Nagissa versuchte, ihre Augen vor ihrem Gemahl zu verbergen, der dem Tross unerbittlich folgte. Sein Gesicht ließ keine Widerrede zu, so sehr sie auch bat und flehte.
Es entsprach nun einmal ihrer Tradition, an diesem Tag ein Opfer darzubringen, um die Bestie der Götter für die nächste Ernte gnädig zu stimmen.
Sie hörte die tuschelnden Stimmen der Frauen um sich und bemerkte auch die bedauernden Blicke. Sie hatten Mitleid, doch gleichzeitig waren sie froh, dass es nicht ihre Töchter getroffen hatte.
»Rawen, bitte. Lass mich noch einmal Abschied nehmen«, wagte sie, ihren Gemahl ein letztes Mal zu bitten, bevor Liliana, ihre älteste Tochter, an den Opferpfahl gebunden wurde, um der Bestie dargeboten zu werden. Der streng blickende Mann nickte nur und wandte sich ab.
Hatte er denn keine Gefühle?
»Mutter...« Das junge Mädchen mit den roten Haaren stand mit erhobenem Haupt vor ihr, man sah ihren grünen Augen die Furcht allerdings an.
»Die Götter werden dich freudig in ihren Hallen aufnehmen für dieses Opfer, mein Kind.« Nagissa versuchte, das Zittern ihrer Stimme zu verbergen, doch es gelang ihr nicht und eine einzelne Träne rann ihre Wange hinab.
Das junge Mädchen fiel ihrer Mutter um den Hals und schluchzte.
»Es ist der Wille der Götter. Und es ist unsere althergebrachte Tradition. Ich gebe mein Leben gern für das Eure und das unseres Volkes, Mutter.«
Die Priester zogen das Mädchen aus den Armen der Frau und banden es an den kostbar verzierten Pfahl aus Stein.
Nagissa kehrte zu ihrem Gemahl zurück und zwang sich, das Schauspiel von der sicheren Anhöhe aus zu betrachten, wie es Pflicht war. Alle mussten des Opfers gewahr werden und alle mussten es bezeugen. So wollte es die Tradition.
Als der Rhythmus der Trommeln einsetzte und die Feuer entzündet wurden, hielt sie den Atem an, denn die Bestie, ein abscheulicher, giftgrüner und mit Hörnern versehender Lindwurm, schob sich aus dem Loch in der mächtigen Felswand.
Nagissas Augen liefen über, so dass sie kaum etwas sehen konnte, doch das Schreien ihrer Tochter war ihr Beweis genug, dass deren Ende gekommen war. In einem Grollen erstarb das markerschütternde Geschrei und das Mädchen war Geschichte.
Ihrer Mutter versagten die Knie und sie knickte zusammen, wurde jedoch von ihrem Gemahl am Fallen gehindert. Mit tränenverschleierten Augen blickte sie in sein sonst so hartes Antlitz und entdeckte eine unbekannte Weichheit in seinen Augen.
»Nagissa, Liebste...«, hauchte er und zog sie in seine Arme. Eine Geste, die er außerhalb des Schlafgemaches noch nie gezeigt hatte.
»Sie wird es gut haben bei den Göttern. Bitte versuche, stets daran zu denken. Wir werden eine gute Ernte haben und unser Volk wird leben.«
Nagissa nickte an dem weichen Kragen seines Kaninchenpelzmantels.
Ja, ihr Volk würde leben und sie hatten ihre Schuldigkeit getan. Sie hatten, wie es Tradition war, ihre erstgeborene Tochter hergegeben, um die Bestie der Götter zu besänftigen. Ihre weiteren Kinder würden sicher sein. Mit feuchten Augen blickte sie auf den Platz, wo der Boden noch qualmte und der Opferpfahl aufgrund des Drachenfeuers noch glühte.
Sie redete sich ein, dass Liliana nicht hatte leiden müssen, war der scheußliche Drache doch für seine Gier bekannt. Die Götter hatten ihr Opfer bekommen. Sie hatten die Tradition erfüllt und konnten nun in ein erfülltes und reiches neues Jahr blicken.
Bis zum nächsten Opfer...