„Stefanie. Stefanie, wach auf. Mäuschen, wach werden.“
Müde rieb ich mir meine Augen, während das helle Licht viel zu stark blendete. Es dauerte einen Moment, bevor ich meine Mami richtig sehen konnte.
Ihre Augen waren rot und eine kleine Träne lief ihre Wange hinab.
„Warum weinst du, Mami?“
Schnell wischte sie sich über das Gesicht, zog ihre Nase hoch und versuchte zu lächeln, doch ihre traurigen Augen verrieten sie.
„Steh bitte auf, mein Schatz. Ich möchte mit dir ins Krankenhaus fahren. Omi Jette geht es nicht so gut.“
Nun saß ich in unserem grünen Trabbi. Der Geruch von Benzin lullte mich ein, während die Bäume, Menschen und Häuser an meinem Fenster vorbeizogen. Wir fuhren ewig; so kam es mir jedenfalls vor. Bis nach Halle mussten wir fahren und Mama war so still. Ab und zu schniefte sie etwas, doch immer, wenn ich sie besorgt ansah, versuchte sie wieder zu lächeln. Warum war sie nur so traurig? Wegen Omi Jette? War sie so schlimm krank?
Irgendwann musste ich wieder eingeschlafen sein, denn erneut weckte mich meine Mami.
„Wir sind da. Komm, steig bitte aus.“
Mein Hals tat vom schiefen liegen weh und mir war kalt. Ich gähnte, während sie mich richtig anzog und versuchte herauszufinden, wo ich war.
Wir liefen einen langen Weg entlang und immer wieder bekam ich Steinchen in meine Sandaletten, die ich mühselig versuchte auszuschütteln.
In der Ferne sah ich ein großes Haus mit ganz großen Fenstern und Mama zog mich an der Hand immer weiter dorthin. Sie schien es eilig zu haben und ich kam kaum hinterher, musste fast rennen, während die kleinen Steine unter meinen Füßen kieksten.
Als wir zwei das Krankenhaus betraten, rümpfte ich meine Nase.
„Mami, hier stinkt es.“
„Das ist das Desinfektionsmittel.“
„Deine Hände riechen auch immer so, wenn du von der Arbeit kommst.“
„Ja. Ich benutze das auch immer. Weißt du eigentlich, dass ich hier mal gearbeitet habe?“
Nein, das hatte ich noch nicht gewusst. Ich sah mich um, während sie mich durch die endlosen Gänge zog. Jeder Flur sah gleich aus - große Türen mit Steinrand und wuselnde Frauen mit weißen Sachen. Alle Wände waren weiß. Weiß und kalt.
„Wir sind da. Warte kurz hier. Ich muss noch mit dem Arzt sprechen.“
So stand ich auf diesem riesigen Flur und beobachtete die Menschen, die hier auf und ab gingen. Ein alter Mann im Morgenmantel lächelte mir freundlich zu, als er an mir vorbeiging. Er hielt sich an einer großen silbernen Stande fest, die unten Räder hatte. An Haken hing eine Glasflasche mit einer komischen Flüssigkeit dran, die an einem Schlauch zu seinem Arm führte. Der alte Mann roch komisch …
„…bin ich nicht einverstanden.“
Meine Mutti kam mit einem Mann und Tante Liese auf mich zugelaufen. Auch meine Tante hatte rote Augen. Anscheinend war sie auch sehr traurig.
Ohne mich zu beachten gingen sie an mir vorbei und redeten lautstark. Ich lief hinterher. Plötzlich blieben sie vor einer Zimmertür stehen, öffneten sie, gingen aber nicht hinein. Stattdessen redeten sie und redeten und redeten.
„Sie ist noch viel zu klein dafür. Das wird sie nicht verstehen“, sagte der Mann mit den dunklen Haaren und den weißen Sachen.
„Aber ich bin die Mutter und kann doch wohl entscheiden, ob ich das meinem Kind zutrauen möchte oder nicht.“
Mami war wütend. Das hörte ich an ihrer Stimme. Sie hatte ihre Hände in die Hüften gestemmt und sah den Mann böse an. Meine Tante sah immer nur von einem zum anderen und schwieg. Und sie redeten weiter. Immer weiter. Mir wurde langweilig und so schlängelte ich mich zwischen ihren Beinen durch und ging in das Zimmer.
Es war ein schönes, helles Zimmer. Die Sonne schien durch das große Fenster und direkt davor stand ein großes Bett. Omi Jette! Sie lag da und schien zu schlafen. Ihr Kopf mit den schönen weißen Haaren, war tief in dem Kissen versunken. Vorsichtig nahm ich ihre Hand. Sie war kalt und faltig. Ich drückte ihre Hand etwas und meine Omi drückte zurück.
„Hallo Stefanie. Das ist aber schön, dass du mich besuchst.“
Mit ihren freundlichen, blauen Augen sah sie mich an und hatte ein bisschen den Kopf zu mir gedreht. Dann klopfte sie mit der anderen Hand auf die Decke.
„Komm zu mir hoch, mein Schatz.“
Das war gar nicht so einfach, denn das Bett war so groß und ich so klein. Doch irgendwie schaffte ich es und saß dann außer Atem auf ihrem Bett. Sie streichelte mir mit ihrer Hand über mein Gesicht und ich strahlte sie an, wie die Sonne, die gerade draußen schien.
Plötzlich hörte ich ein lautes Schluchzen und ich sah mich um. Der Mann in Weiß, meine Mutti und Tante Liese sahen uns ganz komisch an. Tante Liese hatte die Hände vor dem Mund. Meine Mami weinte. Doch dann drückte Omi meine Händchen und ich sah sie an.
„Omi … wann kommst du wieder nach Hause?“
Traurig lächelte sie mich an und streichelte meine Hand.
„Das weiß ich nicht, meine Kleine. Vielleicht kann ich gar nicht mehr nach Hause.“
„Können wir dann nicht mehr zusammen spielen?“
Sie sah mich wieder traurig an und entgegnete:
„Nein, mein Schatz. Aber ich habe immer so gern mit dir gespielt. Ich habe dich nämlich ganz doll lieb.“
„Ich habe dich auch ganz doll lieb, Omi!“
So kletterte ich auf sie drauf und umarmte sie. Auch sie legte ihre Arme um meinen kleinen Körper und drückte mich fest. Dann gab ich ihr einen Kuss, was sie glücklich machte.
Plötzlich faste mich jemand an die Schulter und ich sah hoch. Meine Mami stand neben mir, Tränen liefen ihr über das Gesicht und sie sagte leise:
„Komm, Stefanie. Die Omi ist müde. Lassen wir sie schlafen.“ Ich nickte, gab meiner Omi noch einen Kuss und kletterte mit Hilfe meiner Mami wieder von dem Bett.
An der Tür angekommen winkte ich noch einmal zu ihr und sie winkte lächelnd zurück.
„Bis bald! Zum Spielen!“, rief ich noch, bevor die Tür hinter mir geschlossen wurde.
Tante Liese hockte sich zu mir herunter und umarmte mich fest. Auch sie weinte und ich verstand gar nicht warum. Warum waren alle nur so traurig? Auch der Mann in Weiß sah mich ganz komisch an, doch sagte nichts.
Dann gingen wir wieder zurück. Ich winkte dem Mann mit der silbernen Stange, als wir an ihm vorbeigingen. Er winkte freundlich zurück.
Draußen angekommen, schien die Sonne warm auf uns nieder. Ich drehte mich zu dem Krankenhaus zurück und versuchte das große Fenster zu finden, wo meine Omi dahinter lag. Doch es waren zu viele.
Plötzlich kam ein kleiner, warmer Windstoß und es fühlte sich an, als ob meine Omi mein Gesicht streicheln würde. Mein Herz klopfte ganz komisch und ich sah meine Mami an. Auch sie sah zurück zu dem Haus. Eine einzelne Träne kullerte ihre Wange hinab. Dann sah sie mich an, umarmte mich und sagte mir, dass sie mich unendlich lieb habe.
„Mami, ich habe dich auch lieb.“
Ich sollte an diesem Tag das letzte Mal meine Omi besucht haben. Sie starb noch am selben Tag.
Viele Jahre später erfuhr ich, dass Omi Jette an dem damaligen Tag gar nicht mehr ansprechbar gewesen war. Deswegen hatte der Arzt auch mit meiner Mutti diskutiert. Er wollte nicht, dass ich, mit meinen vier Jahren, eine halbtote Frau sah. Doch während sie darüber diskutierten, hatte ich mich klammheimlich durchgeschlichen und war zu meiner Omi gegangen, die, wie durch ein Wunder, noch einmal die Augen aufgemacht hatte. Alle waren schockiert – besonders der Arzt. Keine hätte damit gerechnet.
Tante Liese meinte, dass Omi nur noch auf mich gewartet hatte, um Abschied zu nehmen, denn kurz nachdem wir das Krankenhaus verlassen hatten, war sie für immer eingeschlafen.
Ich erinnere mich noch heute sehr genau daran, obwohl alle behaupteten, dass ich noch viel zu klein gewesen war.
Gibt es eine Seele? Keine Ahnung. Doch es ist eine schöne Vorstellung, dass der Wind, den ich damals spürte, ihre Seele war, die mich ein letztes Mal berührte, so, wie sie es sonst auch immer getan hatte.
Ende
(In Gedenken an meine Omi. Du bist immer bei mir.)