Unmöglich. Brachten die Sitzbänke etwa mehr Gewicht auf, als Sasha?
Mit aller Kraft zerrte und zog er an einer Sitzreihe. Nach ungefähr 5 Metern blieb sie hängen. Sie musste hängen geblieben sein, denn sie bewegte sich keinen Millimeter mehr. Weder vor noch zurück.
Sasha lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die schwarzen Sitzbänke. Nichts passierte. Dann krallte er sich an das Metallgestell und legte sich fast senkrecht nach hinten. Wieder nichts. Seine schicken Schuhe schlitterten über den glatten Boden. Von all der Anstrengung färbte sich sein Gesicht rot.
Trotz der großen Panoramafenster fiel nur so viel Sonnenlicht herein, wie nötig. Und darüber war Sasha erleichtert. Ansonsten würde die Sonne ihn in seiner Jacke grillen. So war es kühl. Ein leichter Windhauch streifte seine verschwitzte Stirn. Klima sei Dank wurde es trotz der vielen Menschen nie stickig im Flughafengebäude.
Mit verschränkten Armen und einem gemeinen Lächeln auf dem Gesicht, sah Igor ihm zu. Er dachte nicht daran dem Blonden zu helfen.
„Fünf“, krächzte Sasha zum hundertsten Mal. „Fünf!“
Es machte keinen Unterschied. Egal, wie oft er das sagte. Die Stühle taten ihm nicht den Gefallen, sich noch zwei Meter weiter zu bewegen.
Als der Fußballer sich zu langweilen begann, trat er näher, beugte sich vor und setzte ein humorloses Lächeln auf.
„Soll ich dir helfen?“
Sasha stand auf und richtete sich die Kleidung. „Ja, sei so lieb.“
Igor war kein Muskelpaket. Sein Körperbau war schlank. Allerdings war er bei weitem nicht so schlaksig, wie Sasha. Der Brünette hatte lange Beine, Arme und Finger. Die besten Voraussetzungen, um ein schneller Läufer zu sein.
Ohne Sashas Hilfe schob der Brünette die Sitzbänke mit einem Ruck weiter. Zufrieden nickte der Flughafenangestellte und klopfte sich die Hände ab, als hätte er die ganze Arbeit allein getan.
„Genau 7 Meter.“
Vorsichtshalber zählte Sasha noch einmal nach. Zufrieden betrachtete er sein improvisiertes Tor, als er sich siegessicher neben Igor stellte. Sie hatten eine Sitzbank zur Seite geschoben, sodass der ebenmäßige Durchgang an schwarzen Sitzen eine deutliche Ausbuchtung bekam. Wenige Passanten saßen in den ersten Reihen. Doch sie waren weit entfernt von seinem Tor. Zusammen mit Masha zog Sasha ein breites Absperrband in die Mitte des Tores und klemmte es dort zusammen. Schließlich musste auch die Höhe stimmen.
„Viel Platz, was?!“
Igor zog einen Mundwinkel hoch, verdrehte die Augen und warf ihm einen genervten Blick zu.
Provokant streckte Sasha die Arme aus und wiederholte: „Eine menge Platz, was?“
„Ja“, knurrte Igor, damit der Dummkopf endlich seine Klappe hielt.
Doch der Blonde dachte nicht daran. Mit seiner Schulter stupste er den Fußballer an und brachte ihn damit fast aus dem Gleichgewicht.
„Na, Igor Petrowitsch. Such dir eine Seite aus. In welche Ecke soll ich schießen?“, theatralisch gestikulierte der Blonde mit den Händen wie ein Showmaster auf der Bühne. Es fehlte nur die obligatorische Verbeugung vor seinem Publikum.
Für alle anderen wäre der Blick, den Igor Sasha zuwarf niederschmetternd gewesen, nicht aber für den Blonden. Lässig grinste er dem Fußballer entgegen, während er siegessicher die Hände in die Hüften stemmte.
„Suche‘s dir selbst aus. Nur müssen es 10 von 10 werden“, grollte der Fußballstar und suchte sich einen guten Platz aus, von wo er alles sehen konnte, aber nicht Gefahr lief von einem Amateur, wie Sasha, mit dem Ball abgeschossen zu werden.
Sasha schnaufte. „Und wenn es 11 von 10 werden sollen.“
Er nahm seiner Kollegin den Ball ab, den sie in ihren Händen hielt. Sie hatte ihn extra für sein kleines Spiel besorgt.
„Masha, stell dich ins Tor.“
„Hört mal Sash‘...“, kurz hielt sie inne, als sie sich aus ihrer Jacke zu schälen versuchte. Ungeschickt blieb sie an einem Knopf hängen. „Hilfst du mir mal, sei so süß?“, sagte sie nebenbei zu Igor gewandt. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und schüttelte auffordernd ihre blaue Jacke.
Genervt erhob sich der Brünette aus seiner sitzenden Position, zog ihr die Jacke von den Schultern und ließ sich mit dem Kleidungsstück über dem Arm wieder zurück in die Polster fallen.
„Du solltest dich beeilen, Sasha“, sagte Masha währenddessen zu ihrem Kollegen und schlüpfte aus ihren Pumps. „Gleich kommt der nächste Flug. Wir werden ihn noch verpassen.“
Mit seinem spitz zulaufendem Herrenschuh klopfte Sasha auf dem Boden, was Igor ein amüsiertes Schnauben entlockte.
„Sieh bloß zu, dass du mit deinen schicken Ballerinas nicht den Ball durchlöcherst“, grinste der Fußballer schadenfroh. Mit solchen Schuhen zu schießen, war lächerlich. Wohlige Wärme des Sieges breitete sich in Igors Bauch aus.
„Hör mal Sash‘.“ Nachdenklich betrachtete Masha ihren Kollegen. Ihr Lächeln schwand ein wenig, als sie die hübschen, schwarzen Lederschuhe an Sashas Füßen musterte. „Er hat recht. Pass bloß auf den Ball auf. Ich muss ihn naher noch in den Shop zurückbringen. Der ist nur geliehen.“
„Mache ich“, winkte er ab, dann drehte er sich zu Igor. „Klar, ich hab nicht solch‘ modernen, angesagten Bootes. In Rosa. Aber hey, wenigstens treffe ich mit dem Ball das Tor.“
Frech grinste er den Fußballer an und entlockte diesem ein Schnaufen. Das gestellte Lächeln auf seinem Gesicht drückte deutlich aus, für was für ein Arschloch er Sasha hielt. Wie konnte man nur so unverschämt sein?
Ein Knall. Und der Ball zischte durch die Luft.
Tor.
Der erste Schuss saß. Auch der Zweite und der Dritte. Ein Ball nach dem anderen flog durch das improvisierte Tor und ließ Masha aufkreischen. Nicht selten kniff sie die Augen zusammen und drehte sich von dem Ball weg. Kein einziger Schuss ging daneben. Sie bat Sasha drum aufzupassen, doch dieser hatte viel zu viel Spaß seine kleinen Tricks zu demonstrieren.
Der nächste Ball prallte an der Sitzbankreihe ab, drehte sich elegant nach oben, und ging in die rechte obere Ecke durchs Tor. Irritiert und überrascht sprang Igor auf. Er konnte seinen Augen nicht trauen. Bis Masha den Ball zurückholte, hatte er sich wieder gesetzt, um beim nächsten Schuss erneut empört aufzuspringen.
Wie ein Kleinkind freute sich Sasha über den eingelochten 7. Schuss. Sauber flog der Ball durchs Tor. Erschreckt fiepte Masha auf. Halb vor Freude. Halb vor Angst.
Sasha hob die Hand zu einem High-Five, doch nach dem wütenden Blick auf Igors Gesicht wandelte er die Bewegung durch das Krümmen seiner Finger schnell zu einem Winken um.
Sicherlich war Masha nicht die beste Torwärterin. Als sie fast einen Spagat in ihrem Rock hinlegte, um nicht von dem Ball getroffen zu werden, drängte Igor sie aus dem Tor. Er wollte es Sasha nicht zu leicht machen. Frustriert griff er mit den Händen nach dem Ball. Mit seinem langen Körper und Armen hätte es ein Leichtes sein müssen, den Ball zu fangen. War es aber nicht.
Haarscharf zischte der Ball an seiner Wange vorbei. Ungläubig ließ Igor die Schultern nach dem 12. Ball hängen. Allerdings lag es nicht in seiner Natur, sich so schnell geschlagen zu geben. Schon gar nicht von einem solchen Angeber. Auffordernd winkte er dem Blonden zu, worauf gleich der nächste Ball in seine Richtung geflogen kam. Und wieder verfehlte Igor ihn.
„Okay! Genug!“, rief der Fußballer frustriert aus. Kapitulierend hob er die Hände. Er hatte keine Zeit für diesen Kindergarten. So würde er noch seinen Flug verpassen.
„Ich glaub‘s nicht“, sagte er zu sich selbst, während er die beiden Flugangestellten beobachtete. Freudig lagen sie sich in den Armen. Einem Hundewelpen gleich lachte und quietschte Masha in Sashas Halsbeuge. Beide sprangen auf und ab, wie zwei Kinder, die sich über einen Ausflug nach Disneyland freuten.
Flink lenkte Sasha den Ball über sein Bein in seine Arme. Etwas außer Puste lief er zu Igor, der angepisst die Hände in die Hüften gestemmt hatte. Ein schlechter Verlierer war er trotzdem.
„Na? Reichen 20 Tore?“, fragte Sasha und machte sich automatisch größer.
„Gut gemacht, du Genie. Ich gratuliere“, Igor klatschte unmotiviert in die Hände und fügte sarkastisch hinzu: „Ich sage meinem Manager, dass er dich in die Mannschaft aufnehmen soll.“
„Glaubst du wirklich, dass er nach dieser Niederlage noch mit dir redet?“
Für einen Augenblick blieb Igor die Sprache weg. Sekundenlang starrte er sein Gegenüber mit offenem Mund an. Dann streckte er die Hand aus. Sein Kiefer mahlte unsichtbare Wut hin und her.
„Kann ich jetzt bitte meinen Pass wieder haben?“
Lange blickten sie sich in die Augen. Sasha sah aus, als würde er etwas aushecken. Doch schließlich griff er in seine Jackentasche und händigte Igor seinen Pass aus.
„Bitte schön! Vergiss das Essen nicht, das du mir schuldest.“
„Danke!“, sagte Igor voll falscher Höflichkeit mit grollender Stimme. Er holte die Sonnenbrille aus seiner Tasche und setzte sie sich auf die Nase. Noch einen bescheuerten Fan mehr konnte er nicht ertragen. In Sashas Hörweite schimpfte der Fußballer über ihn, während er Richtung Gate davon ging.
„Dummer Bock“, zischte er, während Sasha ihm ungeniert auf den Hintern glotzte, was dieser jedoch nicht mehr bemerkte.
Masha trat von der Seite an ihren Kollegen heran und hob anerkennend die Augenbrauen.
„Nicht gerade nett“, sagt sie zu Igors immer kleiner werdenden Gestalt. „Dabei hast du fair gewonnen.“