Ich wartete an unserem üblichen Treffpunkt an der alten Kapelle auf ihn.
Es war noch früh am Morgen. Auf dem anliegenden Friedhof waberten noch die letzten Nebelreste zwischen den krummen Grabsteinen, doch bald würde die Sonne heraus kommen und die Geister der Nacht vertreiben.
Die Blätter der Bäume verloren langsam ihre Farbe, doch in ihren Rot-, Orange- und Gelbtönen gefielen sie mir wesentlich besser als im satten Grün, wo sie uns doch die Vergänglichkeit des Lebens vor Augen führten.
Hier hatte unsere Liebe ihren Anfang gefunden. Als Kinder war es für uns ein Rückzugsort gewesen, um den lästigen Pflichten zu entgehen, doch als wir älter wurden, wurde aus den Versteckspielen langsam anfängliche Nähe, bis hin zum ersten Kuss. Würde hier auch alles sein Ende finden?
Ich wollte diese Gedanken nicht zulassen, doch je länger ich auf Max wartete, desto lauter wurden die Stimmen in meinem Kopf. Unruhe machte sich in mir breit.
Das vielleicht Schlimmste war jedoch, dass ich ihn sogar verstehen könnte.
Er war auf ewig gebrandmarkt. Seine Gabe als Wächter war für immer verloren und dann noch die Gesellschaft, die ihn so nie wieder akzeptieren würde.
So viel hatte ihm die Bestie jetzt schon genommen, dass er Angst hatte, sich am Ende noch selbst zu verlieren. Ich würde ihm diese Last gerne von den Schultern nehmen, doch trotz meiner Gabe war mir dies nicht möglich. Ich konnte es ihm nur so angenehm wie möglich machen und immer an seiner Seite bleiben, doch ob er dies zuließ, war allein seine Entscheidung.
Ich fühlte mich machtlos, zum Warten verdammt, wo mir doch nichts anderes übrig blieb als zu hoffen und fest an unsere Liebe zu glauben.
Ich hatte mich auf die Stufen zum Eingang der Kapelle niedergelassen, doch ich konnte einfach nicht mehr still sitzen. Alle paar Minuten stand ich wieder auf, um einen besseren Blick auf den Weg zu haben und lief unruhig hin und her.
Nach gefühlten Stunden sah ich endlich eine Silhouette. Mein Herz setzte ein paar Schläge aus, so glücklich war ich darüber, dass er doch noch gekommen war.
Mit einem Strahlen auf dem Gesicht lief ich ihm entgegen. Alles würde gut werden!
Doch als wir uns immer näher kamen, sah ich seinen Gesichtsausdruck, der alles andere als glücklich schien. Vielleicht hatte es heute Nacht Probleme gegeben?
Und dann standen wir uns gegenüber. „Max, du bist gekommen.“, stellte ich überflüssigerweise fest. Ich wollte ihn in den Arm nehmen, breitete meine Arme aus und ging einen Schritt auf ihn zu, doch er stand stocksteif da und machte keinerlei Anstalten, mir entgegen zu kommen.
„Caitlyn…“, mitleidig sah er mich an. Normalerweise sprach er mich nie mit meinem vollen Namen an. Wo noch vor wenigen Minuten mein Herz glückliche Sprünge gemacht hatte bei seinem Anblick, rutschte es mir jetzt förmlich in die Hose.
„Ist alles okay? Ist etwas schief gelaufen?“, fragte ich ihn besorgt.
„Wir müssen reden. Wollen wir uns vielleicht in die Kapelle setzen?“
„Ich… ähm gut. Von mir aus.“, ich war unsicher. Irgendwas stimmte nicht und zwar gewaltig, sonst würde er sich niemals so distanziert verhalten.
Schweigend liefen wir nebeneinander zur Kapelle. Während wir den Weg zurücklegten, zermarterte ich mir den Kopf darüber, was er mir sagen wollte. Er lebte, er war hier, was anderes zählte im Moment nicht. Was konnte also so schlimm sein?
Als wir an dem kleinen Häuschen angekommen waren, öffnete er die Tür, ließ mir jedoch den Vortritt. Ich trat vor ihm ein und wartete, bis er zu mir aufgeschlossen hatte und die Tür hinter uns wieder geschlossen hatte.
Mit einer Geste zeigte er auf eine Sitzreihe und bedeutete mir, mich zu setzen. Als er neben mir Platz nahm, blieb er auf Abstand. Am liebsten hätte ich mich auf seinen Schoß gekuschelt, doch ich hielt mich zurück.
„Was wolltest du mit mir besprechen?“, meine Stimme klang hohl in dem Gebäude.
„Caitlyn, ich… es ist aus.“, überzeugend klang er jedoch dabei nicht.
Ich musste auflachen. „Wie bitte? Das ist jetzt ein dummer Scherz oder?“ Ich sah ihn ungläubig an. Das meinte er doch nicht wirklich ernst?!
„Doch, es ist besser so. Ich… wir können so nicht weitermachen. Es hat einfach kein Sinn. Es tut mir Leid, aber es geht nicht.“, er sah mir dabei nicht mal wirklich in die Augen, als er die Worte an mich richtete, die mir sofort einen Schlag in den Magen versetzten.
„Was soll das hier gerade? Warum willst du jetzt einen Rückzieher machen? Natürlich hat sich durch die Situation einiges geändert, aber wir stehen das zusammen durch. Gemeinsam schaffen wir das!“, ich war aufgebracht und wurde immer lauter. Wut staute sich in mir an.
„Es ist das Beste für uns.“
„Ist es das Beste für uns oder für dich?“, fragte ich ihn wütend.
„Ich würde dich nur in Gefahr bringen. Das hat auf lange Sicht keinen Sinn. Versuch mich doch zu verstehen. Alles hat sich durch diese Situation geändert. Mein komplettes Leben. Ich kann dir das nicht zumuten.“
„Ich kann auf mich aufpassen und außerdem würdest du mir nie etwas tun!“, stritt ich seine Worte ab.
„Ich habe eine Gruppe gefunden, der ich mich anschließen werde. Meine Entscheidung ist gefallen und daran lässt sich nichts mehr ändern. Leb wohl Caitlyn.“ Mit diesen Worten erhob er sich und kehrte mir den Rücken zu. Er ließ mich einfach sitzen. Alles schien so irrational. Das konnte doch niemals wirklich gerade passieren.
„Max…“, schrie ich ihm hinterher, doch er war schon durch den Torbogen verschwunden.