Blut.
Überall war Blut.
Schmerz pochte in meinen Kopf, als ich versuchte ihn zu bewegen. Ich versuchte meinen Arm zu heben, versuchte meinen Kopf zu berühren. Vielleicht würde der Schmerz dann aufhören. Doch mein Arm gehorchte mir nicht. Meine Finger berührten etwas, doch es war nicht mein Gesicht. Ich wollte die Augen wieder schließen. Müdigkeit überkam mich. Dann roch ich es. Das Blut. Überall war Blut. Ich schlug die Augen wieder auf: War es mein Blut? Ich blickte mich vorsichtig um. Das Pochen kam zurück. Es drehte sich alles. Ich versuchte mich zu erinnern wo ich war. Vor mir hing ein weißer Ballon. Auch auf ihm war Blut. Neben mir sah ich einen Schalthebel, ein Radio. Ich saß in einem Auto. Jetzt spürte ich die Schmerzen im ganzen Körper. Besonders dort, wo noch immer der Gurt straff saß. Hatten wir einen Unfall gehabt? Wir. So schnell es ging drehte ich den Kopf zur Seite. Ich blickte in ein blutüberströmtes Gesicht. Ein lebloses Gesicht. Mein Gesicht.
Schreiend wachte ich auf. Ich war schweißgebadet. Vorsichtig tastete ich meine Brust ab. Doch da war kein Gurt, keine Schmerzen. Nur mein Herz, das raste. Ich spürte eine Hand auf meinem Arm und zuckte zusammen. “Shh. Es war nur ein Traum Emma. Alles ist gut. Ich bin da.” Ich brauchte einen Moment, um mich zu orientieren. Ich war im Bett, zuhause, meinen Mann Lars neben mir. Es war nur ein Traum. Trotzdem kamen mir die Tränen. Ich drehte mich zu Lars. Wortlos nahm er mich fest in den Arm. Es beruhigte mich, doch ich traute mich nicht meine Augen zu schließen, aus Angst die Bilder würden wiederkommen. Als mein Herz wieder seine normale Geschwindigkeit erreicht hatte, löste ich mich aus der Umarmung. "Geht es wieder? “ Es waren Standardsätze. Wir hatten all dies schon einmal durchgemacht. Er sorgte sich um mich, aber er wusste, dass es nur eine weitere Phase war. Ich nickte. Ich war unsicher, ob er es im Halbdunkel sah. Vielleicht hatte er auch bereits wieder die Augen geschlossen. Ich rollte mich wieder auf meine Seite des Bettes, doch ich wollte noch immer nicht die Augen schließen. Neben mir atmete Lars bereits wieder regelmäßig. Ich hoffte die Müdigkeit würde mich wieder überkommen, doch ich war hellwach. Der Mond schien in unser Schlafzimmer und tauchte es in ein weißliches Licht. Ich tastete nach meiner Uhr und drehte sie im Licht, bis ich die Uhrzeit erkennen konnte. 5.10 Uhr. Um 6.30 Uhr würde der Wecker klingeln. Plötzlich konnte ich nicht mehr ruhig liegen. Ich versuchte Lars nicht zu wecken, während ich aufstand. Er war es gewohnt, dass ich früher aufstand. Ich würde joggen gehen, um den Kopf frei zu bekommen. Meine Klamotten warteten im Nebenzimmer. Ich hatte nach dem Unfall mit dem Laufen angefangen, als ich etwas brauchte um dem Druck zu entkommen. Alle erwarteten, dass ich mich erinnerte. Doch nichts half. Bis heute begann mein Leben in meinem Kopf nach dem Unfall.
Ich hatte mich rasch umgezogen. Auf dem Weg zur Haustür lauschte ich kurz an Mias Zimmer. Sie schlief noch. Dann schlich ich weiter nach draußen. Ich lief meine übliche Runde, so musste ich mich auf eine Sache weniger konzentrieren. Die Alpträume waren nach dem Tod meiner Eltern wieder zurückgekehrt. Sie waren vor zwei Wochen bei einem Massenunfall ums Leben gekommen. Eine der Hauptverkehrsbrücken war eingestürzt und hatte etliche Autos mit sich in die Tiefe gerissen. Ich hatte kein sehr enges Verhältnis zu meinen Eltern gehabt und meine Trauer zeigte sich fast ausschließlich durch die Rückkehr der Träume.
Das Viertel schlief noch. Hinter wenigen Fenstern brannte bereits Licht, aber nichts bewegte sich, kein Laut war zu hören außer meinen Schritten auf der Straße. Meine Route führte vorbei am Rande des kleinen Wäldchens. Ich lief auf einem schmalen Weg, den dunklen Wald zu meiner Linken, den Zaun des angrenzenden Grundstückes zu meiner Rechten. Es war kein langes Stück, aber seit kurzem hatte ich ein beklemmendes Gefühl, wenn ich hier entlang kam. In der letzten Zeit tauchten immer mehr von ihnen in unserem Viertel auf. Man sah sie in den Straßen ab und zu, doch am meisten bei dem Wald, an dem ich jetzt vorbeilief. Ich hatte das Gefühl beobachtet zu werden. Es war nicht ausschließlich Angst, die sie in mir hervorriefen. Ich hatte Mitleid mit ihnen. Vielleicht war es wegen Mia. Schließlich waren es auch nur Kinder. Kinder, die einfach nur leben wollten. Doch es waren Illegale, wie es die Regierung betitelte. Sie waren von ihren Eltern ausgestoßen, ausgesetzt worden. Die Regierung duldete nicht mehr als ein Kind pro Familie. Es gab keine Ausnahmen. Kaum jemand traute sich, sich dem entgegen zu stellen, denn es hatte nicht nur Folgen für die entsprechenden Eltern, sondern für alle im Umfeld, die es hätten wissen und aufdecken können. Viele Eltern brachten es nicht übers Herz ihr illegales Kind zu töten, wie es der Staat verlangte. Sie brachten es heimlich zur Welt und setzten es dann aus, in der Hoffnung, dass es so zumindest leben konnte. Ich wollte mir gar nicht ausmalen in einer solchen Situation zu sein. Nie würde ich mein Kind ohne Widerstand aufgeben. Zum Glück würde ich nie in diese Situation kommen. Nach Mias Geburt hatte sich Lars sterilisieren lassen. Er war Mitglied der Partei und würde allem ohne zu fragen folgen, dass sie beschloss. Das war das Einzige, was mir nicht immer gefiel. Ich vermied jegliche Diskussion über Politik, doch mit dem vermehrten Auftauchen der Illegalen wurde es auch bei uns immer häufiger zum Thema.
Ich hatte meine Gedanken schweifen lassen, um das unangenehme Gefühl durch den Wald loszuwerden. Mit einem Schlag war ich wieder in der Realität, als vor mir auf dem Weg ein Mädchen auftauchte. Ich erschreckte mich so sehr, dass ich einen Satz zur Seite machte und mit dem Fuß umknickte. Als ich aufschrie, blickte mich das Mädchen verängstigt an. Ich blieb stehen und sah sie an. Sie war unglaublich dünn. Die wenigen Klamotten hingen in Fetzen über ihrem knochigen Körper. Sie gab ein knurrendes Geräusch von sich. Ich sah sie stirnrunzelnd an, bis ich begriff, dass es ihr Magen war. Sie hatte Hunger. Doch ich sollte schleunigst von hier verschwinden. Zum einen konnte ich ihr nicht helfen, zum anderen konnte es gravierende Folgen für mich und meine Familie haben, wenn mich jemand mit ihnen sah. Für Lars. Das würde er mir niemals verzeihen. Ich zeigte ihr meine leeren Hände und machte mich humpelnd daran, an ihr vorbei zu gehen. Ich ging langsam, damit sie keine Angst bekam, laufen konnte ich sowieso nicht mehr. Als ich auf ihrer Höhe war, sah ich die anderen. Es waren drei oder vier Jungen am Waldrand. Sie zogen das Mädchen zurück in den Wald. Sie sah mich noch einmal an, bevor ich schließlich an ihr vorbei war. Ich konnte Schmerz und Enttäuschung in ihrem Blick erkennen. Es verursachte mir einen Stich in der Brust und ließ mich an meine eigene Tochter denken. Zum Glück trugen mich meine Beine automatisch weiter. Als ich auf den verletzten Fuß trat und der Schmerz meinen Körper durchzuckte, wandte ich endlich den Blick von dem Mädchen. Für einen Moment hatte ich die Befürchtung, dass sie mich von hinten anfallen oder mir nachlaufen würde. Doch nichts passierte. Ich traute mich erst mich umzudrehen, als ich wieder auf der normalen Straße war. Die Kinder waren verschwunden. Ich beeilte mich nach Hause zu kommen, bevor die Nachbarn mich vorbeihumpeln sahen. Mit dem verletzten Fuß brauchte ich natürlich deutlich länger als sonst. Als ich endlich ankam, saßen Lars und Mia bereits angezogen in der Küche. Lars schmierte ungeschickt die Pausenbrote für Mia. Er drehte sich nicht um, als ich die Tür ins Schloss warf. “Da bist du ja endlich. Wo warst du denn so lange?” Ich humpelte demonstrativ an ihm vorbei und nahm Mia in den Arm. Sie wehrte sich, doch ich hatte das Bedürfnis sie im Arm zu halten. “Ich musste den halben Weg gehen.” Als er sah, dass ich verletzt war, änderte sich seine Stimmung schlagartig. “Oh Emma, was ist passiert?” Ich humpelte weiter Richtung Badezimmer. “Es ist nichts weiter. Ich habe mich erschreckt und bin umgeknickt.” Ich konnte fast hören, wie sich seine Stirn in Falten legte. “Erschreckt? Vor was hast du dich denn erschreckt?” Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich hätte etwas anderes sagen sollen. Ich hatte keine Lust auf das Thema. “Ich weiß es nicht mehr. Ich gehe schnell duschen.” Ich hörte, wie Lars das Messer hinlegte. Sein Blick ruhte auf meinem Rücken. Ich war eine schreckliche Lügnerin, das wussten wir beide. “Emma. Was hat dich erschreckt?” Er hatte seine Stimme nicht erhoben. Doch er sprach jedes Wort klar und deutlich aus, sie zerschnitten förmlich die Luft zwischen uns. Als ich mit meiner Antwort zögerte, hörte ich ihn aufstehen und auf mich zukommen. “SIE waren es, nicht wahr?” Ich wusste noch immer nicht was ich antworten sollte. Plötzlich griff er meinen Arm und drehte mich ruckartig um. Ich wollte ihn nicht anschauen. Er konnte in meinen Augen lesen, wie in einem Buch. Seine Hand umfasste mein Kinn und hob meinen Kopf, sodass ich keine andere Wahl hatte, als ihn anzusehen. “Sie waren es.” Ich brauchte nicht zu antworten. Mein Blick war für ihn Bestätigung genug. “Das wird immer schlimmer. Es werden immer mehr. Ich werde in der Partei darüber sprechen, wir müssen etwas dagegen tun.” Er ließ mich los und wollte wieder in die Küche gehen, als ich plötzlich das Bedürfnis hatte etwas zu sagen. Das Bild des unterernährten Mädchens tauchte wieder vor mir auf. “Es sind doch nur Kinder.” Er drehte den Kopf zurück zu mir und sah mir direkt in die Augen. Sein Blick jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken. Ich hatte ihm noch nie widersprochen. Er sah mich an, als hätte ich die Partei selbst verhöhnt. “Es sind Illegale. Erst stören sie den Frieden in unserem Viertel, jetzt haben sie dich auch noch verletzt.” Trotz der leichten Angst, die ich zum ersten Mal gegenüber meinem eigenen Mann verspürte, wollte ich jetzt nicht kleinbeigeben. “Sie haben mich nicht verletzt, ich bin ganz alleine umgeknickt.” Er sah mich noch immer mit diesem Blick an. Fassungslos über meine Worte.. “Sie haben kein Recht zu Leben, Emma. Und erst Recht nicht unser Leben zu beeinflussen.” Für ihn war dies eine logische, unanfechtbare Tatsache. Ich spürte einen Kloß im Hals. Jedes weitere Widerwort würde in einen ernsthaften Streit enden, der sogar bleibende Folgen für unsere Ehe haben konnte. Ich presste die Lippen zusammen, damit kein weiteres Wort herauskam. Endlich löste er den Blick von mir und kehrte zurück in die Küche zu unserer Tochter. Ich hatte nicht gemerkt, dass ich die Luft angehalten hatte und atmete jetzt tief durch.
Die Dusche tat mir gut. Auch wenn ich meinen rechten Fuß weiterhin nicht voll belasten konnte, entspannte mich das warme Wasser. Ich zog nur meinen Bademantel über, als ich aus der Dusche kam. Ich hoffte Lars würde nicht von mir verlangen, dass ich Mia heute zur Schule brachte. Sie würde bei meinem Tempo vermutlich zu spät kommen. Zurück in der Küche scheuchte ich Mia ins Bad sich fertig machen. Ich packte ihr Pausenbrot zu Ende. Lars war in seine Tageszeitung vertieft während er seinen Kaffee trank. Ich wagte es nicht, die Stille zu durchbrechen. So lautlos wie möglich bewegte ich mich durch die Küche und machte mir mein eigenes Frühstück. Mein Müsli stand ganz oben im Schrank. Ohne nachzudenken stellte ich mich auf die Zehenspitzen, nur um sofort mit einem Schmerzensschrei wieder zurückzusinken. “Du solltest das von Dr. Martin untersuchen lassen”, sagte Lars ohne von seiner Zeitung aufzusehen. Wahrscheinlich sollte ich tatsächlich zum Arzt gehen, doch ich antwortete nicht. Stattdessen versuchte ich erneut mein Müsli zu erreichen, diesmal streckte ich mich nur auf dem unverletzten Fuß stehend. Ich wankte leicht, doch schaffte es schließlich die Packung zu greifen. Stolz stellte ich sie auf den Tisch, doch Lars beachtete mich nicht. Als ich mich gesetzt hatte und mein Frühstück zubereitete, traute ich mich schließlich die Stille zu brechen. “Bringst du Mia heute zur Schule?” Ich wusste nicht, in welcher Stimmung nach unserem Wortwechsel war. “Sieht ganz so aus.” Er sah weiterhin auf seine Zeitung. Ich hätte mit einer solchen Antwort rechnen können, schließlich waren wir schon lange genug verheiratet, doch in all diesen Jahren hatte er mich nie so angesehen, wie vor wenigen Minuten. Ich schluckte eine bissige Antwort runter und fuhr normal fort. “Ich kann sie aber trotzdem abholen. Ich muss sowieso noch einiges für die Beerdigung erledigen.” Sein Nicken war fast unmerklich. Doch ich wusste, dass er mir zuhörte. Er hörte immer zu. Ich unterbrach mein Frühstück, um Mia voranzutreiben. Wenn sie nicht bald fertig war, würde sie trotz allem zu spät kommen. Und Lars noch dazu. Als wir wieder zurück in die Küche kamen, hatte Lars bereits seine Jacke angezogen. Mia und er gaben mir jeweils einen Kuss und dann waren sie aus der Tür. Die Stille im Haus war seltsam. Als Hausfrau war ich oft allein zuhause, doch heute löste die Stille ein seltsames, beklemmendes Gefühl aus. Mit einem Ruck löste ich mich aus meiner Starre. Ich hatte noch einiges zu klären für die Beerdigung morgen.
Am frühen Nachmittag hatte ich alle Telefonate erledigt. Meinem Fuß ging es trotz der Ruhe, die ich ihm gönnte, noch immer nicht besser. Ich würde also doch bei Dr. Martin vorbeischauen. Es war erstaunlich wenig los in seiner Praxis und ich musste nicht lange warten. “Das sieht nach einer klassischen Verstauchung aus. Die Bänder sind ein wenig überdehnt. Wie ist Ihnen denn das passiert?” Er sah mich über den Rand seiner Brille fragend an. “Ich war beim Laufen in Gedanken und habe nicht auf den Weg geachtet.” Ich hatte mir schon vorher eine Antwort zurechtgelegt, denn ich wusste, er würde fragen. “Aber Sie sind doch eine so gute Läuferin.” Glaubte er mir nicht? Demonstrativ sah er zu dem Bild hinüber, das uns beide zeigte, nachdem ich vor drei Jahren den regionalen Marathon gewonnen hatte. Seine Praxis hatte mich gesponsert und mein Training unterstützt. Ich hatte keine Lust auf dieses Spielchen. Die Auseinandersetzung mit Lars am Morgen war mir genug gewesen. Also zuckte ich einfach mit den Schultern. Er wartete einen Moment, gab aber schließlich auf mehr aus mir herauszubekommen. Ich musste eine Schiene tragen und meinen Fuß beim Laufen mit einer Krücke entlasten. Ich war noch immer nicht besonders schnell, aber zumindest schneller, als ohne diese Hilfsmittel. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich mich bei diesem Tempo auf den Weg zu Mias Schule machen sollte, wenn ich nicht wollte, dass sie allein vorm Tor warten musste. Zum Glück war das Wetter angenehm, sodass es nichts ausmachte etwas länger als üblich zu laufen. Ich stand keine 5 Minuten vor dem Tür, als auch schon die Glocke das Ende des Schultages einläutete. Es gesellten sich einige andere Eltern zu mir. Wir mussten nicht lange warten, bis unsere Kinder aus dem Schulgebäude gerannt kamen. Die Jüngeren liefen einfach nur mit, die Älteren rannten freudestrahlend in ihr verdientes Wochenende. Mia brauchte nicht lange, um mich zu entdecken. Auch sie strahlte fröhlich. Ich gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. “Freust du dich schon?” Sie winkte ihren Freunden zu, bevor sie antwortete. “Und wie. Wir haben schon ein paar Filme ausgesucht. Und wir werden eine Kissenburg im Wohnzimmer bauen. Also wenn Tildas Eltern einverstanden sind.” Ich musste lächeln. Wenn ich meine Tochter so fröhlich sah, wirkten meinen Sorgen oft nebensächlich. Zumindest für den Moment. Wir hatten ein Sleepover bei einer Freundin für sie organisiert und würden sie am nächsten Tag nach der Beerdigung wieder abholen. Natürlich hatten wir ihr erklärt, was mit ihren Großeltern passiert war, doch Lars und ich waren uns einig, dass wir ihr die Beerdigung nicht unbedingt zumuten wollten.
Sie konnte es gar nicht erwarten nach Hause zu kommen, um ihre Sachen zu packen. Sie musste immer wieder auf mich warten, obwohl ich so schnell ging, wie ich konnte. In null Komma nichts hatte sie ihre Schultasche in eine Ecke verdammt und bereits ihre Tasche fürs Wochenende gepackt. Ich hatte gerade mühselig meine Schuhe und meine Jacke abgelegt, als sie bereits wieder aus ihrem Zimmer kam und ihre Tasche neben die Tür stellte. “Wann kommt Papa?” Ich sah auf die Uhr. “In maximal einer Stunde.” Sie seufzte und ließ sich auf einen der Küchenstühle fallen. Lars würde sie mit dem Auto zu ihrer Freundin fahren, sobald er zuhause war. Wir hatten seit langem mal wieder einen Abend für uns. Ich hatte ein aufwendiges Essen geplant. Mir ging noch immer nicht das Mädchen aus dem Kopf, doch ich wollte unseren gemeinsamen Abend dadurch nicht vermiesen. “Magst du mir helfen das Gemüse zu schneiden, während wir auf Papa warten?” Mia seufzte erneut, nickte aber. Vielleicht ging dann die Zeit etwas schneller rum. Wir schälten und schnitten und sie erzählte mir von ihrem Schultag. Ich genoss diese Momente mit Mia. Gleichzeitig machten sie mich auch ein wenig traurig, denn ich hatte keinerlei Erinnerung je solche Momente mit meiner Mutter verbracht zu haben und würde auch nie wieder die Gelegenheit dazu haben. Ich hoffte, dass ich nach der Beerdigung das Thema für mich endlich abschließen konnte und auch die Träume wieder aufhörten. In meine Gedanken vertieft, hatte ich die Tür nicht gehört. Ich reagierte erst, als Mia mit einem Satz aufsprang. “Papa! Ich bin schon fertig. Wir können gleich los!” Ich hörte Lars lachen. “Nicht so schnell Prinzessin. Gib mir zumindest 5 Minuten, um Luft zu holen.” Er kam in die Küche und sah als erstes die Krücke. “Wie geht es deinem Fuß?” Er gab mir einen Kuss und sah sofort auf die Schiene. Natürlich wusste er es bereits. Dr. Martin hatte ihn sicher direkt nach meinem Besuch angerufen. Ich wusste nicht, warum mich dieses Verhalten nach all den Jahren noch immer überraschte. “Schon etwas besser.” Er streichelte mir lächelnd über die Wange. “Vielleicht kann ich dich später etwas von dem Schmerz ablenken.” Ich wurde rot und merkte ein leichtes Kribbeln im Bauch. Er war bester Laune und freute sich bereits genauso auf unseren gemeinsamen Abend, wie ich. Die Auseinandersetzung vom Morgen war vergessen. Wir sahen uns tief in die Augen, bis Mia uns unterbrach. “Waren das schon 5 Minuten?” Wir drehten uns beide zu ihr. “Ich glaube, da kann es jemand nicht erwarten endlich loszukommen”, sagte ich lachend. “Sieht ganz so aus.” Ich ging mit ihr schnell ihre Tasche durch. Natürlich hatte sie die Hälfte vergessen, doch das war schnell geregelt. Dann war sie endlich abfahrbereit. “Wenn du zurück bist, ist das Essen fertig.” Lars grinste mich an, dann gab er mir einen langen Kuss. “Ich beeil mich.” Ich grinste zurück. Mia öffnete die Tür, damit sie endlich loskamen. “Viel Spaß mein Spatz.” Sie kam noch einmal schnell zurück gerannt und gab mir einen Kuss, dann rannte sie zum Auto. Ich ging direkt wieder in die Küche, um den Braten, den ich schon am Vortag vorbereitet hatte mit dem Gemüse in den Ofen zu schieben. Währenddessen würde ich mich ein bisschen zu Recht machen und den Tisch decken. Alles sollte perfekt sein. Ich zog mir eines meiner Cocktailkleider an und steckte meine Haare locker hoch. Als ich mich im Spiegel betrachtete und mein Blick auf die Schiene am Fuß fiel, überkam mich plötzlich ein seltsames Gefühl. Das dürre Mädchen am Waldrand tauchte vor mir auf. Das Knurren ihres Magens. Die enttäuschten Augen. Dann sah ich wieder Lars vor mir. Dieser Blick, der mir auch jetzt noch einen Schauer über den Rücken jagte. Der Kloß im Hals. Das leichte Zittern, die Angst davor ihm in die Augen zu sehen. Sein Griff an meinem Arm, meinem Kinn. So hatte ich mich noch nie gefühlt. Ich zwang mich diese Erinnerungen abzuschütteln. Auch wenn mein Magen noch immer etwas verkrampft war und jegliche Muskeln in meinem Körper angespannt waren, gelang es mir zumindest meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Ich dachte an die Berührung vor wenigen Minuten. Den intensiven Kuss, sein Lächeln, das Kribbeln im Bauch. An den Mann, den ich liebte. Ich spürte eine Erleichterung, als ich merkte, wie ich mich langsam entspannte. Wahrscheinlich war es auch die bevorstehende Beerdigung, die mich stresste. Das schien mir plausibel. Ich war einfach nicht ich selbst im Moment. Lars vielleicht auch nicht. Schließlich hatte er meine Eltern auch lange gekannt und geschätzt. Ich starrte weiter auf mein Spiegelbild. Irgendetwas störte mich daran. Doch bevor ich herausfinden konnte was, klingelte der Wecker in der Küche. Ich humpelte so schnell zum Ofen, wie es ging und stellte ihn aus. Hastig deckte ich den Tisch und zündete die Kerzen darauf an. Als alles an seinem Platz stand, hörte ich auch schon das Auto vor der Tür. Perfektes Timing. Die unangenehmen Gedanken und Gefühle waren verflogen. Ich holte den Braten aus dem Ofen und legte gerade die Ofenhandschuhe ab, als Lars die Tür öffnete. Er wirkte fast nervös. So ein offizielles Date hatten wir schon viel zu lange nicht mehr gehabt. “Wow. Du bist wunderschön.” Ich grinste. “Du bist auch nicht schlecht.” Ich wollte ihm um den Hals fallen, als er plötzlich einen Blumenstrauß hinter dem Rücken hervorzauberte. Ich schlug die Hand vor den Mund. “Sind die schön.” Wann hatte er mir das letzte Mal Blumen mitgebracht? Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange und verschwand in der Küche, um sie ins Wasser zu stellen. Der Abend war wunderschön. Das Essen war gut und wir hatten endlich einmal wieder Zeit ausgiebig über alles zu reden, gewisse Themen allerdings ausgenommen. Es erinnerte mich an die Zeit nach meinem Unfall, in der wir uns langsam neu kennen lernen mussten und uns ein zweites Mal verliebt hatten. Wir tranken Wein zum Essen. Alkohol war teuer heutzutage, doch wir hatten immer eine Flasche im Haus für besondere Momente und dieses war definitiv ein guter Anlass. Trotz des reichhaltigen Essens stieg er schnell zu Kopf und beim Dessert waren wir beide bereits gut angetrunken. Wir ließen alles stehen und setzten uns mit dem restlichen Wein auf die Couch. Lars sah mir tief in die Augen. “Weißt du eigentlich wie sehr ich dich liebe, Emma?” Er ließ mir keine Zeit zu antworten, sondern küsste mich leidenschaftlich. So saßen wir eine Weile ineinander verschlungen auf dem Sofa. Ich vergaß alles um mich herum. Erst jetzt merkte ich, wie sehr mir diese Zärtlichkeit gefehlt hatte. Plötzlich löste er sich von mir und stand auf. Ich sah ihn fragend an, als er mich mit einer geschmeidigen Bewegung hochhob und in Richtung Schlafzimmer davontrug. Ich lachte herzhaft und strahlte ihn an. So glücklich war ich seit langem nicht mehr gewesen.
Ich wachte mit rasendem Herzen auf. Hektisch sah ich mich um. Sonnenstrahlen kamen bereits durch die halbgeschlossene Jalousie. Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass der Wecker klingelte. Lars drehte sich grummelnd zu mir um. Ich drückte schnell die Schlummertaste und kuschelte mich an ihn. Er legte automatisch den Arm um mich. Ich schloss meine Augen nicht wieder. Wir mussten bald aufstehen, aber einen Moment wollte ich noch die Nachwirkungen des gestrigen Abends genießen. Ich hatte keinen Alptraum gehabt. Ich war glücklich neben Lars eingeschlafen und erst vom Wecker wieder aufgewacht. Es war ein wunderbares Gefühl. Als der Wecker zum zweiten Mal klingelte, quälten wir uns langsam aus dem Bett. Wir redeten nicht viel an diesem Morgen. Es gab zwischen den üblichen Routinen mehr Küsse als sonst. Lars Zuneigung half mir viel, denn der Vormittag würde nicht einfach werden. Ich zog ein langes schwarzes Kleid an, schlicht, aber elegant. Dazu würde ich einen Hut tragen. Lars zog ein schwarzes Hemd zu seinem Anzug an. Selbst in dieser traurigen Farbe sah er gut aus. Es würden eine Menge Freunde meiner Eltern kommen und eine Tante. Unsere Familie war nie groß gewesen, doch meine Eltern hatten langjährige Freunde, die fast wie Familie waren. Lars Eltern würden ebenfalls aus der Stadt kommen. Alle würden von mir erwarten in tiefer Trauer zu sein und das belastete mich am meisten. Natürlich hatte mich ihr plötzlicher Tod schockiert, doch ich war mir nicht sicher, dass sie mir in meinem Leben fehlen würden. Nach meinem Unfall hatte ich krampfhaft versucht ein gutes, enges Verhältnis aufzubauen, doch irgendetwas tief in mir hielt mich davon ab. Irgendwann hatte ich es aufgegeben. Das war vielleicht das einzige, was ich nun bereute. Die Beerdigung selbst war eine Sache. Doch meine enorme Anspannung hatte einen anderen Grund. Wir würden danach in die Wohnung meiner Eltern fahren und sie ausräumen. Oder zumindest damit anfangen. Während ich die Trauerfeier organisiert hatte, war mir aufgefallen, dass ich seit dem Unfall nicht mehr in der Wohnung gewesen war. Ich hatte keinerlei Erinnerung an den Ort, an dem ich aufgewachsen war. Erst in dem Moment hatte ich mir zum ersten Mal die Frage gestellt, warum niemand die Idee hatte mich dorthin zu bringen nach meinem Unfall, mich selbst eingeschlossen. Sollte ich dort nicht am ehesten meine Erinnerung wiederfinden? Nach so vielen Jahren in dem neuen Leben, was ich mir aufgebaut hatte, hatte ich nun Angst, dass die Wohnung tatsächlich Erinnerungen wecken würde. Ich mochte mein Leben, wie es jetzt war. Ich wollte nicht, dass sich etwas änderte.
Lars sorgte dafür, dass ich zumindest eine Kleinigkeit aß, bevor wir losfuhren. Der Friedhof mit der kleinen Kapelle war etwas außerhalb gelegen. Wir mussten auf die andere Seite des kleinen Waldes. Als wir daran vorbeikamen, fielen mir die Kinder wieder ein. Ich hatte seit gestern Abend nicht mehr an sie gedacht. Ich war erstaunt über meine eigenen Gedanken, doch ich hoffte ihnen ging es den Umständen entsprechend gut. Hoffentlich hatten sie etwas zu essen finden können. Ich verspürte plötzlich das Bedürfnis ihnen zu helfen, aber ich wusste, dass das unmöglich war. Wenn man mich erwischen würde, würde man mich ebenfalls ausstoßen, vielleicht wäre die Strafe auch höher. Ich konnte mir nicht einmal ausmalen, wie Lars reagieren würde. Und ich musste an Mia denken. Ihre Zukunft wäre hoffnungslos, wenn ich auch nur in irgendeiner Weise mit den Illegalen in Verbindung gebracht würde oder offiziell etwas wider die Partei tun würde. Lars sah zu mir herüber. Er wusste, dass ich angestrengt über etwas nachdachte, doch vermutlich dachte er, es ginge um die Beerdigung. Das war auch gut so. Niemals sollte er meine wahren Gedanken erfahren. Als wir ankamen, hatte ich nicht mehr viel Zeit darüber nachzudenken. Ich musste all die Leute begrüßen, mich für ihre Beileidsbekundungen bedanken und so tun, als wäre ich tief betroffen. Ich kannte nicht einmal alle Leute, aber sie kannten mich. Während des Gottesdienstes sah ich abwechselnd zu den beiden Särgen und zu dem Bild der beiden, das davor auf einem kleinen Tisch stand. Ich versuchte mir vorzustellen, dass die beiden in diesen Holzkisten vor uns lagen. Es war ein bizarrer Gedanke. Doch es war dieser Moment, in dem ich wirklich begriff, was vor sich ging. Ich hatte die ganze Zeit gedacht, dass ich einfach nicht so sehr trauern würde, wie es andere vielleicht erwarteten. Doch jetzt wurde mir klar, dass ich die Wahrheit noch immer nicht realisiert hatte. Meine Eltern waren tot. Ich spürte, wie mir eine Träne die Wange herunterlief. Lars sah in dem Moment zu mir und drückte meine Hand als Zeichen seiner Unterstützung. Ich hatte dem Pfarrer nicht zugehört, aber anscheinend war er am Ende seiner Predigt. Lars erhob sich. Er würde mit den anderen die Särge nach draußen tragen. Alle warteten, dass ich als erstes hinter ihnen folgte, bevor sie sich dem Trauerzug anschlossen. Jeder hatte die Möglichkeit an ihrem gemeinsamen Grab einen Moment zu stehen, ein Gebet zu sprechen oder vielleicht einen letzten Gruß an sie zu richten. Dann war plötzlich alles vorbei. Lars und ich bedankten uns bei allen für ihr Kommen und ihre Unterstützung, dann waren wir wieder allein.
Ich fühlte mich auf der einen Seite erleichtert, dass es endlich vorbei war, doch auf der anderen Seite fing ich anscheinend erst jetzt richtig an zu trauern. Es hatte gut getan so viel Zuspruch und aufmunternde Worte zu hören und jetzt waren sie wieder weg. Ich dachte es wäre mir egal und wollte diese Veranstaltung einfach nur hinter mich bringen, aber jetzt spürte ich eine undefinierbare Leere in mir. Lars nahm mich in den Arm. Eine ganze Weile standen wir einfach nur so da. Als ich mich wieder etwas gefasst hatte, machten wir uns schließlich auf den Weg zur Wohnung. Vermutlich würden wir nicht alles an einem Nachmittag schaffen, doch irgendwo mussten wir anfangen. Vielleicht würden wir auch ein paar wichtige Dokumente finden, die uns noch fehlten für diverse Angelegenheiten. Wir hatten noch zwei Wochen, um die Wohnung soweit leer zu räumen, wie wir es für richtig hielten. Den verbleibenden Rest würde der Vermieter entsorgen, bevor er die Wohnung neu vermietete. Während der Autofahrt sprachen wir nicht. Ich wusste, dass Lars mir Raum geben wollte, alles zu verarbeiten. Wenn mir nach Reden wäre, würde er mir zuhören. Doch ich dachte nicht mehr an die Beerdigung. Ich war einfach nur nervös. Was würde uns in der Wohnung erwarten? Ich hatte ein paar Bilder in meinem Kopf, doch es waren keine Erinnerungen. Es waren die Bilder, die ich mir aufgrund von Erzählungen gemacht hatte.
Als Lars anhielt, sah ich aus dem Seitenfenster. Keines der umstehenden Häuser kam mir vertraut vor. „Es ist das hier.“ Lars deutete auf eines der zwei Hochhäuser. Ich stieg aus und folgte ihm. Wir mussten den Fahrtstuhl in den 8. Stock nehmen. Der Flur und das Treppenhaus waren frisch renoviert, hier würde mich also nichts an früher erinnern. Die Tür klemmte ein wenig, doch schließlich hatte Lars sie aufgeschlossen. Ein leicht muffiger Geruch schlug uns entgegen. Meine Eltern hatten mehr als 30 Jahre in dieser Wohnung gewohnt. Vermutlich war es normal, dass sie mittlerweile ihren eigenen Geruch hatte. Ich atmete tief durch die Nase, doch es löste nichts in mir aus. Lars ließ mich als erstes eintreten. Automatisch ging ich den Flur entlang und die erste Tür rechts. Erst als ich im Wohnzimmer stand, wurde mit bewusst, dass ich nicht darüber nachgedacht hatte wo ich hinging, ich wusste es. Ich lächelte. Eine erste Reaktion. „Sollen wir hier anfangen?“ Ich deutete auf die große Anrichte, die die Hälfte der rechten Wand einnahm. Meine Eltern hatten keinen Fernseher, sodass neben der Anrichte und der großen Couch ein massiver Schreibtisch den Großteil des Raumes einnahm. Lars nickte. Jeder nahm sich eine Seite der Anrichte vor. Wir stellten schnell fest, dass neben der fast leeren Minibar alle Schubladen und Schränke mit Papieren und Erinnerungen aus Jahrzehnten vollgestopft waren. Nach einer guten Stunde hatte ich die erste Schublade auseinander sortiert. Es waren zum Großteil alte Rechnungen, aber auch einige Kinderzeichnungen. Meine Zeichnungen. Doch ich konnte mich nicht daran erinnern sie gemalt zu haben. Ich gönnte mir und Lars einen Drink und wir machten weiter. Als nächstes waren die oberen, kleineren Schränke an der Reihe. Ich wühlte mich gerade durch alte Werbeprospekte – Warum hatten sie so etwas aufgehoben? – als Lars neben mir etwas sagte. „Das ist komisch.“ Er dreht sich zu mir um. „Schau mal, was ich gefunden habe.“ Ich war froh, mich von den Prospekten abzuwenden. Es war ein kleines, pinkes Armband. Es war aus Plastik und an einer scheinbar beliebigen Stelle durchgeschnitten. Es hatte einen breiteren, weißen Teil auf den man etwas schreiben konnte. Einen Namen. Wir hatten beide sofort erkannt was es war: Eines der Armbänder, die man Neugeborenen ummachte, um sie nicht zu verwechseln. Mia hatte ein solches im Krankenhaus bekommen. Pink für Mädchen. Ich hatte bei meiner Geburt auch ein solches Armband bekommen, doch das lag bei uns zuhause. Meine Eltern hatten es uns mit ein paar Babyfotos und anderen Geschenken zu Mias Geburt geschenkt. „Seltsam. Es steht nicht einmal ein Name darauf. Vielleicht gab es ein Problem mit dem hier und sie haben mir danach das andere umgemacht, das meine Eltern uns geschenkt haben.“ Lars zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Aber warum haben sie es dann nicht einfach weggeschmissen?“ Ich musste lachen. Er sah mich stirnrunzelnd an und ich deutete auf die offene Schranktür vor mir. „Sie haben Prospekte von vor einem Vierteljahrhundert in diesem Schrank. Ich glaube sie haben nie etwas weggeschmissen.“ Jetzt grinste auch Lars. „Na das wird dann ja die reinste Zeitreise während wir alles durchgehen.“ Ich grinste noch immer, während ich das Armband auf den Müllhaufen legte und mich weiter an die Prospekte machte. Zwischen all dem Müll fand ich tatsächlich ein paar wichtige Unterlagen. Wir mussten also tatsächlich alles genau durchsuchen, jedes Blatt gefühlt zweimal umdrehen. Vielleicht würden wir heute zumindest diesen Schrank schaffen. Auf meiner Seite fehlte nur noch die große untere Schranktür. Als ich sie öffnete, kam mir direkt ein Schwall Fotos entgegen. Zu meiner Erleichterung standen im unteren Regal bereits geordnete Fotoalben. Ich musste also nur das obere durchsuchen. Mit einem dicken Stapel in den Händen ließ ich mich vorsichtig auf den Boden sinken. Es tat gut das Bein auszustrecken und den Fuß etwas zu entlasten. Langsam ging ich Foto für Foto durch. Ich brauchte nicht viele Fotos, um zu verstehen, dass all die losen Bilder nicht gut genug für die Alben gewesen waren. Ich hätte sie einfach direkt zum restlichen Müll legen und so eine Menge Zeit sparen können, doch irgendetwas reizte mich daran sie trotzdem durchzusehen. Oft waren es Schnappschüsse. Jemand hatte versehentlich auf den Auslöser gedrückt oder eine der Zielpersonen hatte sich bewegt. Besonders die Fotos, als ich noch klein war zeigten oft dieselbe Situation. Ich schaute nicht in die Kamera oder bewegte mich. Die Aufnahmen brachten mich zum Schmunzeln. In gewisser Weise hoffte ich, sie würden etwas in mir auslösen, die entsprechenden Erinnerungen in mir wachrufen, doch vermutlich war ich noch zu klein gewesen, um bleibende Erinnerungen zu haben, die ich jetzt wiederfinden konnte. Die Fotos waren ansonsten in keinerlei Ordnung. Ich sprang im Alter hin und her. Erst sah man mich an meinem 4. Geburtstag, dann wieder als Baby. Ich kannte dieses Foto. Es war direkt nach meiner Geburt gemacht worden. Ich war noch fürchterlich zerknautscht, doch meine Mutter sah überglücklich aus. Müde, aber glücklich. Sie hatte mir dasselbe Foto zu Mias Geburt geschenkt. Ich hatte das pinkfarbene Armband an meinem winzigen Handgelenk. Täuschte ich mich oder fehlte auf dem Armband ebenfalls der Name? Vielleicht war es genau das Armband, das Lars gefunden hatte. Anscheinend hatte ich es tatsächlich im Krankenhaus getragen. Damit war dieses Rätsel auch gelöst. Danach kamen Fotos von meinem 6. Geburtstag. Ich grinste brav in die Kamera, die Torte vor mir auf dem Tisch, doch ich blinzelte. Auf dem nächsten drehte ich genau im Moment des Fotos den Kopf nach hinten. Auf dem nächsten… Ich nahm das vorherige Foto wieder in die Hand. Warum hatte ich mich so abrupt nach hinten gedreht? Ich hielt das Foto näher an meine Augen. Das konnte nicht sein. Ich kippte es hin und her, um mich zu vergewissern, ob es nicht nur eine seltsame Spiegelung auf dem glänzenden Fotopapier war. Ich merkte wie sich mein Magen sofort zusammenkrampfte. Gleichzeitig stellten sich meine Nackenhaare auf. Ich spürte, wie sich meine Hand um das Foto versteifte. Mühsam stand ich auf und humpelte zum Schreibtisch. Lars unterbrach seine Suche. „Was machst du?“ Es war eine leichte Sorge in seiner Stimme, als er mich umständlich aufstehen und ohne Krücke in die andere Ecke des Zimmers wanken sah. „Ich will etwas auf dem Foto nachsehen. Ich brauche die Lupe aus Papas Schreibtisch.“ Ich hielt kurz inne. Ich wusste, dass sich in dem Schreibtisch eine Lupe befand und ich wusste auch ganz genau wo. Es war seltsam in einer mir noch immer fremden Wohnung solche Eingebungen zu haben. Von Neugier getrieben, kam Lars zu mir herüber. Ich fand die Lupe auf Anhieb. Durch das krampfhafte Festhalten des Fotos hatte ich es leicht geknickt. Als ich jetzt locker ließ, merkte ich dass ich zitterte. Ich hielt die Lupe vor die entsprechende Stelle. Plötzlich wich jegliche Kraft aus meinem Körper. Ich sank auf den Stuhl hinter mir und starrte ins Leere. Der Raum begann sich zu drehen. Zusammenhangslose Bilder tauchten vor meinem inneren Auge auf. Lars nahm mir Foto und Lupe ab. Er hatte vermutlich mein kreidebleiches Gesicht bemerkt und musste wissen, was ich entdeckt hatte. Ich wollte es aussprechen, doch mein Mund war fürchterlich trocken. Ich versuchte ihn zu befeuchten, während ich zu Lars sah. Sein Gesicht war wie versteinert. Allein seine Kiefermuskeln zuckten. Er hatte es ebenfalls entdeckt. Er hatte SIE entdeckt. Ich räusperte mich und versuchte zu sprechen. „Ich glaube ich habe eine Schwester.“ Meine Stimme war nur ein Flüstern. Ich wurde überwältigt von Erinnerungen. Zunächst waren es nur verwirrende Bilder, bis die wichtigste Erinnerung zurückkam: Ich hatte eine Zwillingsschwester. Auf dem Geburtstagsfoto war sie genau in dem Moment in den Raum gekommen, als der Auslöser gedrückt worden war. Meine Eltern hatten sich gegen das Gesetz, gegen die Partei gestellt. Ich wurde zugleich mit Stolz und Angst erfüllt. Was würde diese Erkenntnis für meine eigene Zukunft bedeuten, meine Zukunft mit Lars? Vorsichtig hob ich den Blick. Sein Gesicht war nicht mehr, als eine Maske. Er sah mich nicht an. „Deine Eltern waren Verräter. Ausgerechnet DEINE Eltern. Weißt du, was das für mich bedeuten kann, wenn das jemals herauskommt?“ Er starrte noch immer auf das Foto. „Ich habe mich immer vorbildlich verhalten, womit habe ich das verdient?“ Er steckte das Foto ein und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Lars.“ Er machte eine Handbewegung, die mich zum Schweigen bringen sollte. Während er sich die Augen rieb, sprach er weiter. „Wir müssen deine Schwester finden und das einzig Richtige tun.“ Ich wollte mir gar nicht weiter ausmalen, was er damit meinte. Ich erinnerte mich an immer mehr Dinge, Einzelheiten. „Sie ist bereits tot Lars. Ich erinnere mich.“ Endlich sah er mich an. Es wirkte, als wäre er schlagartig gealtert, doch ich konnte auch einen Funken Hoffnung in seinen Augen sehen. „Der Unfall. Ich erinnere mich wieder. Sie war mit mir im Wagen. Sie war sofort tot. Ich habe meine Eltern angerufen. Ich weiß nicht, was dann passiert ist, aber sie wurde nicht am Unfallort gefunden. Ich glaube sie haben sie verschwinden lassen.“ Lars sah mich einen Moment an. „Bist du sicher, dass sie tot war?“ Das Bild aus meinem Traum tauchte wieder auf. Das leblose Gesicht vor mir – mein Gesicht. Es war das Gesicht meiner Zwillingsschwester. Ich nickte. Er sah mich noch einen Moment lang direkt an, dann blickte er in den Raum. „Wenn sie wirklich tot ist, reicht es vielleicht, wenn wir jeglichen Hinweis auf ihre Existenz vernichten. Du weißt, dass dies unser eigenes Todesurteil sein könnte, wenn wir nicht vorsichtig genug sind?“ Er erwartete nicht, dass ich antwortete. Das war auch gut so, denn ich hörte ihm nur halb zu. Ich war in meine neuen, alten Erinnerungen vertieft. Irgendetwas stimmte nicht, doch ich konnte noch nicht greifen, was es war. Ich war überfordert mit all diesen neuen Bildern, die sich mit den bestehenden mischten. Ich war froh, dass Lars hier war und sich um alles Weitere kümmern würde, denn ich war nicht in der Lage dazu. Gleichzeitig war ich erstaunt über seine Ruhe. Ich hatte befürchtet, er würde vollkommen ausrasten. Aber vielleicht versuchte er auch nur einen kühlen Kopf zu bewahren und keinen Fehler zu begehen. Ich hatte das Gefühl, dass diese Erkenntnis unser tägliches Leben stark beeinflussen würde.
Lars begann all die losen Fotos und das Armband in den Kamin zu werfen. Als er versuchte ein Streichholz anzuzünden, bemerkte ich zum ersten Mal, dass er zitterte. Ich konnte mir nur im Ansatz ausmalen, was in ihm vorging. Sein ganzes Leben lang war er ein Vorbild gewesen. Schon als Kind wurde er in der Parteijugend als Vorzeigebeispiel herangezogen. Mittlerweile galt er als vielversprechende Zukunft in der Partei. Er half überall mit, um das Gemeinwohl, entsprechend der Regeln, zu verbessern. Und jetzt musste er eines der schlimmstmöglichen Verbrechen vertuschen. In seiner eigenen Familie. Doch mein Mitleid hielt sich in Grenzen. Ich hatte gerade erst meine Erinnerungen zurück, nur um nach fast 15 Jahren zu begreifen, dass meine geliebte Schwester tot war. Bei all den schönen Erinnerungen kamen mir die Tränen. Ich hatte nie eine Chance gehabt um sie zu trauern. Ich musste wieder an den Unfall denken. Wir hatten uns gemeinsam raus geschlichen. Es war nicht das erste Mal gewesen. Wir waren von klein auf beste Freundinnen und es war schwierig gewesen so oft getrennte zu sein, da man uns nie zusammen sehen durfte. In der Nacht des Unfalls war es schief gegangen. Deswegen hatte ich als erstes unsere Eltern angerufen und nicht die Polizei oder einen Krankenwagen. Es passte endlich alles zusammen. Doch wie hatten es meine Eltern all die Jahre geschafft meine Schwester nicht nur aus meinem Gedächtnis fernzuhalten, sondern auch aus ihrem zu verbannen? Ich spürte, wie sich meine Brust zusammenschnürte. Ich hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen, während sich ein erneuter Schwall von Tränen seinen Weg bahnte. Ich wollte mir die letzten Erinnerungen in unserem Kinderzimmer ansehen, bevor wir vermutlich auch dort alles zerstören würden. Ich strich über die Holzbuchstaben an der Tür. >E M M A
Er war tot.
Ich war frei.