Und wieder einmal ist die Zeit gekommen, die unsere Herzen genausoweit öffnet, wie unsere Brieftaschen. Jedes Mal, wenn sich ein Jahr dem Ende zu neigt, werden die harten Herzen weicher, die harten Jungs weinen salzige Tränen der Rührung, kurz, die Gesellschaft in unseren Landen, in der normalerweise das Christentum überwiegt, hat über Jahrhunderte gelernt, sich zu Weihnachten zu besinnen.
Man zeigt sich nett und großzügig und freut sich über die eigene Großherzigkeit, weil man sich das ganze Jahr selbst nicht zugetraut hat, für ein Geschenk so tief in die Tasche zu greifen und freut sich zum Schluss selbst mehr über die Schenkung, als der Beschenkte...
So zum Beispiel erging es dem "Taschlziager Sepp" all die Jahre. Sommer wie Winter ernährte er sich und seine Familie als Taschendieb. Eine Tätigkeit, die er von klein auf von seinem Vater und Großvater erlernt und zur Perfektion weiterentwickelt hatte. Nach vielen Jahren harter Arbeit hatte er einen Lebensstandard erreicht, der dem eines leitenden Angestellten in nichts nachstand. Seiner Frau las er jedes Weihnachten die Wünsche von den Augen ab und beschenkte sie reich mit edlem Geschmeide von Gold und Diamant, doch merkte er irgendwann, dass sie sich nicht mehr wirklich freute. Seinem Sohn kaufte er irgendwelche Spielsachen mit dem Geld aus seiner "beruflichen Tätigkeit". Er nahm sich aber nie die Zeit, in Erfahrung zu bringen, was der Herr Sohn denn wirklich gerne hätte.
Nach einigen solchen Weihnachten kam er nun auf die Idee, seine Frau zu fragen, was sie sich denn von ihm wünsche und sie teilte ihm mit, dass sie gerne einen Gatten hätte, der einer ehrlichen Arbeit nachgehe, so dass sie nicht immer Angst haben müsste, irgendwann aufzufliegen und ihren guten Ruf in der Gesellschaft zu verlieren.
Also gelobte er, seinen "erlernten Beruf" an den Nagel zu hängen und sich eine Arbeit zu suchen, die ihn zwar nicht reich, aber ehrlich machen würde. Seine Frau dankte es ihm mit großer Liebe, denn sie freute sich, dass ihr Sohn nun eine anständige Zukunft haben würde und später ein würdiger Bürger der Gesellschaft sein könnte.
Nun begab es sich aber, dass der Taschlziager Sepp natürlich nicht mehr so gut verdiente und zum nächsten Weihnachtsfest kaum Geld für Geschenke hatte. "Ich brauche kein Geschenk, Sepp!" versicherte sie ihm. "Du hast mir das größte Geschenk gemacht, indem du unseren Sohn zu einem ehrlichen anständigen Bürger erziehst." ließ sie ihn wissen und gab ihm einen Kuss. Das nahm er zufrieden zur Kenntnis und fragte dann seinen Sohn, was er sich denn wünsche. "Eine neue Spielkonsole mit zwanzig Spielen möchte ich gerne, Papa!" sagte er in der Erwartung, dass Papa das auch sicher schafft. "Tut mir leid mein Junge," sagte Sepp, "das kann ich mir als ehrlicher Arbeiter leider nicht leisten. Soviel verdien ich nicht mehr, dass ich beim Christkind eine so große Bestellung aufgeben könnte."
"Lass gut sein Papa!" meinte der Sohn. "Bleib nur schön ehrlich wie sich Mama das wünscht! Ich nehm das selber in die Hand."
Der heilige Abend kam immer näher und die Mutter freute sich, dass Sepp den Absprung noch rechtzeitig geschafft hatte um den Jungen nicht zum Dieb zu machen. Ein paar Tage vor dem Heiligen Abend suchte sie die Krippe heraus und säuberte die Figuren um sie morgen in vollem Glanz erstrahlen zu lassen. Sepp half ihr dabei und freute sich, dass er nun so eine liebe ehrliche Familie hatte. Sie waren fast fertig als sie bemerkten, dass die heilige Maria fehlte. Sie suchten sie überall und konnten sie einfach nicht finden Die Krippe war so schön anzuschauen und bald würden sie das Jesuskind hineinlegen...
Der heilige Abend kam. Sepp und seine Frau holten die Schachtel mit dem Christkindlein. Sie öffneten sie. Der kleine Jesus war eingewickelt in ein Papier, dass sie noch nie gesehen hatten. Sepp wickelte ihn aus und strich das Papier sorgfältig glatt. Es trug die Handschrift seines Sohnes. Ja, es war ein Brief...
Liebes Christkind
Nachdem wir jetzt alle ehrlich sind und kein Geld mehr haben, habe ich deine Mutter entführt! Aber du brauchst keine Angst zu haben!
Wenn du mir eine neue Spielkonsole und zwanzig Spiele dazu bringst, wird ihr nichts passieren...