Henry ballte die Hände zu Fäusten. »Das bleibt abzuwarten, Don. Ich spreche dir das Recht ab, an mir Rache zu verüben. Du hast bekommen, was du verdient hast und dass du noch lebst, sollte dich dankbar stimmen. Wenn ich gewusst hätte, dass der Jäger dich nicht umbringt, hätte ich es getan! Noch im Kerker!«
Donnchadh schnaubte und sein Gegenüber konnte die beiden Begleiter des Iren, John und Leo, hinter diesem auftauchen sehen. Sie flankierten ihn wie den König in einem Schachspiel.
»Warum, meinst du, bist du besser als ich? Du hast die gleichen Verbrechen begangen und schwingst dich nun zum Moralapostel auf?«
Henry knurrte. »Du bist ein Monster, Don! Du hast jedes bisschen Menschlichkeit verloren, sogar das, was ich mir über all die Jahrhunderte bewahren konnte, und fragst mich allen Ernstes, was du falsch gemacht hast? Erinnerst du dich an das kleine Mädchen? An all die anderen, die du auseinander gerissen hast wie Puppen? Denn ich tue es!«
Mit einem Lachen warf Donnchadh den Kopf in den Nacken und fuhr sich nonchalant mit den Fingern durch die kurzen Haare. »Du hältst mir vor, Kinder getötet zu haben? Ausgerechnet du? Du warst es, der ein Waisenhaus abgefackelt hat! Meine Herren«, wandte er sich gehässig an seine Begleiter und deutete auf Henry, »Dionysos, der Meister der Doppelmoral. Wirft mir etwas vor, das er selbst getan hat.«
Der Andere seufzte. »Ja, das habe ich, ich habe etwas niedergebrannt. Und das allein hat gereicht, um deine Neugier zu wecken. Du hast den Fehler begangen, anzunehmen, ich hätte aus Spaß gehandelt, weil du mich für genauso krank gehalten hast, wie du es bist, doch du hast meine wahren Gründe oder das, was tatsächlich geschehen ist, nie hinterfragt. Ich habe in dieser Nacht ein Gebäude zerstört - du nahmst an, es wäre das Waisenhaus gewesen, weil es in deine Fantasie passte, doch das war es nicht und ich habe es nie aufgeklärt. Für die Kinder, die in dieser Nacht ihr Leben ließen, war der Tod eine Erlösung. An meinen Händen klebt jedoch kein Blut, denn meine Grausamkeit hat Grenzen. Deine nicht. Du bist ein Triebtäter. Ein Perverser. Ich wollte dich aufhalten.«
»Na«, zuckte Don mit den Schultern, »ein Jammer, dass der Jäger ein ziemlicher Waschlappen war, als ich ihn dann endlich in meinen Fingern hatte. Das war, nachdem er mir den Körper mit einem glühenden Schürhaken verbrannt hat. Du wirst für jede Narbe bluten. Oder besser noch, der Junge wird es tun!« Er deutete auf den noch immer ziemlich benommenen Garrett, der sich matt an seine blutende Stirn fasste und elend aussah.
»Eher wirst du von meinen Händen in Stücke gerissen«, knurrte Henry wütend und biss die Zähne aufeinander. Seine Augen waren rot geworden und leuchteten hell, wann immer ein Blitz über den wolkenverhangenen Himmel zuckte. Der Wind hatte nochmals an Stärke zugenommen und das Flattern der Kleidung der Vampire war zu hören.
»Nun, das kannst du versuchen. Doch verzeih’ mir, ich habe nicht vor, fair zu kämpfen.« Donnchadh machte ein paar Schritte zurück und ließ seine beiden Handlanger Leo und John vortreten. Beide hatten altertümlich wirkende, aber scharfe Macheten in der Hand und grinsten gehässig.
Henry ließ den Blick über sie wandern. Das Gift in seinem Körper war abgeklungen, doch die Wirkung des Silbernitrats hielt noch immer etwas vor und lähmte seine Psychokinese. Er würde sie nicht voll einsetzen können und Donnchadh wusste das. Sonst würde der Kampf schnell vorbei sein und Henry würde ihn mit seinem eigenen Darm strangulieren.
»Du bist eben doch ein Feigling«, murmelte der Vampir. Er musste verhindern, dass Don und seine Schergen in Garretts Nähe kamen.
Dieser machte nicht den Eindruck, als würde er sich gut bewegen können. Vermutlich hatten diese Dreckskerle ihm ein paar Rippen gebrochen, als sie ihn niedergeschlagen hatten. Dazu bedurfte es nicht viel Kraft.
»Ich überlasse es dir, wie ein strahlender Held unterzugehen. Die Welt wird ohnehin wissen, dass du deine eigene Art verraten hast, um die zu verteidigen, die für uns nur Futter sind!«, spuckte Donnchadh.
»Das nehme ich gern in Kauf. Doch vorher schicke ich euch in die Hölle.«
Henry hob die Hand und John ließ mit einem Keuchen seine Machete fallen. Sein Handgelenk war unnatürlich verdreht. Diesen Moment des Schmerzes ausnutzend, schoss sein Angreifer vor, prallte gegen ihn und John schrie so laut und gurgelnd auf, dass es sich an den Ruinen brach. Der Wind trug das schauderhafte Geräusch weiter.
Ein seltsames Gefühl der Befriedigung, ein lange nicht vermisster und doch wohltuender Rausch pulsierte in Henrys Brust, als er sich etwas Blut von der Lippe leckte. Es gehörte John, der mit trüben Augen und blutigem Mund in sich zusammensackte. Mit einem unangenehmen Geräusch glitt die Faust des Vampirs aus dessen Brustkorb und Henry drehte sich zu Leo um, der entgeistert auf das makabere Schauspiel starrte.
Das war nicht mehr der so schwach und gezähmt wirkende Sommerurlauber, der Hand in Hand mit seinem schwulen Freund durch die Gegend flanierte. Dieser Vampir war der Dionysos, von dem der junge Unsterbliche in seinem kurzen Leben als Blutsauger so viele Schauergeschichten gehört hatte.
Wie ein Irrer stand Henry da, die Haare vom Sturm zerzaust, die helle Kleidung besudelt, den rechten Arm fast bis zum Ellenbogen in glänzendes Blut getaucht, dessen Geruch sich nun unheilvoll über der Ruine ausbreitete. In seiner Faust hielt er noch immer Johns Herz, dessen letzte Muskelzuckungen es aussehen ließen, als würde es noch schlagen. Die Augen des Vampirs leuchteten in der gewitterschwangeren Luft wie Signallampen und das Grinsen in seinem Gesicht offenbarte seine Fänge. Langsam, ohne den Blick von Leo abzuwenden, hob Henry das pulsierende Organ und leckte darüber.
»Köstlich. Ich hatte vergessen, wie gut das Blut eines Vampirs schmeckt«, schnurrte er fast und das unheimliche Grinsen wich einem raubtierhaften Lächeln. Langsam ging er in die Knie und hob Johns fallengelassene Waffe auf. »Willst du tanzen, Junge? Oder lieber abhauen und dein Leben als Blutsauger noch einmal ordentlich anfangen? Ich gebe dir die Chance ...«
»Du hast meinen Kumpel gekillt!«, presste Leo zittrig hervor und hob die Machete.
»Nun. Ja. Was hast du erwartet?«
»Du Dreckskerl.«
Henry rollte leicht mit den Augen und nickte. »Ja, das kenne ich auch schon. Ich bin immer der Böse. Aber ich habe dieses Tänzchen hier nicht angefangen.« Er stieß sich ab, es klirrte und der junge Vampir, der schon aufgrund seines geringen Alters nicht den Hauch einer Chance hatte, ließ mit einem Jaulen die Klinge fallen. Henry hatte ihm mit seiner Machete einen Schnitt verpasst, der die Jacke bis zum Ellenbogen aufgeschlitzt hatte und sich bis tief ins Fleisch zog. Blut spritzte vernehmlich auf den Steinboden.
»Die letzte Chance. Hau’ ab, solange du noch kannst. Ich will dich nicht umbringen, Mann!«
»Fick’ dich, du Schwuchtel!«
Henry zog die Augenbraue hoch und trat Leo gegen das Kinn, als sich dieser nach seiner fallengelassenen Waffe bückte. Der junge Vampir fiel nach hinten und prallte hart gegen eine der schütteren Steinmauern, was ihm die Luft aus den Lungen presste. Währenddessen hob der Andere die Machete auf und betrachtete beide Klingen in seinen Händen.
»Weißt du, ich habe mein Leben lang lieber mit einem Schwert gekämpft als mit Schusswaffen. Die haben keinen Stil und erfordern kein besonderes Können. Doch Klingen ...«, Henry legte seine glutroten Augen auf den angeschlagenen Jungvampir und allein sein Wille hob diesen in die Höhe, »... die erfordern Geschick ... das ist persönlich.«
Der Unsterbliche seufzte und senkte für den Bruchteil einer Sekunde die Lider. Er konnte fühlen, wie die letzte Wirkung des Silbernitrats aus seinem Körper entwich und spürte die gewohnte Kraft in sich. Die Essenz des Vampirs war wieder vollkommen hergestellt und damit auch seine volle Macht.
Mit einer einzelnen Bewegung seines Zeigefingers zwang Henry Leo, der wie an unsichtbaren Schnüren zu hängen schien, auf ihn zuzukommen. Der Jungvampir war außerstande, auch nur einen Muskel zu rühren und sein Gesicht drückte ehrliche Angst aus. Er wollte ebenso wenig sterben wie Henry ihn vernichten wollte. Doch sie hatten sich ihre Rollen in diesem Kampf ausgesucht und mussten sie nun zu Ende spielen.
»Es tut mir leid.« Mit einer schnellen Vorwärtsbewegung führte der Unsterbliche die Macheten und ohne noch einen Schrei ausstoßen zu können, zerbrach Leo förmlich in drei Teile und fiel wie ein nasser Haufen in sich zusammen.
Angewidert warf Henry die Waffen auf den blutigen Rest der beiden Vampire und wischte sich die Hände an seinem ohnehin schon ruinierten Hemd ab. Der erste Rausch, die euphorische Stimmung eines schmutzigen Kampfes, war längst abgeebbt. Jemanden zu vernichten, der von Vornherein keine Chance hatte, war unehrenhaft und brachte keine Befriedigung.
»Henry!« Garretts angstvolle Stimme riss ihn in die Wirklichkeit zurück und er drehte sich um.
Dunkel bahnte sich das hasserfüllte Knurren des Vampirs einen Weg ins Freie, als er sich von der einen scheußlichen Szenerie der nächsten zuwandte.
Donnchadh hatte Garrett grob auf die Beine gezogen und stand mit diesem nahe an einer der niedrigen Mauern, die das Klostergelände einfassten und hinter denen die steilen Klippen abfielen. Bevor Henry etwas sagen konnte, krachte ein ohrenbetäubender Donner über ihnen, gefolgt von taghellen Blitzen. In der nächsten Sekunde begannen sie zu fallen, die golfballgroßen Regentropfen, die sich so lange schon angekündigt hatten. Binnen weniger Augenblicke waren die drei Personen in der Ruine durchnässt.
»Bist du nun zufrieden, Donnchadh? Ich habe deine Welpen vernichtet, die du wissentlich in den sicheren Tod geschickt hast. Ist das deine Vorstellung davon, ein Anführer zu sein? Andere zu opfern und nach dir die Sintflut?«
»Ich sagte bereits, Dionysos, ich zerstöre dich. Mir ist egal, wer dabei zu Schaden kommt. Die beiden waren Soldaten und deren Aufgabe ist das Sterben, nicht?«
Henry presste die Lippen aufeinander. Don hielt Garrett ein Jagdmesser an den Hals und würde ihn töten. Wenn ihn schon seine eigenen Leute nicht kümmerten, was sollte ihm dann das Leben eines Unschuldigen wert sein?
»Lass’ ihn gehen, Don. Er hat mit dieser Sache zwischen uns nichts zu tun ... bitte.«
Der Angesprochene lachte. »Oh ja, der Kleine bedeutet dir wirklich eine Menge, nicht? Ich weiß genau, wie viel ...« Donnchadh ließ seine freie Hand in die Hosentasche gleiten und holte ein kleines Kästchen hervor.
»Weißt du«, sagte er zu Garrett gewandt, »das hier habe ich in Dionysos’ Tasche gefunden, als wir euch her geschafft haben. Schau mal.« Geschickt ließ der Blutsauger die kleine Schachtel aufschnappen und der junge Mann biss sich auf die Lippen, bevor er die Augen schloss und leise schluchzte.
»Oooh, ist das nicht herzzerreißend?«, schnarrte Donnchadh, schloss das Schmuckkästchen wieder und warf es Henry zu. »Ich schätze, das ist ein Ja, du rosaroter Romantiker, du. Schade nur, dass eure Hochzeitsglocken nicht mehr läuten werden. Denn das hier wird heute Nacht enden.«
Der Unsterbliche fing das kleine Schächtelchen auf und hielt es mit den Fingern umklammert. Das konnte und durfte nicht sein.
»Don«, seufzte Henry, »du sollst deine Rache bekommen. Nur bitte lass’ Garrett da raus. Lass’ mir das als letzte Bedingung, dann werde ich mich nicht wehren!«
»NEIN!«, schrie Garrett auf, ruckte vor und ritzte sich damit selbst an Donnchadhs Klinge.
»Halt’ dich da raus, bitte«, seufzte der Unsterbliche und sah seinen Freund an. »Ich werde nicht zulassen, dass das hier für uns beide schlecht endet.«
»Das tut es so oder so! Sobald er dich vernichtet hätte, wäre ich dran.«
Don lachte wieder auf seine kalte Art und Weise. »Nun, Dionysos, ehrlich gesagt, hat der Junge Recht«, der Vampir rieb das bisschen Blut von Garretts Hals und kostete es, »denn er schmeckt köstlich. Wie hältst du das nur aus, ohne ihn auszusaugen?«
»Das nennt sich Liebe«, entgegnete Henry leise, »davon verstehst du nichts. Dafür muss man selbstlos sein können.«
»Hm«, entgegnete Donnchadh. »Ja, das ist mir wahrscheinlich zu hoch. Etwas ohne Vorteil ist nutzlos.«
»Ich sag’ ja, du verstehst es nicht.« Henry hielt Garretts Blick gefangen, während er sprach. Wenn sich Don nicht auf den Deal einließ, sah es schlecht für sie aus. Der Vampir konnte den Anderen nicht angreifen, solange die Waffe am Hals des jungen Mannes war und Henry fühlte sich als Folge der Belladonna-Vergiftung ein wenig zu unsicher, was seine Psychokinese anging, um sie gegen Donnchadh anzuwenden.
»Wann verstehst du endlich, Henry, dass ich mich immer für dich entscheiden würde, wenn es darauf ankommt? Und wenn heute Nacht schon einer draufgehen soll, dann bin es lieber ich als du!«
»Nein!« Ehe der Unsterbliche reagieren konnte und noch bevor Don bewusst wurde, was Garrett vorhatte, hatte sich dieser mit all seiner Kraft und seinem ganzen Gewicht gegen den Blutsauger geworfen. Donnchadh stolperte nach hinten, stieß gegen die niedrige Mauer und verlor aufgrund des Schwungs das Gleichgewicht. Wie in Zeitlupe, untermalt vom Regen und den flackernden Lichtern, die die Blitze am Himmel verursachten, kippten er und Garrett hintenüber und waren verschwunden.