Kazuya verkrampfte seine Hand in der seines schwarzhaarigen Freundes. Worauf hatten sie sich da nur eingelassen? Er wäre von Anfang an lieber das Wochenende mit Leo zuhause geblieben, aber der hatte sich so gefreut. Aber lag die Schuld an dieser Misere damit jetzt bei ihm? War Leo dafür verantwortlich, wenn ihm etwas geschah, nur weil er so lange gebettelt hatte, bis Kazu mitkam?
Nein ... niemand hätte das hier vorhersehen können.
Die Gruppe stand nun in der Eingangshalle und sah sich um. Sie hatten keinen Schimmer, wo sie anfangen sollten, nach einem Ausgang zu suchen. Die Flure, die aus der Halle wegführten, führten alle ins Schwarze, so lang waren sie.
Wie groß war dieses Haus? Die große Treppe ließ jedenfalls auf ‚Gigantisch‘ tippen. Warum war ihnen das gestern bei der Anreise nicht aufgefallen?
Vielleicht, weil es dunkel war und nur die Räume erleuchtet waren, in denen sie sich aufgehalten hatten. Kazuya hatte nun ein noch viel schlechteres Gefühl als noch vor dem Frühstück.
Ein kleiner Tumult zog seine Aufmerksamkeit wieder in die Realität.
Iris versuchte, sich von dem Soldaten Kentin loszureißen. Warum hielt er sie denn überhaupt fest?
»Lass mich los, Mann. Ich haue hier ab und zwar so, wie ich gekommen bin. Durch die verdammte Tür ...!«, keifte sie und einige Strähnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst.
Kentin hielt ihren Arm gepackt und sah sehr ernst aus. »Hast du nicht zugehört? Das Haus ist voller Fallen und da glaubst du echt, die lassen uns einfach so durch die Tür?«
Iris riss sich so energisch los, dass einige der Nähte an ihrem Oberteil deutlich hörbar rissen und stürmte zu der Eingangstür. Mit einem wütenden Blick zu dem Soldaten griff sie nach dem Knauf und drehte ihn.
Nichts geschah. Das Schloss war verriegelt.
Alle Augen lagen auf der jungen Frau, als sie mit einem überraschten Blick ihre Hand hob. Alle konnten das Blut sehen, welches sich im Handteller sammelte. Sie machte ein hörbar ersticktes Geräusch, fing an zu zucken und fiel einfach um.
Kentin war mit einem Satz bei ihr, so auch Jonathan.
»Verdammt! Wie abartig ist das denn?«
Iris rührte sich schon nicht mehr und bekam blaue Lippen, als Kentin ihr das Ohr auf die Brust legte. Er schüttelte den Kopf und erhob sich wieder. Jonathan schloss ihr die Augen, während der Soldat vorsichtig den Türknauf unter die Lupe nahm.
»Da! Da ist eine winzige Klinge in den Knauf eingelassen. Die haben sie auch vergiftet und jeder, der den Knauf anfasst, fällt einfach tot um. Das ist doch krank!«
»Das ist heimtückisch«, murmelte Kazuya und starrte noch immer die junge Frau an. Innerhalb einer halben Stunde hatte es der Mod geschafft, zwei von ihnen zu töten.
Wie sollte das bitte weitergehen? Er wollte hier nicht sterben. Er wollte nicht, das Leo hier starb.
Verdammt, wären sie doch nur schon vor dem Frühstück abgehauen!
Alle zuckten zusammen und sahen sich geschockt an, als eine unheimliche Melodie durch die langen Flure des Hauses schallte.
»D-das ist sie ... die Melodie von letzter Nacht!« Nathaniel war kreidebleich geworden und sah sich hektisch um, doch niemand konnte ausmachen, woher der gespenstische Ton kam.
Kentin stellte sich wieder zu den anderen. »Tja ... da will uns wohl jemand ein Abschiedsständchen bringen. Kranker Bastard. Lasst uns hier abhauen. Wir müssen einen Ausgang finden, wenn wir nicht so enden wollen wie Kim und Iris.«
Kazuya kämpfte gegen die Gänsehaut an, die sich über seinen Körper schlich und packte Leos Hand fester.
»Au ... Kazu, ich bin ja da.«
»Ja, und das bleibst du auch, klar? Du gehst mir in diesem Schuppen nicht drauf!«
Leo nickte und drängte sich an ihn, während Kentin voran ging. Alle gingen sehr eng beieinander, denn jeder hatte Angst, der nächste zu sein.
Vorsichtig durchstreiften sie den Hauptflur, öffneten vorsichtig die Türen zu den Zimmern und linsten hinein. Es war stockdunkel in den meisten Räumen, da die Fensterläden geschlossen waren. Leo packte Kentin am Arm, als der versuchte, nach dem Lichtschalter zu tasten.
»Sei bitte vorsichtig ...«, hauchte er und Ken lächelte. Der Strom funktionierte in den Zimmern sowieso nicht.
»Das hat so keinen Zweck. Wenn wir nur hier herumrennen, finden wir nichts ...« Jonathan polierte ein weiteres Mal seine Brille und sah sich erschöpft um. Seit Stunden tigerten sie nun durch das Haus und suchten nach einem Ausweg. Aber alle Fenster waren vernagelt, es führte keine Seitentür ins Freie und auch sonst zeigte sich kein Weg, wie sie entkommen konnten.
»Soll das heißen, wir sollten uns trennen?«
Alle sahen sich an und nickten schließlich.
»Und wer was findet, verständigt die anderen.« Nathaniel war noch immer bleich wie ein Laken und Viola hatte noch immer nicht aufgehört zu weinen.
»Gut ... dann würde ich sagen, ich gehe mit Leo und Kazuya in den ersten Stock und schaue, ob wir einen Weg auf das Dach finden. Ihr drei geht den Gang weiter und schaut im hinteren Haus nach. Und passt auf, wo hier hintretet und was ihr anfasst, ok?«
Die drei um Jonathan nickten und setzten ihren Weg in den Gang weiter fort, während Kentin, Kazuya und Leo in einen Treppenaufgang gingen.
»Meinst du, wir finden oben etwas?«, fragte der Rothaarige leise und versuchte, nicht wegen des ganzen Staubs zu niesen.
»Vielleicht finden wir etwas über dieses Haus heraus, was uns helfen könnte. Oder etwas über diesen Scheißer, der uns hier einsperrt.«
Der erste Stock des Gemäuers war nicht weniger gespenstisch als das Erdgeschoss. Die alten Möbel, die hier und da zur Zier standen, waren verstaubt und vergilbt, die Bilder an den Wänden waren dunkel, ohne Freude. Selbst die Tapeten waren düster.
»Ich kann nicht glauben, dass das hier mal ein Gasthof war«, murmelte Leo und drängte sich enger an Kazuya. Kentin blickte auf die beiden jungen Männer zurück und machte ein unbestimmtes Geräusch.
»Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass es jemals einer war. Das gehörte sicher zu der Falle ... genauso wie die Website in der Mail. Das kann man doch alles selber machen... Das sieht eher aus wie ein altes Herrenhaus einer reichen Familie. Eines, wo schon seit zwanzig Jahren niemand mehr gelebt hat. Schaut euch den Dreck an ...«
Kentin versuchte erneut, einen der Lichtschalter zu betätigen, um das dunkle Zwielicht zu durchbrechen. Ein lautes Brummen wie von einem alten Stromkasten zeigte ihm, dass er dieses Mal Erfolg haben würde und tatsächlich flammte düsteres gelbes Licht in dem Flur auf. Licht, dass die Umgebung gleich noch trostloser machte.
»Gott, gibt es Menschen, die hier leben können?«
Die jungen Männer sahen sich um und versuchten, auf den alten Bildern vielleicht Personen zu erkennen, doch die meisten zeigten düstere Landschaften, Wälder unter einem dunklen Himmel.
»Wie bedrückend ...«
Wieder öffneten sie zur Rechten und Linken diverse Zimmertüren. Überall war es das gleiche Bild. Alte verstaubte Möbel, vernagelte Fenster, der Geruch von Staub und Tod, hier und da das Rascheln von Mäusen.
»Hey, wenn man auf beiden Seiten Fenster hat, heißt das nicht, dass dieses Anwesen vielleicht einen Innenhof hat? Ich meine, mich an einen zu erinnern. Auf dem Bild auf der Website, wisst ihr?«
Leo blickte Kazuya und Kentin an.
Kazuya nickte. Er hatte den Hof auf dem Bild auch gesehen.
»Heißt das nicht, dass wir, wenn wir hier nur weitergehen, irgendwann wieder in der Eingangshalle ankommen?«
»Das kann schon sein... aber ich bezweifle, dass uns der Innenhof etwas bringt. Von da kommt man auch nicht weg.« Kentin wollte in einem weiteren Zimmer das Licht einschalten, als es knallte und sie plötzlich im Dunkeln standen. Alle schrien erschrocken auf.
»Kentin ...? Ken?«
»Au ... das hat gezwiebelt. Ich bin da, Leo. Alles okay. Verdammt, die Sicherung ist raus.«
Ein bläuliches Licht erschien und erhellte das Gesicht des jungen Soldaten gespenstisch. Leo fiel ihm um den Hals.
»Ich dachte schon, du wärst der Nächste ...«, murmelte er. Kentin löste sich mit geröteten Wangen.
»Alles okay, mir kribbelt nur ein bisschen die Hand.« Er leuchtete ihnen den Weg mit der Taschenlampe seines Handys.
Kazuya seufzte innerlich. Leo hatte sich also echt verknallt. Wenn sie das hier überlebten, würde er nur noch von Kentin reden. Der Rothaarige wusste, wie dumm es war, in dieser Situation mit Eifersucht zu kämpfen, aber es sagte ihm nicht zu, das Leo jemand anderen haben könnte. Auch wenn er eigentlich nur wollte, dass er glücklich war.
Kentins Display stellte, wie bei allem Handys, nach ein paar Minuten immer wieder den Dienst ein und so wurde es in dem Moment dunkel, als sie ein Poltern vor sich im Gang hörten, gefolgt von einem schmerzerfüllten Stöhnen.
»Wer ist da?!«, sagte Kentin bestimmt und schaltete das Licht wieder ein.
Vor ihnen saß ein zerzauster Nathaniel, mit Staub in den Haaren und Schmutz im Gesicht. Er hatte einen der kleinen Beistelltische umgerissen und saß nun wie ein Häufchen Elend am Boden.
»Verdammt ... ich hab die anderen in der Dunkelheit verloren, bin die Treppe hoch und habe gehofft, euch zu finden.«
Kazuya zog den Blonden auf die Beine. »Tja, da sind wir. Habt ihr etwas gefunden?«
Nathaniel schüttelte den Kopf. »Nein. Die Fenster sind alle zu und viele der Türen auch.«
»Hier ist die Sicherung rausgeflogen.«
Der blonde Student schloss sich der Gruppe an und sie setzten ihren Weg fort. Ihnen verging schon bald der letzte Nerv, als sämtliche weiteren Türen sich als vernagelte Nieten entpuppten. Waren denn echt nur die Fenster in den Esszimmern und ihren Schlafzimmern nicht vernagelt? Doch durch diese würden sie kaum herauskommen, das wäre zu einfach. Kazuya hatte nämlich in der Nacht schon bemerkt, dass sie sich nicht öffnen ließen.
Leo und Kentin waren ein paar Schritte voraus und alle benutzten nun ihre ansonsten nutzlos gewordenen Handys als Taschenlampen. Kazuya und Nathaniel öffneten auf der einen Seite Türen, Leo und Kentin auf der anderen und leuchteten in die Räume.
Als Kazuya allerdings eine weitere Tür öffnete und beleuchtete, zog sich ihm der Hals zusammen und er rief die anderen.
»Schaut euch das mal an ... das ist doch ... krank...«