Wir bestellten uns Pizza, die Luke mit großem Vergnügen verspeiste, spielten dabei Monopoly (Nach drei Runden war schon klar, dass Nico gewinnen würde, die sich richtig im Erfolg suhlte), und erst als Luke fast auf meiner Schulter einnickte, entschieden wir, dass es Zeit zum Schlafen war. Ich selbst musste mein Gähnen zurückhalten, während ich Luke sanft weckte und ihm erklärte, dass er nicht auf dem Fußboden schlafen musste. Torkelnd stand er auf und schlich in die Küche. „Falsches Zimmer“, rief ich ihm leise nach, woraufhin er sich an die Stirn tippend in den richtigen Raum wanderte.
Nur widerwillig zog Luke die Zimmertür hinter sich zu, als er ins Bett ging. Keine Ahnung, was dabei in seinem Kopf vorging – Ob er das Gefühl hatte, mir etwas wegzunehmen oder etwas zu beanspruchen, das nicht seins war, oder ob er nicht allein sein wollte. Es war ein heftiger Tag gewesen.
„Ist irgendetwas zwischen euch passiert, während ich unten war?“, fragte Nico mich leise, nachdem wir gute fünf Minuten die geschlossene Tür betrachtet hatten.
Aufgeschreckt durch das plötzliche Geräusch zog ich scharf die Luft ein. „Wie kommst du darauf?“, wich ich aus. Sollte ich ihr von dieser Situation auf der Couch erzählen, die mir partout nicht aus dem Kopf gehen wollte? Normalerweise sprach ich mit ihr über jede Grütze, die mir im Kopf herumflog, doch dieses Mal war es … anders.
„Er sieht dich schon die ganze Zeit mit so einem seltsamen Blick an“, meinte Nico. „Irgendwie wirkt es, als wärt ihr euch näher gekommen. Zumindest hat er weniger Berührungsängste, was dich angeht.“
Ich wurde rot. „Weniger Berührungsängste?“, wiederholte ich. Abgesehen von jener winzigen, schüchternen Berührung hatten wir uns tatsächlich viel umarmt heute. Vor allem hatte er sich beim Spielen von sich aus an mich gelehnt, was fast mein Herz in der Brust zum Explodieren gebracht hatte. „Vielleicht“, schloss ich und konnte mir ein überglückliches Grinsen nicht verkneifen.
Frech musterte Nico mein Gesicht. „Bist du verknallt?“, stichelte sie und pikste mir dabei in den Bauch.
„Quatsch“, lachte ich und wich zur Seite. Nico wusste genau, dass ich kitzelig war, und ich hatte keine große Lust dazu, sie das ausnutzen zu lassen.
„Simon ist verliebt, Simon ist verliebt“, sang sie neckend, während sie lachend in ihr Zimmer verschwand. Zwei Sekunden später steckte sie wieder den Kopf durch den Türrahmen. „Bau bloß keine Scheiße, Dude“, warnte sie mich, bevor sie sich wieder zurückzog.
Ich wartete noch einen Moment, bevor ich es mir selbst auf dem Sofa bequem machte und das Licht ausknipste. Es war schon spät, ich war müde und sollte schlafen. Immerhin stand morgen ein neuer Arbeitstag vor der Tür.
Sehr subtil von Nico, meine ohnehin schon offensichtlichen Gefühle durch die Wohnung zu brüllen. Ich konnte nur hoffen, dass Luke nichts gehört hatte. Selbst wenn er etwas ähnliches für mich empfand, wäre es auf jeder Ebene unverantwortlich, mit ihm eine Beziehung einzugehen. Ich war nicht gut genug für ein strahlendes Wesen wie ihn. Das Beste, was ich für ihn tun konnte war, ihm Kleidung und ein wenig Fürsorge zu geben. Das Schlechteste war, ihm meine Gefühle aufzudrängen. Er war hetero und ich würde die Spannung zwischen uns nur noch peinlicher machen, wenn ich mich ihm gegenüber outen würde.
Aber ich war unbestreitbar in ihn verliebt. Das ganze Herzklopfen, die Aufregung und das flattrige Gefühl im Bauch konnte ich nicht mehr bloß auf meine Pillen schieben. Ja, dank ihnen war ich etwas entspannter und ja, es fiel mir leichter, mit ihnen Kontakt zu knüpfen. Häufig fühlte ich mich leichter und liebevoller – Es ist schon öfter vorgekommen, dass ich sogar Nico unter Drogen angegraben habe. Ich könnte manchmal die ganze Welt umarmen. Doch bei Luke war es anders. Selbst, wenn ich high war, wollte ich mich nicht allzu nah an ihn heranwagen. Dieses Hochgefühl und Kuschelbedürfnis hatte ich bei Luke auch, wenn ich nüchtern war, nur mit dem Unterschied, dass ich ihn auch nicht damit bedrängen konnte. Er wirkte immerzu wie eine kleine Puppe, die achtlos in eine Ecke geworfen wurde. Zerbrechlich wie eine Porzellanfigur, unsicher wie ein junger Seiltänzer ohne Gleichgewichtssinn. Allein meine Hände wirkten im Vergleich zu den seinen so riesig auf mich, dass ich bei dem bloßen Gedanken daran, ihn zu halten, Angst bekam, ihn wortwörtlich zu zerbrechen.
Unschlüssig biss ich mir auf die Lippe, tastete dann aber doch in der Dunkelheit nach dem Schränkchen neben meinem Bett. Doch statt auf die vollgestellte hölzerne Fläche zu hauen, fuchtelte ich bloß in die Leere. Ah ja, richtig. Ich war ja im Wohnzimmer. Das Schränkchen mit meinen Tabletten war in meinem Zimmer. Stöhnend drehte ich mich auf den Bauch. Sollte ich jetzt echt Luke beim Schlafen stören? Vielleicht hatte er einen sehr leichten Schlaf und würde aufwachen. Wie sollte ich ihm bitteschön erklären, dass ich mitten in der Nacht um sein Bett herumschlich? Aber irgendetwas musste ich tun. Das Kribbeln in meinen Fingern wollte nicht aufhören, also hievte ich mich ächzend aus dem Bett und ging ein wenig auf und ab. Irgendwann führten meine Beine mich ins Badezimmer, wo ich vor dem Spiegel stehen blieb. Ich sah wirklich furchterregend aus. Dunkle Augenringe lagen wie tiefe Schatten in meinem Gesicht, meine strähnigen Haare fielen in meine Stirn und nur zu deutlich konnte ich die Schädelknochen unter meiner Haut ausmachen. Generell sah ich dürr aus, fast schon abgemagert, und-
Hastig bückte ich mich über das Waschbecken und trank. Das kalte Wasser tat gut in meiner Kehle, erdete mich wieder. Mit jedem Schluck, den ich nahm, wurde ich ruhiger, Stück für Stück, immer ein bisschen. Erst, als sich mein Bauch schon gebläht anfühlte, schaltete ich den Wasserhahn aus und schnappte nach Luft. Es war gut, am Leben zu sein. Es war gut, hier in dieser Wohnung zu sein. Ich würde gleich zurück aufs Sofa gehen, nüchtern, und schlafen. Alles war gut so, wie es war. Als ich mich wieder aufrichtete, um mir die Mundwinkel abzuwischen, achtete ich darauf, nicht in diesen grausamen Spiegel zu sehen. Morgen würde ich Nico fragen müssen, ob ich wirklich so aussah. Wie diese Horrorgestalt.
Luke bewachte meine Tabletten wie ein schlafender Drache seinen Schatz hütet. So zumindest kam es mir vor, als ich die Tür zu meinem Zimmer so leise wie möglich öffnete. Natürlich gab sie dennoch ein Quietschen von sich, woraufhin ich in die blauen Augen von Luke sah.
„Was machst du denn hier?“, fragte er verschlafen, sobald sich sein erster Schreck gelegt hatte.
„Ehm“, stotterte ich. Ich bin hier, um die Drogen zu holen, die direkt neben dem Bett liegen, und ohne die ich gerade echt nicht klarkomme. Lass dich von mir nicht stören. „Ich wollte nur sehen, wie es dir geht“, stammelte ich stattdessen, „ob du noch da bist und so.“ Sehr gut, Simon, streu ruhig noch mehr Salz in die Wunde.
Ich hörte das Rascheln der Decke, als Luke sich wieder zurück ins Kissen fallen ließ. „Ich schlafe“, murrte er, „und gehe ganz bestimmt nicht.“
„Ja, ehm, gut.“ Peinlich berührt verzog ich mich wieder. „Schlaf gut“, flüsterte ich, bevor ich die Tür vorsichtig ins Schloss zog. Innerlich schalt ich mich für diese idiotische Idee. Hatte ich nicht das Vorhaben gehabt, in Lukes Gegenwart nicht zugedröhnt zu sein? Und jetzt hatte ich seinen Dornröschenschlaf für den Mist unterbrochen.
Mit solchen Gedanken wälzte ich mich noch eine ganze Weile hin und her, bis mich schließlich mit einer stumpfen Serie ablenkte. Irgendwann fiel auch ich in einen unruhigen Schlaf.