„Mike!“, mir stiegen die Tränen in die Augen und ich hatte das große Bedürfnis ihn zu umarmen. Noch bevor ich diesen Gedanken überhaupt zu Ende bringen konnte, zog er mich an sich heran und ich schlang die Arme um ihn. Man sah Mike seine mehr als 50 Jahre nicht an. Eher sah er aus, wie ein Mann in den 30gern. Sein Haar besaß einen sehr dunklen Braunton und er war, wie schon damals, leicht muskulös. Er nahm mein Gesicht zwischen seine Hände und ich sah wie rot auch seine Augen wurden. „Clarissa...“, ich legte meine Hände auf seine, welche an meinen Wangen ruhten. „Du bist es wirklich. Ich kann nicht glauben, dass du hier bist.“, seine Stimme zitterte beim Sprechen. „Mike“, auch ich tat mich schwer normal zu reden, doch versuchte mich zu beherrschen. Ich nahm seine Hände von meinem Gesicht und hielt sie zwischen unseren Körpern fest, „Wo ist er?“ Er hielt die Luft an und starrte durch mich hindurch. Ich drückte seine Hände. „Mike, wo ist der König?“ Sein Blick fiel wieder in meine Augen. „Wieso nennst du ihn so?“, fragte er mit leichter Enttäuschung in der Stimme. Doch er meinte es nicht so, dass wusste ich. Ich seufzte kurz und fing dann an müde zu lächeln. „Wo ist mein Vater?“
„Er schläft.“ Ich setzte mich langsam in Bewegung und sagte mit endlich wieder fester Stimme: „Nicht mehr lange. Danke, Mike.“ Er legte einen kurzen Sprint ein um mich einzuholen. „Clare warte!“, ich lief weiter während er mir folgte. „Das ist keine gute Idee, denke ich.“ Nun blieb ich stehen. „Warum?“ Mike zog mich zu einer roten Couch, zwischen zwei Fenstern, im Flur. Man sah ihm an, dass er nicht wusste, wie er beginnen sollte. „Dein Vater“, begann er schließlich, „Ich meine, nachdem du fort gingst.“ –Als ich fort ging- diese Worte wiederholten sich andauernd in meinem Kopf. Es hörte sich so harmlos an, aber das war es nicht. Ich war damals noch ein Kind, gerade einmal zehn, als meine Mutter starb. Mein Vater und ich waren am Boden zerstört. Es kam so plötzlich, so schnell, so früh. Es machte alles kaputt. Dadurch distanzierte er sich immer mehr von mir. „Ich sah ihr zu ähnlich“, war seine Erklärung. „Ich würde ihn schmerzlich an sie erinnern“, rechtfertige er sich. Das ganze zog sich sechs Jahre lang hin. Am Anfang war alles noch relativ normal, dann ging es Berg ab. Er küsste mich nicht mehr, nicht einmal auf die Stirn, hörte auf mich zu umarmen, redete später nicht mehr mit mir, bis er mich irgendwann nicht einmal mehr ansah. Manchmal glaubte ich, er würde mich hassen. Ich bekam sogar ein schlechtes Gewissen, was einer der Gründe, für meine Flucht war. Mein Vater war ohne mich wohl besser dran. Umso schockierender war, was Mike mir nun sagte. „Nachdem du weg warst, war dein Vater fertig mit der Welt.“ „Das glaubst du doch wohl selbst nicht?“ „Clare, er war am Ende. Und dann wurde es noch schlimmer.“ „Schlimmer?“, ich konnte nicht im geringsten Glauben, was er mir da sagte. Mike atmete tief durch: „Ich glaube erst als du weg warst, hat er gemerkt, was er dir all die Jahre, ich sage jetzt mal, angetan hat.“ Dass ich diesen Satz eines Tages hören würde, hätte ich nie im Leben erwartet. Ich versuchte ihn nicht ganz so ungläubig anzusehen, wie ich am liebsten würde. „Und jetzt bitte, warum ich nicht zu ihm soll.“ Wieder eine Pause, gefüllt mit tiefen ein- und ausatmen. „Na gut.“, sagte er nach einer gefühlten Ewigkeit, „Dein Vater hat seine Pflichten als König immer mehr missachtet. Er hat sich immer mehr zurückgezogen, sogar mir gegenüber distanzierte er sich.“ Mike war schon immer der Beste Freund meines Vaters. Sie kannten sich seit ihrer frühsten Kindheit. Er war sein Trauzeuge, seine größte Hilfe, als er zum König wurde, mein Patenonkel und königlicher Arzt. Und als mein Vater mich ignorierte, mein Ersatzvater. Mike hat in diesen schwierigen Zeiten alles getan, was eigentlich die Aufgaben meines leiblichen Vaters waren. „In den letzten Monaten hat sich sein Zustand um ein vielfaches verschlechtert.“ Mein Atem stockte. Die Vorstellung, dass ich Schuld an den Unglück meines Vaters war, war fast unerträglich, aber noch lange nicht so schlimm, wie folgendes. „Er war so niedergeschlagen, dass er sich nur noch in seinem Schlafzimmer verbarrikadiert hat. Er schämte sich für das, was er getan hat.“ „Sind deshalb sämtliche Fenster verhangen?“ Er nickte ruhig, während meine Hände anfingen zu zittern. „Ich mache es kurz“, sagte Mike und ich spürte mein Herz so schnell schlagen, wie noch nie, „er ist seit ein paar Monaten nicht mehr vom Bett aufgestanden.“ In Momenten wie diesen, wünscht man sich umzukippen und erst wieder aufzuwachen, wenn alles vorbei war. „Clare, ich will nicht, dass du ihn so sehen musst. Und er bestimmt auch nicht.“ Ich ignorierte seine Worte und fragte: „Wie schlimm ist es?“ Er guckte mich an als wäre ich ein verletztes Reh. „Mike, die Wahrheit!“ Er nahm meine Hand, stand auf und guckte mir in die Augen. Das letzte Mal schaute er mich so an, als meine Mutter starb. Die Angst, dass ich zu spät kam und ihn nun wirklich nie wieder sehen würde, ließ mir nun doch Tränen in die Augen steigen. Mike, der hinter einer Wand aus Tränen verschwand, half mir hoch und setzte uns in Bewegung, wobei es an ein Wunder grenzte, dass meine wackligen Beine nicht nachgaben. Eigentlich sollte ich wütend auf ihn sein. Ihn vielleicht sogar hassen, doch das konnte ich gerade nicht. Das konnte ich noch nie so wirklich. Momentan herrschte eine Leere in mir, die ich nicht beschreiben konnte. Einerseits war da dieser Hass, weil er nicht für mich da war. Ich hatte Mama ebenso verloren wie er und war dazu noch ein Kind. Nicht bereit für eine Begegnung mit den Tod. Andererseits liebte ein Teil von mir ihn immer noch. Er war mein Vater. Doch am stärksten war die Angst, mich nie wieder mit ihm vertragen zu können. Nie wieder seine Stimme zu hören, nie die Chance zu haben mich zu verabschieden. Wir blieben vor einer hellen Holztür mit prachtvoll eingeritzten Mustern stehen. In ihrer Mitte war farbenfroh das Wappen der Königsfamilie vorhanden. Ein grüner Lorbeerkranz mit einem prächtigen Löwen in der Mitte und darüber eine rot-goldene Krone. Ich fuhr mit den Fingern langsam und sachte über die so vertrauten Symbole, die zeigten was ich früher einmal war. „Mike“, meine Stimme kam winselnd und kaum hörbar zum Vorschein, „ist er…“, ich stockte, da meine Stimme nun komplett versagte. Er kam einen Schritt auf mich zu und legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich verkrampfte. „Nein Clare, er ist nicht tot.“, ich atmete auf. „Noch nicht.“ Ich guckte über die Schulter. „Was meinst du damit?“, ich klang fest und bestimmt, was mich selbst verwirrte. „Süße, weißt du was mit dem Körper passiert, wenn man ihn für eine so lange Zeit vernachlässigt?“
Ich musste plötzlich an eine Geschichte denken, die oft in den Kneipen an der östlichen Grenze des Landes erzählt wurde.
In der hieß es, dass ein junger Mann glücklich mit seiner Frau in einer kleinen Hütte, mitten im Wald, lebte. Der Mann war Holzfäller und obwohl er damit nicht gerade im Luxus lebte, fehlte es den verliebten Paar an nichts. So war die Freude umso größer, als sie erfuhren, dass die Frau ein Kind erwartete. Er verwöhnte seine Frau, die sein ungeborenes Kind unter dem Herzen trug. Er war allseits beliebt, freundlich und genoss sein Leben in vollen Zügen. Eines Tages, früher als sonst, kam er nach Hause. Erwartungsvoll suchte er seine, mittlerweile im 6. Monat, schwangere Ehefrau. Er fand sie im Kinderzimmer, tot auf den Boden liegend. Ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen. Ihre Hand lag auf ihren Bauch in dem nun ein totes Kind aufhörte zu wachsen. Sein totes Kind. In nur wenigen Stunden verlor er alles von dem er behauptete, dass es sich zu leben lohne. Der junge Mann versank in großer Trauer, er wies sämtliche Leute zurück und schloss sich in seiner Hütte ein. Angeblich soll er sich in den Schaukelstuhl neben den Kinderbett seines nie geborenen Kindes gesetzt haben und soll niemals wieder aufgestanden sein. Manche jedoch behaupten, dass er es einmal versuchte, doch seine Beine nicht mit machten. Später fand man ihn, auf den Boden des Kinderzimmers. Bei einer Stelle, jedoch glichen sich sämtliche Versionen: Der Mann starb an einen Herzinfarkt, ausgelöst durch ein gebrochenes Herz.
Zugegeben, es war nicht unbedingt die fröhlichste Geschichte, aber zur Situation durch aus passend. „Er gibt auf?“, antwortete ich trocken. Mike nickte: „Ja, das kann man so sagen.“ Er guckte auf die Tür, den Blick starr. „Und wie schlimm ist es nun genau?“ Er merkte, dass schönreden nichts brachte und schon gar nicht bei mir. „Atmen fällt ihm schwer, sprechen ebenso. Laufen ist seit langer Zeit nicht mehr möglich, selbst aufsetzten ist zu einer Unmöglichkeit geworden. Höchstens, die Anstrengung, seine Arme zu heben, nimmt er auf sich.“, sagte er ohne von der Tür wegzuschauen. So etwas über seinen eigenen Vater zu hören, war schon wie ein Schlag ins Gesicht. Ich dachte erneut an die traurige Geschichte aus den Kneipen und fragte sofort: „Hatte er schon einen Herzinfarkt?“ Nun guckte Mike von der Tür weg und mir wieder in die Augen. „Nein, aber um ehrlich zu sein warte ich nur darauf.“, es fiel ihm schwer darüber zu reden. „Die kleinste Anstrengung könnte einen auslösen.“ Ich wünschte, ich hätte Zeit gehabt um das alles zu verarbeiten, doch die hatte ich nicht. Ich wusste nicht wann genau Mike seine Meinung geändert hatte, doch er machte mir endlich den Weg frei. Er lächelte mich kurz an, ein trauriges Lächeln. Ich legte meine Hand auf die Klinke und drehte mich ein letztes Mal zu meinen Patenonkel um. Er versicherte mir, dass er da sein würde, wenn ich wieder käme. Das Metall war glatt und kalt. Ich schloss meine Augen, atmete durch, bevor ich leise und unsicher die Tür öffnete.