sendest alle Kraft hinein, die du in deinem müden Zustand aufbringen kannst. Denn solange deine Magie sie am Leben erhält, ändern sich die Leichen nicht. Du kannst die Verwesung aufhalten!
Sobald sich die beiden Söldner zu deinen Seiten aufgerichtet haben, holst du Wasser, um ihre Glieder damit zu waschen. Die Kälte sollte ebenfalls helfen. Dann sitzt du im Bug, gegen die Nachtluft in die Decke gekauert, und betrachtest die Schwärze jenseits der Reling mit juckenden Augen.
Das Schiff liegt in einer Art Bucht, durch Felswände vor dem Ozean geschützt. Doch durch die Lücke zwischen den Steinen kannst du das Meer sehen. Rote Lichter tanzen über die Wellen, die hier und da in hellem Blau und Türkis aufblitzen. Du siehst Schwärme leuchtender Quallen vorbeiziehen und hörst die Rufe krächzender, rotäugiger Vögel. Silbrige Fische flüchten vor einem riesigen Schatten, einem zahnbewehrten Fisch auf dessen Stirn eine an einem Tentakel befestigte Laterne glüht.
Du zwingst deine Augen auf und konzentrierst dich auf das merkwürdige Geschehen draußen auf der See, um nicht einzuschlafen.
Und so hältst du es auch am Tag, wo du dich mehr auf die Mannschaft konzentrierst, und in den Nächten darauf. Bis ihr zwei Tage später in Krabvest ankommst, schläfst du nur ab und zu für eine Weile ein, schreckst aber jedes Mal rasch aus den Albträumen auf, um deine Gefährten zu retten.
Siwa Ekana begleitet euch drei zurück in die Stadt.
„Ich schätze, du sagst mir nicht, wo der Rest von meinem Gold ist, oder?“, fragt dich der Kapitän resigniert.
„Ich weiß es nicht“, gibst du zu. Du siehst zu Allyster, doch auch er verrät das Geheimnis nicht.
„Nun gut … Was hast du jetzt vor?“
„Ich bringe den Selenit zur Taverne.“ An dem Plan hat sich nichts geändert. „Dort warte ich, bis die anderen da sind. Dann …“
„Aji. Ich meinte … die beiden.“ Siwa gestikuliert zu Arthrax und Allyster.
„Na, sie kommen mit mir.“ Verwirrt siehst du den Graumeerer an. „Allyster ist doch mein Mentor, er muss mich weiter ausbilden. Und Arthrax will seine Schwester wiedersehen.“