Erschöpft lehnte die rothaarige junge Frau an einer Wand und betrachtete die vielen Leute, die sich im Takt zur Musik bewegten. Es war fürchterlich warm in dem Raum und ihr war die Lust an der Party vergangen, auf die ihr Jugendfreund Luca sie mitgeschleppt hatte, weil er nicht allein nur mit seinem Onkel hatte gehen wollen.
Unwillkürlich musste sie schmunzeln, als sie an den charmanten jungen Mann dachte, der sie einige Zeit zuvor davor bewahrt hatte, der Länge nach auf die Nase zu fallen, als sie direkt in ihn hineingelaufen war.
Doch seitdem hatte sie ihn nicht mehr gesehen.
Unter den Tanzenden war er nicht und auch sonst nirgends. Sie wollte nicht herumsuchen, irgendwie glaubte sie, das würde sie verzweifelt aussehen lassen. Und das war sie nicht. Sie hatte mit Männern eigentlich gar nichts am Hut!
»Puuh«, machte sie leise, raffte ihr dunkles Kleid etwas und trat durch geöffnete Flügeltüren auf eine mit kleinen Lichtern erhellte Terrasse.
Obwohl sie wusste, dass es Sommer war, war sie nicht verwundert über die flauschigen Flocken, die aus dem Nachthimmel auf die Erde taumelten und bereits einen feinen Mantel gebildet hatten, der alles glitzern ließ. Unwirkliches, silbernes Licht brach sich durch die kahlen Äste der Bäume in dem parkähnlichen Vorgarten und zeichnete absonderliche Figuren in den Schnee. Unüblich in Londons Innenstadt und vor den alten gregorianischen Townhäusern, doch auch darüber dachte sie kein zweites Mal nach. Es erschien ihr alles vollkommen logisch.
»Sie werden sich hier draußen verkühlen, Mylady«, drang eine wohlklingende, tiefe und leicht vibrierende Stimme in ihr Bewusstsein und erschrocken wandte sie sich herum.
An der Pforte zur Terrasse stand er, hochgewachsen und geheimnisvoll. Eine venezianische Maske verdeckte seine Augen und die junge Frau konnte hinter ihm in den von Kerzen erhellten Saal sehen, wo viele Paare in voluminösen Gewändern sich in dem Takt alter und eleganter Walzermusik im Kreis bewegten, wie Puppen in einem Theaterstück, verwirrend, berückend und schwindelerregend.
»N-Nein«, stammelte sie und rief sich zur Räson. »Danke. Mir geht es gut. Es ist nicht kalt.«
Der geheimnisvolle Mann in dem schwarzen Frack mit Schwalbenschwanz-Jacke und eleganten Handschuhen neigte leicht den Kopf zur Seite und seine sinnlichen Lippen verzogen sich zu einem feinen Schmunzeln.
»Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, Mylady.«
Es faszinierte die junge Frau, diesen Herrn auf eine Weise reden zu hören, wie es heute kaum noch geschah - förmlich, charmant, überaus zuvorkommend.
»Darf ich mir dennoch die Freiheit herausnehmen, Sie zu einem Tanz aufzufordern?«
»Mit ... mit mir?«, stammelte sie wieder und hasste sich in derselben Sekunde dafür, sich wie ein dummer Trottel aufzuführen.
Der Gentleman neigte nur zustimmend den Kopf. »Wenn es nicht zu vermessen ist. Sicher sind Sie in Begleitung hier. Eine Dame wie Sie ...«
Die junge Frau zog leicht die Augenbraue hoch. Eine Dame wie sie? Was sollte das denn nun wieder heißen? War das positiv oder negativ gemeint?
»Nein. Ich habe keinen Tanzpartner, falls Sie das meinen«, entgegnete sie stolz und hoffte, sie würde nicht zu hochmütig klingen. Sonst würde der Kerl es sich vielleicht noch anders überlegen. Lust zu tanzen hatte sie nämlich schon.
»Nun, dann stelle ich mich gern zur Verfügung, wenn es recht ist. Ein Kleid wie Ihres gehört auf eine Tanzfläche und nicht versteckt auf eine dunkle Terrasse.«
Die junge Frau blickte sich um. Wo zuvor noch winzige, aber helle Lichter gewesen waren, flackerten nun einige wenige Kerzen in gläsernen Behältern und gaben nicht sehr viel Licht.
Etwas Merkwürdiges ging hier vor, das wusste sie. Doch sie konnte es nicht erfassen. Und was war mit ihrem Kleid? Es war doch ganz normal. Sie hatte bewusst ein schlichtes gewählt, schon wegen ihrer Haarfarbe ...
Der geheimnisvolle Mann hielt ihr höflich seine in einem schwarzen Seidenhandschuh steckende Hand hin und die junge Frau konnte deutlich sehen, dass ihre eigene zitterte, als sie diese ergriff.
»Ich muss Sie warnen«, sprach er, bevor sie durch die Flügeltüren traten, »Sie können unter Umständen Ihren Sinnen nicht trauen.«
»Das soll mir recht sein.«
Mit einem eleganten Nicken geleitete der Gentleman sie in den Saal. Die Tänzer, die zuvor in barocken venezianischen Gewändern gesteckt hatten und wie wirbelnde Küchlein über das polierte Parkett kreisten, waren verschwunden. Stattdessen waren in dem matten Kerzenlicht alle Paare in schwarz gekleidet, die Gewänder der Frauen funkelten, als hätte man unzählige Sterne auf ihnen verteilt. Sie alle trugen Masken und inmitten dieser gesichtslosen Phantome befand sich nun die junge Frau, ihre Hand in der des geheimnisvollen Mannes.
»Wie ich sagte: Ein Kleid wie Ihres gehört auf eine Tanzfläche.«
Sie sah sich um und erhaschte einen Blick in einen Spiegel, der eine gesamte Wand des Saales bildete. Darin befand sich jedoch nur Dunkelheit. Weder die anderen Paare waren zu sehen noch die zahlreichen Kerzen. Nur der Mann in dem Frack und sie selbst, in einem Kreis aus Licht, dessen Quelle unmöglich auszumachen war.
Sie trug ein völlig anderes Kleid als zu Beginn des Abends, es war nicht mehr schwarz, sondern in der Farbe von Blut, satt und sinnlich. Funkelnde Diamanten warfen das Kerzenlicht zurück und sowohl ihr Haar als auch ihre Lippen harmonierten auf beunruhigende Weise mit ihrem bezaubernden Gewand, das einer Prinzessin würdig war.
Der jungen Frau blieb jedoch keine Zeit zu staunen, als das unsichtbare Orchester wieder zu spielen begann. Die schwarzen Phantomtänzer um sie herum begannen ihren Reigen und das Rauschen der Röcke der Frauen war wie ein Flüstern in einer fremden Sprache.
»Wenn Sie gestatten«, brach sich die tiefe Stimme des geheimnisvollen Herrn wieder in ihr Bewusstsein und sie spürte, dass er ihr leicht die Hand auf die Hüfte legte, bevor er ihre Finger etwas fester ergriff.
Die junge Frau nickte und als ihr Tanz begann, nahm sie zum ersten Mal den Duft des Mannes wahr, der sowohl Faszination als auch leises Unbehagen in ihr auslöste, wie der unbewusste Hauch der Gefahr, der einen eigentlich wachsam werden lassen sollte. Ihr mysteriöses Gegenüber, von dem sie das Gesicht aufgrund seiner eleganten Maske noch immer nicht erkennen konnte, roch nach Feuer und Kohle.
Angenehm, weich in der Nase kitzelnd und doch bedrohlich, als würde sich hinter der attraktiven Fassade etwas verbergen, das zu ihrem Untergang führen konnte.
Doch sie verspürte keine Angst. Die Wärme seiner Hand in ihrer und die wirbelnden Bewegungen im Takt einer teuflischen, berauschenden Melodie nahmen ihr jedes Unwohlsein.
Auch als die um sie herum tanzenden Paare immer mehr zu Schatten wurden, die Luft zu flirren begann und der Duft nach Feuer sich verstärkte, empfand sie nur Freude über diesen Tanz. Eine Vertrautheit mit ihrem Gegenüber, von dem sie weder das Gesicht noch seinen Namen kannte, die sie überraschte.
»Ich wünschte, es würde niemals zu Ende gehen«, summte sie leise, doch riss erstaunt die Augen auf, als sich der Boden um sie herum aufzutun schien. Die Schattentänzer waren zu geflügelten Wesen mit roter, ledriger Haut geworden, die in einem Kreis um sie und den geheimnisvollen Mann herum tanzten. Dieser hatte sie losgelassen und stand ihr gegenüber, stumm und mit einem Lächeln im Gesicht.
Sie glaubte, durch die Öffnungen in der Maske seine Augen rot wie Glut leuchten zu sehen.
»Ist das dein Wunsch? Ich kann ihn dir erfüllen. Du musst es mir nur sagen.«
»Wer bist du?« Schrecken hatte die euphorische Stimmung in der jungen Frau abklingen lassen. Plötzlich bemerkte sie die Finsternis um sich, die merkwürdigen, dämonenartigen Wesen und das Feuer, das um sie herum brannte.
Wo war sie da nur hineingeraten? Was geschah hier?
»Ich bin, was du dir wünschst«, entgegnete der Fremde und streckte ihr wieder die Hand hin, doch sie zuckte zurück und schüttelte den Kopf.
»Ich denke, ich würde lieber gehen«, presste sie hervor, raffte das Gewand und wandte sich ab, um eilig durch die Flammen hindurch einen Pfad entlang zu laufen. Sie fürchtete, die Dämonen würden sie verfolgen und so wagte sie nicht, stehen zu bleiben.
Gehetzt blickte die junge Frau sich um. Das war nicht mehr das Haus, in dem sie mit Luca zu einer eleganten Party geladen gewesen war. Das war ein Schloss, düster, dunkel, mit weiten Hallen und dem schweren Duft nach Feuer, Kohle und vertrockneten Rosen.
Erleichtert erreichte sie eine Pforte und durchbrach diese. Die Wärme der Burg wurde abgewechselt von eisiger Winterkälte. Der Schnee lag knöchelhoch und das silberne Mondlicht malte verzerrte und dämonische Bilder in die weiße Masse. Es knackte bedrohlich in den toten Bäumen und irgendwo schrie ein Kauz. Die junge Frau ließ sich jedoch nicht beirren.
Sie musste weit weg von diesem Ort kommen, der ihre Sinne verwirrt hatte. Weg von dem Mann mit den glühenden Augen, in dessen Armen sie sich doch so wohl gefühlt hatte.
Sie schrie auf, als sie nur wenige Schritte vor einem gusseisernen Tor entfernt, hinter dem es hell und warm zu sein schien, eine Hand auf ihrer Schulter spürte.
Herumwirbelnd verlor sie das Gleichgewicht und fiel in den Schnee, erschrocken zu demjenigen aufsehend, der sie trotz ihrer hektischen Flucht offenbar mühelos eingeholt hatte.
Der geheimnisvolle Mann beugte das Knie und reichte ihr wieder die Hand.
»Wer bist du?«, fragte sie atemlos, die Kälte um sich herum ignorierend.
Ihr Gegenüber nahm die Maske ab und enthüllte seine feurigen Augen. Die junge Frau kannte das Gesicht irgendwoher.
»Ich bin nur ein Teufel, der Ihnen verfallen ist, Mylady. Nennen Sie mich, wie Sie wollen.«
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»Sebastian!«, rief Willow erschrocken und setzte sich ruckartig in ihrem Bett auf. Es war längst tiefe Nacht und sie trug noch immer das schwarze Ballkleid von der Party. Sie war so erschöpft gewesen, dass sie eingeschlafen sein musste, ohne sich vorher umzuziehen.
Mit Gänsehaut auf den Armen rieb sie sich über das Gesicht, als der letzte Schleier ihres merkwürdigen Traumes sich verflüchtigte.
»Dummkopf«, kicherte sie leise zu sich selbst.
Mit einem schiefen Grinsen musste sie sich eingestehen, dass der Butler, den sie erst an diesem Abend kennengelernt hatte, ziemlichen Eindruck bei ihr gemacht hatte.