Entsetzt schlug William die Augen auf. Was für einen grässlichen Traum er doch gehabt hatte. Er war ertrunken. Wirklich keine schöne Art zu sterben.
Er rieb sich die Augen. Fahles Tageslicht fiel durch das kleine Dachfenster zu ihm hinunter.
Und da war doch noch etwas mit einem Namen gewesen. Er schien wichtig gewesen zu sein, aber seine Erinnerungen waren verschwommen.
Es war etwas wie Molly, nein. Mila? Da erinnerte er sich. Milo war es gewesen. Was für ein seltsamer Name. Willam hatte ihn noch nie zuvor gehört.
Allerdings, vielleicht war es ja auch gar kein Name….
Verwirrt schüttelte der Mann den Kopf und warf einen Blick auf den Wecker, der neben seinem Bett stand.
Es war beinahe fünf Uhr. Da lohnte es sich nicht mehr zu schlafen. In einer halben Stunde müsste er sowieso aus den Federn und schlafen konnte und wollte er jetzt nicht mehr.
Währendem William auf dem wackeligen Stuhl an seinem winzigen Tisch sass und eine Tasse Tee trank, erwachte die Stadt langsam zum Leben.
Das kleine Fenster seiner schäbigen Wohnung ging zwar bloss auf einen Hinterhof hinaus, aber sogar von hier aus konnte er das Rattern von Pferdewagen und das Geschrei der Menschen von der Strasse her, hören.
Als es Zeit war, zog William seine graue Hose, das grob gewobene Hemd und eine verschlissene Jacke an.
Die Schuhe waren abgewetzt, aber solange sie ihren Zweck erfüllten, machte das Will nichts aus.
Er schulterte seine Tasche, setzte sich seine Mütze auf und machte sich auf dem Weg durch die Londoner Strassen.
Der Himmel war grau und die Sonne war hinter einer dicken Schicht Wolken verborgen. Nur ein heller Kreis deutete an, wo sie stand.
Er ging vorbei an kleinen Ständen, hinter denen Frauen ihre Gebäcke anpriesen und schlenderte durch Gassen voll heruntergekommener Häuser und verlassener Fabriken.
Je näher er der Themse kam, desto lauter und stinkender wurde es.
Er arbeitete dort in einer Werft, die Schiffe reparierte. Am Flussufer lagen jede Menge Fabriken. Manche hatten grosse Schornsteine aus denen dicker, schwarzer Rauch quoll.
Da drinnen sassen viele Frauen, die nähten oder webten.
In der Werft angekommen musste er Farbe und Rost von einem Schiffsrumpf abkratzen. Die Arbeit war eintönig, aber so hatte er Zeit seinen Gedanken nachzuhängen.
Er dachte wieder an den seltsamen Traum und es kam ihm vor, als ob er eine unglaublich lange Geschichte gelesen haben müsste, weil er wusste viel zu viele Sachen von dem Mann in seinem Traum, die er nicht wissen sollte.
Und er konnte gar nicht lesen.
Ehe er sich versah war es Mittag. William setzte sich auf einen der Stege und holte sein Brot und seine Wasserflasche heraus.
Mittlerweile hatten die Wolken sich etwas verzogen und die Sonnenstrahlen wärmten seine Haut. Schön.
Plötzlich tippte ihm jemand auf die Schulter. Erschrocken öffnete er die Augen und schaute zu dem kleinen Jungen, der vor ihm stand.
„Fox? Bist du es?“ Der Junge war vielleicht sechs oder sieben Jahre alt und trug eine schicke Jacke.
„Fox? Ich kenne keinen Fox. Ich fürchte, du hat dich getäuscht. Ich bin William.“
Der Junge schien erst einen Moment verwirrt zu sein, doch dann erhellte sich seine Miene.
„Hast du diese Nacht etwas Seltsames geträumt?“
„Ja. Wieso? Woher weisst du das?“
Der Junge zeigte eine Zahnlücke, als er grinste. „Ich bin Milo.“
William schaute ihn noch verwirrter an als zuvor. Die brachte den Jungen zum Lachen.
Er setzte sich im Schneidersitz neben den alten Mann und lehnte sich an ihn, bevor er zu erzählen begann.
Will hörte ihm interessiert zu und je mehr Milo erzählte, desto mehr konnte er sich erinnern.
„Jonathan!“, erklang plötzlich eine schrille Stimme hinter den beiden.
„Mist!“ Milo sprang auf und klopfte sich den Staub von den Kleidern. „Versuche dich zu erinnern! Und vergiss die Sache mit dem Wasser nicht.“
Eine ziemlich dicke Frau rannte auf die beiden zu. „Jonathan. Komm sofort von diesem Mann weg!“ Ihre Stimme überschlug sich beinahe.
Als der kleine Junge nicht reagierte, packte sie ihn grob am Arm und zog ihn mit sich.
„Wir sehen uns 103 am Brunnen...“, konnte Milo noch rufen, bevor er von seiner Mutter um die nächste Ecke gezerrt wurde. Bis hierher konnte William sie schimpfen hören.
Der Alte blieb ganz alleine auf dem Steg sitzen und starrte auf das braune Wasser des Flusses. War das alles wirklich gerade geschehen? Oder hatte er das alles nur geträumt? Nein. Der Junge war echt gewesen. Da war er sich sicher.
Und was sollte er schon wieder nicht vergessen? Wasser?
An diesem Nachmittag ging er nicht wieder zurück an seine Arbeit, sondern liess sich ziellos durch die Strassen Londons treiben.
Langsam kehrten einzelne Erinnerungsteile zurück. Ein Gesicht. Zwar verschwommen, aber es kam ihm bekannt vor. Es war ein junger Mann.
Und Panik. Es gab keine Bilder dazu, aber William erinnerte sich an das Gefühl von Panik.
Er wusste nicht wer er war, aber er war sicher nicht William. Das verwirre ihn noch mehr. Wieso dachte er von sich selbst in der dritten Person?
Als er am Abend in seiner Stammkneipe sass, eine Humpen Bier vor sich, hatte er sich entschieden. Er wusste nicht, ob er oder William zu dem Entschluss gekommen war, aber er konnte hier nicht bleiben. Nicht in diesem Körper und nicht in dieser Stadt.
Als er zu Hause angekommen war, füllte er sein Waschbecken mit Wasser. Das musste reichen.
Er spritzte sich zuerst etwas des Wassers ins Gesicht, bevor er tief Luft holte und den ganzen Kopf hineintauchte.