Tatsächlich schaffte Julia es, das Spiel Löwen gegen Kiel zu schauen. Und es war wie immer, Steppi wurde nicht eingesetzt, sondern saß hinter der Spielerbank. Wenn er doch mal in ein Kamerabild rutschte, verriet sein missmutiger Blick, dass ihn seine Rolle nicht besonders freute. Er hatte den Kopf auf die Hände gestützt und verfolgte das Spielgeschehen. Die Löwen gewannen das Spiel knapp und die Freude darüber war groß.
Kaum 24 Stunden später saß Julia wieder mit ihren Schülern in dem heute sehr stickigen Unterrichtsraum zusammen. Das Wetter drückte zusätzlich zu den Reisestrapazen noch auf die Stimmung, es wurde kaum gelacht. Trotzdem wollte es Julia professionell durchziehen und kündigte wieder eine Partnerübung an.
"Steppi, kann ich dich wieder mit Mads zusammenstecken? Ein paar Sätze über dein Zuhause in Island kannst du auf Deutsch auch schon, das weiß ich."
Sie versuchte zu lächeln, aber Steppi schien ihr gar nicht zugehört zu haben. Sein Blick war fest auf ein Fenster geheftet und er wirkte tief in Gedanken versunken. Julia berührte ihn sanft am Arm. "Steppi? Ist alles in Ordnung mit dir?".
Davon schreckte er schließlich auf und musterte Julia im ersten Moment verwirrt. "Ähm, ick denk schon, hat du was gesagt? Tut mir leid, ick habe gerade nachgedacht, ick habe nicht zugehört."
"Das habe ich gemerkt. Willst du drüber reden?".
Steppi schüttelte nur abwehrend den Kopf, dann ging er hinüber zu Mads, der ihn zu sich winkte. Auch er musterte ihn kritisch, sagte aber nichts zu ihm sondern erklärte, welche Übung sie zu machen hatten. Obwohl Steppi offenbar nicht zugehört hatte, schüttelte er die deutschen Formulierungen einfach aus dem Ärmel. Wenn Mads in einem Jahr auch so gut Deutsch könnte, nahm er sich vor, dann hätte er es wirklich geschafft.
"Viel Erfolg nächste Woche", verabschiedete Julia später alle und mit erleichtertem Seufzen verschwanden die Collegeblöcke voller Grammatikregeln schnell vom Tisch. Harry und Mads winkten zum Abschied, während Steppi mit den Händen in den Hosentaschen im Raum stand und vor sich hin starrte. Heute war er fast die ganze Zeit völlig abwesend gewesen, fiel Julia im Nachhinein auf und sie beschloss ihn darauf anzusprechen. "Steppi, magst du jetzt vielleicht reden? Du schaust irgendwie nicht glücklich aus. Wenn es nicht zu privat ist, kannst du gerne mit mir reden."
Mit kritischem Blick verlagerte Steppi sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. "Ick weiß nicht. Dein Angebot ist nett, danke, aber ick will dir nicht die Zeit nehmen, und ob das dann helfen würde weiß ick auch nicht. Ick glaube das ist einfach nur Frust und damit das besser wird, muss ich an mir arbeiten."
"Ach, Zeit nehmen, so ein Quatsch", winkte Julia ab, "so viel Zeit habe ich gerade noch. Kann es sein, dass du wegen dem Handball gefrustet bist? Einsatzzeiten?". Steppi hob die Augenbrauen. Er hätte nicht geglaubt, dass sie sich so gut auskannte. "Woher weißt du das denn? Das war sozusagen ein Volltreffer."
Julia grinste nur und hob die Schultern. "Also wenn man die Spiele ein bisschen verfolgt sollte das einem auffallen. Wir könnten uns hier um die Ecke ein bisschen an das Neckarufer setzen und quatschen, was meinst du? Ich denke das würde dir gut tun."
Steppi verwirrten die widersprüchlichen Signale. Eigentlich hatte sie nie Zeit wegen der Arbeit. Aber jetzt auf einmal doch. Er machte sich Hoffnungen,vielleicht mochte sie ihn ja besonders gerne, . Mit einem kleinen, seligen Lächeln auf den Lippen sagte er zu. Gegen eine Verabredung war absolut nichts einzuwenden. Gemeinsam spazierten sie ein paar Straßenecken weiter, dann über die große Hauptstraße direkt auf das Ufer zu.
Die Wiese war radikal kurz gehalten und bevölkert von einer großen Menge junger Leute, die das schöne Wetter genossen. Manche grillten sogar und ab und an fuhr ein Touristenschiff vorbei, dessen Gäste den Landratten zuwinkten.
Die beiden ließen sich ins Gras fallen und Julia hob erwartungsvoll die Augenbrauen. Bevor Steppi seine Sprache wiederfand, zerrupfte er erst noch ein paar Grashalme. "Es ist, wie du sagst. Ick kann froh sein, wenn ich darf überhaupt mal spielen. Nicht nur hier, sondern auch in der Nationalmannschaft, ich habe jemanden vor mir, der immer bekommt den Vorzug. Langsam es wird frustrierend. Dass ich es auch kann, habe ich ja gezeigt, als ich für Uwe gekommen bin. Jetzt kann ich den Leuten die Füße küssen, dass ich noch mittrainieren darf, glaube ich manchmal."
"Und was willst du dagegen tun? Willst du wieder gehen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass du keine anderen Angebote hast, du bist doch gut."
Steppi lächelte, er fühlte sich geschmeichelt. Dass er gut sei, sagte man ihm nicht oft. "Nein, eigentlich gehen will ich nicht. Ich fühle mich hier wohl, der Verein macht eine gute Arbeit und die Leute sind sehr nett. Lexi und sein Frau würde ich am liebsten nie mehr hergeben. Dann es bleibt mir aber nur übrig noch mehr trainieren, damit ich noch besser werde, dann bekomme ich vielleicht auch mal Einsatzzeit."
"Das ist ein guter Plan", lächelte Julia ebenfalls, "ich fände es nämlich wirklich schade, wenn du gehst. Abgesehen davon, dass du spielen kannst, finde ich dich auch noch sympathisch."
Der letzte Satz war ihr herausgerutscht bevor sie darüber nachgedacht hatte und jetzt fühlte sie, wie ihr Kopf langsam aber sicher heiß wurde.
„Sympathisch, aha“, murmelte Steppi und sah einem Schiff hinterher, das voll beladen gemächlich durch den Neckar pflügte. Inzwischen wurde Julias Kopf immer heißer. Warum hatte ihr Herz ausgerechnet in Steppis Gegenwart beschlossen, wieder schneller zu sein als ihr Kopf? Aber nein, keine Beziehung, so toll sie Steppi auch fand. Da musste sie hart bleiben.
„Du bist rot“, stellte Steppi fest, inzwischen den Blick auf Julia geheftet. Sie wich seinem Blick aus und schwieg dabei. Für Steppi gab es keinen Zweifel, sie mochte ihn, vermutlich sogar ziemlich gerne. Und er mochte sie. Das Schicksal musste es gut mit den beiden gemeint haben, dass sie sich ausgerechnet jetzt begegneten. Da er nicht wollte, dass sie sich unwohl fühlte, wechselte er aber das Thema.
„Danke, dass du mir hörst zu. Es ist schwer, das jemand zu sagen, wenn er spielt auch Handball. Und dann hast du auch noch wenig Zeit.“
„Ach, das ist nichts, wirklich. Ja, mein Studium ist stressig und lernintensiv, aber eine Stunde habe ich mal Zeit, gerade dann wenn es dir schlecht geht und ich helfen kann.“
„Lern-was?“.
„Lernintensiv. Ich muss sehr viel lernen und üben, vor allem Latein. Geschichte fällt mir leicht, damit bin ich auch schon fertig. Nur eine blöde Hausarbeit in Latein fehlt mir noch vor dem Examen. Die muss ich aber bestehen, sonst war’s das.“
„Dann ich kann dir Daumen drücken, ja?“.
„Das würde mich sogar sehr freuen“, lächelte Julia, versuchte sich dann aber mit einem Blick auf den Neckar abzulenken. Sie machte sich wegen der wichtigen Hausarbeit oft genug Druck und schlaflose Nächte, glücklicherweise war es bald vorbei.
„Du bist sehr nett“, unterbrach Stefán irgendwann die Stille zwischen den beiden und Julia musste schmunzeln. „Danke. Sag das einer Frau aber lieber nicht so. Dann mag sie dich vielleicht nicht mehr und das wäre schade.“
Irritiert runzelte Steppi die Stirn. „Wieso? Was ist falsch? Das ist doch gut.“
„Ja, eigentlich hast du Recht. Allerdings sagt man in Deutschland ‚Nett ist der kleine Bruder von scheiße‘. Das heißt, wenn du jemandem sagst, dass du ihn nett findest, findest du ihn eigentlich, naja, nicht nett. Verstehst du?“.
„Nein. Das ist doch große Scheiße. Wieso ich sage etwas nettes, dann ich meine es auch so und nicht anders. In Island wir alle sind freundlich miteinander und sagen viel nette Dinge. Das ist doch schön.“
„Ja, das ist wirklich schöner“, grinste Julia und tarnte ihr Lachen als ein Hüsteln, „ich habe auch nicht gesagt, dass das gut ist. Ich dachte nur, wenn du hier jemanden näher kennen lernen möchtest, solltest du vielleicht wissen wie Deutsche denken.“
„Das will ich nicht. Ich habe schon kennengelernt jemand, den ich finde nett.“
„Ach, hast du?“.
„Ja, habe ich dir gesagt vorhin. Ich finde dich nett, wirklich nett.“
Julia errötete bis unter die Haarwurzeln und suchte, den Blick auf alles außer Steppi gerichtet, fieberhaft nach einer Erwiderung. Er machte es ihr wirklich alles andere als einfach, ihm zu widerstehen. Aber sein Kompliment war unmissverständlich.
„Danke, Steppi, wirklich. Ich finde dich auch sehr nett. Isländisch nett, nicht Deutsch nett. Aber mir fehlt die Zeit für mehr, falls du das möchtest. Mein Studium ist wichtiger. Es tut mir leid.“
„Ich kann dich nicht überzeugen?“, murmelte Steppi. Er war näher gerückt, stützte sich jetzt mit einem Arm hinter Julia ab, sodass sich ihre Schultern berührten. Sie wollte ‚nein‘ antworten, aber sie konnte nicht. In ihrem Inneren lieferten sich Herz und Verstand einen harten Kampf um ihre Entscheidung.
Steppis ältere Schwester erklärte ihm in allen passenden und unpassenden Situationen, dass Frauen erobert werden wollten. Vor genau so einer Frau saß er wohl gerade. Ihre Stimme zitterte, die Antwort kam zögerlich. Er konnte ihr Argument zwar nachvollziehen, aber sie würde es überzeugender sagen, wenn sie das wirklich dachte, dessen war er sich sicher.
Sachte streichelte er mit zwei Fingern über ihre Wange, sie wehrte sich nicht. Das Gefühl ihrer Haut unter seinen Fingerkuppen war wundervoll und er musste sich sehr beherrschen, nicht einfach mit einem Kuss über sie herzufallen. Er beugte den Kopf langsam, immer darauf bedacht, beim kleinsten Anzeichen von Weigerung aufzuhören. Aber es kam nichts. Julia hatte die Lippen leicht geöffnet und schien sogar darauf zu warten.
Vorsichtig streifte er mit seinen Lippen ihre und als dann immer noch kein Widerspruch erfolgte, küsste Steppi endlich Julia. Eigentlich hatte sie sich wehren wollen. Sie wollte ihm keine Hoffnungen machen, aber Julias Herz wollte den Kuss mehr als alles andere. Zaghaft erwiderte sie den Kuss, den Bauch voller Schmetterlinge und den Verstand berauscht von diesen Sinneseindrücken.
Steppi war endlich am Ziel seiner seit einigen Tagen schlaflosen Nächte angelangt. Wie oft hatte er wach gelegen und an Julia gedacht? Endlich war der Moment da, von dem er schon geträumt hatte. Der Kuss wurde intensiver, begann aber gleichzeitig salzig zu schmecken. Er war zu benebelt um sich darüber Gedanken zu machen. Erst als Julia sich aus dem Kuss langsam löste sah er, dass Tränen ihre Wangen hinabliefen.
„Es tut mir Leid“, flüsterte sie stockend, dann stand sie auf und bevor Steppi nach ihr greifen konnte, lief sie davon.
Mit entgeistertem Gesichtsausdruck starrte Steppi ihr hinterher, bis Julia in der Menschenmenge verschwand, die in Richtung Stadtmitte drängte. Er schüttelte den Kopf, wie um die Situation loszuwerden, aber er träumte leider nicht.
„farðu í rassgat, andskotinn“, murmelte er vor sich hin, dann stand auch er auf. Er brauchte dringend Ablenkung.