Der Flug nach Keflavik war für Julia der erste Flug ihres Lebens. Zwar war sie schon in andere Länder gereist, das allerdings nur auf dem sicheren Boden. Selbst als sie schon länger in der Luft waren und durch die Wolken nur noch wenig Boden sehen konnten, war sie sich noch nicht sicher, wie sie das Fliegen finden sollte. Nach gut vier Stunden Flug waren ihre Gliedmaßen jedenfalls eingerostet und Julia war heilfroh, als sie endlich aufstehen durfte. Aber erst, als ihre Ohren den Druckausgleich wieder völlig geschafft hatten, fühlte sie sich wirklich wohl. Der Flughafen in Keflavik war nicht so klein, wie man ihn sich vielleicht vorgestellt hätte. Steppi hatte ihr erklärt, dass fast der gesamte Internationale Verkehr hier abgewickelt wurde und nicht in Reykjavik, was zur Folge hatte, das der Flughafen hier sehr viel größer und damit auch voller war. Bevor Julia die Massen an Menschen erlebt hatte, die überall auf dem Flughafengelände herumliefen, hätte sie nie geglaubt, dass so viele Menschen ausgerechnet nach Island wollten. Sie hatten gerade ihr Gepäck vom Band geholt, da klingelte Steppis Handy und seine Augen flogen über eine Nachricht. „Steinunn trifft sich mit uns am Flughafencafe, sie ist schon fast dort. Ist vielleicht ganz gut, wenn wir uns nicht verpassen wollen“, erklärte er dann. „Weißt du, wo das ist?“, fragte Julia. Steppi nickte und nahm seinen Koffer mit der einen, Julias Hand mit der anderen Hand und lief los. Es war schwer, sich mit Freund und Koffer durch die Menschenmenge zu schlängeln, ohne sich zu verlieren. Viele Leute hatten es eilig oder liefen mit ihren Augen an ihr Handy geklebt durch die Hallen. Schließlich schafften es die beiden aber doch zu ihrem Ziel. Steinunn, Steppis Schwester, stand bereits in die Ecke des Eingangs gepresst, um niemanden im Weg zu stehen. Als sie Steppi in der Menge ausmachen konnte, löste sie sich jedoch mit einem breiten Lächeln von ihrem Platz und lief mit ausgestreckten Armen auf ihn zu. Obwohl sie über einen Kopf kleiner war als er, war er dank großem Altersunterschied immer ihr Baby gewesen. Umso mehr freute sie sich für ihn, dass er nun endlich eine Freundin gefunden hatte und glücklich zu sein schien. Natürlich war auch Steinunn neugierig auf ‚die Neue‘ und musste sich innerlich dazu anhalten, sie nicht zu mustern. Der Einfachheit halber verständigten sich die drei auf Englisch und nach einer Begrüßung und Umarmung nahm sich Steinunn wenigstens ein paar Sekunden, um Julia zu beurteilen. Sie wirkte unsicher, aber sehr höflich. Ihrem Aussehen nach schien sie keine typische Tussi zu sein, wie Steinunn sie so verabscheute. Julia hatte wert auf funktionelle Kleidung gelegt und nach dem was Steppi sich hatte entlocken lassen, war es im Alltag nicht viel anders. „Möchtet ihr noch einen Kaffee hier trinken oder gleich nach Hause fahren? Ich kann mir vorstellen, dass ihr genug gesessen seid jetzt“. Steppi und Julia tauschten einen kurzen Blick und er gab ihr mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass sie entscheiden konnte. „Also von mir aus können wir gleich nach Hause, ich brauche Kaffee nicht so dringend. Ihr?“. Die Geschwister verneinten beide und so machten sich die drei auf den Weg zum Parkhaus, das direkt über das Flughafengebäude zugänglich war. Die Koffer waren schnell in den familientauglichen Van geladen und mit Steinunn am Steuer rumpelten die drei auf eine kurze Autofahrt nach Hafnarfjördur. In dieser Jahreszeit war die Landschaft über und über mit Schnee bedeckt, aber Steppi erklärte, dass auch sonst die Landschaft recht karg wirkte und nur wenig Pflanzen hier wuchsen. Auf der Straße fuhren ausschließlich leistungsstarke Autos, die man bei den teilweise kaputten Straßen gut brauchen konnte, versicherte auch Steinunn. Hafnarfjördur war nicht die größte Stadt Islands, aber ein Dorf war die Hafenstadt wirklich nicht. Die Industrie war der eigentlichen Stadt vorgelagert, sodass die Wohngegend von Hafnarfjördur sehr beschaulich wirkte. Steinunn lenkte den Wagen sogar an einem der beiden, wie Steppi betonte, Seen inmitten des Stadtgebietes vorbei. In einem etwas abseits gelegenen Wohngebiet mit kleinen Reihenhäusern. Die Straßen waren etwas breiter und nicht alles zugebaut, aber ansonsten erinnerte vieles an Deutschland. Während Julia skeptisch die Luft schnupperte,weil sie Abgase vermutete, sog Steppi die einzigartige Mischung aus Meersalz und Industrie gierig ein. In Deutschland so weit weg vom Meer zu leben, hatte ihm immer das Herz gebrochen, die Besuche in seiner Heimat brauchte er seitdem umso mehr. Entspannt lächelnd nahm er ihre Hand und folgte seiner Schwester, die schon an der Haustür war und aufschloss. Schon im Hausgang fiel Julia ein eigentümlicher Geruch auf, den sie spontan als eklig klassierte, bei Steppi jedoch rief der Geruch Vorfreude hervor. Er umarmte kurz seinen Vater, bevor ihn seine Mutter trotz ihrer geringen Größe fast erdrückte. Auch die beiden wechselten in die Englische Sprache, sobald sie Julia begrüßten. Während Steppis Mutter ähnlich groß war wie sie, war Steppis Vater nur wenige Zentimeter kleiner als sein Sohn und nicht weniger beeindruckend, was die Statur betraf. „Ich bin noch nicht ganz fertig mit kochen. Wie wäre es, wenn ihr Julia das Haus zeigt und in so zwanzig Minuten sollte es fertig sein?“, schlug Steppis Mutter vor. „Ich bringe ihre Tasche hoch und zeige ihr das Zimmer“, meinte Steppi, dann griff er nach ihrer Sporttasche, die sie im Hausgang abgestellt hatte, und ging über eine breite Treppe aus dunklem Holz. Knarzend erreichten die beiden das Obergeschoss, wo Steppi die erste Tür schräg gegenüber der Treppe ansteuerte. „Das ist mein altes Zimmer und du kannst mein Bett haben, ich schlafe auf dem Sofa, oder wir beide gemeinsam, wie du möchtest.“ Steppi stellte die Tasche auf das Bett und wandte sich zu Julia. „Wir passen schon irgendwie in das Bett“, widersprach Julia, klang dabei aber nicht ganz so überzeugt. Das Bett war zwar lang, Steppi war ja auch groß, aber wirklich breit war es nicht. „Was meinst du? Gefällt es dir?“. Bevor Julia antwortete, sah sie sich um. Das dunkle Holz der Treppe setzte sich in der Dachschräge fort, ansonsten sah man nicht viel von der Tapete. Steppi hatte viele Poster aufgehängt, Julia erkannte die Band Sigur Ros und einen Handballverein, vielleicht Haukar. Den meisten Platz nahm sein Schreibtisch ein, an dem er immer Schularbeiten gemacht hatte, fast direkt daneben stand sein Bett. Insgesamt wirkte das Zimmer relativ klein, aber bequem. „Ja, dein Zimmer schon, aber der Geruch im Hausgang war irgendwie seltsam, was war das denn?“. „Essen, etwas isländisches. Es schmeckt nicht halb so schlimm, wie es riecht, keine Angst“, grinste Steppi, dann umarmte er Julia und streichelte ihr mit einer Hand durch die Haare. „Es ist schön, dass du hier bist und ich dir meine Heimat zeigen kann. Wenn du möchtest habe ich noch ein paar Ausflugsziele geplant, bis du wieder abreist. Hast du Lust?“. „Ja, aber morgen erst. Es ist ja relativ spät und deine Eltern wollen nach dem Essen bestimmt reden, wir haben ja dann ein paar Tage Zeit.“ Steppi war froh, dass Julia so bereitwillig seine Planung akzeptierte. Lächelnd ging er zu ihr und umarmte sie, gab ihr einen Kuss auf ihren Scheitel. ”Ja, du hast Recht damit. Packst du noch aus oder gehen wir in die Küche?”. Julia kräuselte die Nase, weil sie an den seltsamen Geruch aus der Küche dachte. ”Ich packe nicht aus, aber ich will erst wieder in die Küche, wenn es nicht mehr so riecht. Irgendwie ist das seltsam. Verrate mir wenigstens, was ihr da kocht.” ”Das ist Rochen”, gab Steppi schließlich doch nach, auch wenn er sich eigentlich vorgenommen hatte, Julia noch ein bisschen auf die Folter zu spannen. ”Rochen muss gelagert werden damit er nicht mehr giftig ist, deshalb riecht er nicht gekocht ein bisschen komisch.” Julia zog skeptisch die Augenbrauen zusammen. Essgewohnheiten hin, Essgewohnheiten her, verrotteter Rochen war schon ziemlich verrückt. Offenbar war das aber ein gängiges Essen, Steppi hatte es ja vorhin traditionell genannt. ”Na gut. Irgendwie habe ich ein bisschen Angst vor deinem Essen, aber ich werde es auf jeden Fall mal versuchen, ich möchte ja auch nicht unhöflich sein.” Steppi öffnete die Zimmertür ein wenig und streckte den Kopf in den Hausgang. ”Also ich rieche nichts mehr, eigentlich können wir dann in die Küche gehen, oder was meinst du?”. Julia streckte ebenfalls den Kopf in den Hausgang und schnupperte. Auf anhieb roch sie nichts mehr von diesem eigentümlichen Duft. ”Na gut, die Luft scheint in Ordnung zu sein. Lass uns runtergehen.” Hintereinander nahmen sie die Treppe ins Erdgeschoss, durch den Hausgang in ein großes Wohn- und Esszimmer, wo Steinunn sich auf das Sofa gelümmelt hatte. ”Na, ausgepackt? Ich glaube ich stehe auch langsam auf, Mama müsste das Essen fast fertig haben jetzt”, begrüßte sie die beiden und kämpfte sich von dem niedrigen Möbelstück. Gerade in diesem Moment kam Steppis und Steinunns Mutter mit dem ersten Topf aus der Küche. Aus dem Topf dampfte es kräftig und Steppi erhaschte einen Blick auf gekochte Kartoffeln, die häufigste Beilage zu kaest skata. Mit derselben kindlichen Vorfreude wie jedes Jahr folgte er seiner Mutter an den Esstisch, dabei nahm er Julia an der Hand und zog sie mit sich. ”Es gibt immer Kartoffel dazu und ein bisschen Soße wenn du magst. Ich hoffe es schmeckt dir, ich esse es sehr gerne wenn ich an Weihnachten hier bin.” ”Ich hoffe es auch”, erwiderte Julia nicht ganz so überzeugt, begleitete ihren Freund aber anstandslos zum Tisch. Wenigstens einen Versuch wollte sie wagen.