Nach Stunden des Hin- und Herwälzens kam Yukiko zu den Schluss, dass sie das mit dem Schlafen vergessen konnte. Wann immer sie dabei war, wegzudämmern, kam in ihr eine plötzliche Unruhe auf, wirre, rastlose Bilder zogen an ihrem inneren Auge vorbei oder irgendein möglicher oder auch unmöglicher Teil ihres Körpers begann auf einmal so sehr zu schmerzen, dass sie sich dazu gezwungen sah, ihre Lage zu ändern.
Kurzum: Yukiko war vollkommen rastlos.
Natürlich war dies nicht das erste Mal, dass sie nicht einschlafen konnte – tatsächlich litt sie relativ oft an Schlaflosigkeit – doch diese Art Unruhe und Nervosität, die sie momentan empfand, war dieselbe, unter der sie auch in der ersten Zeit nach Hikarus Verschwinden gelitten hatte.
Wie gerne wäre das junge Mädchen jetzt Zuhause, weit weg von diesem bedrückenden, eigenartigen Anwesen, weg von Shougo und seiner inszenierten Freundlichkeit. Sie überlegte kurz, ob sie sich zu Riho, deren Quartier direkt neben dem ihrigen gelegen war, schleichen sollte, verwarf den Gedanken jedoch sofort – sie war doch kein kleines Kind mehr, das sich vor der Dunkelheit fürchtete!
Bei diesem Gedanken musste Yukiko unwillkürlich lächeln; sie erinnerte sich noch zu gut daran, dass Katsuya damals, als sie beide noch Kinder gewesen waren, der festen Überzeugung gewesen war, dass ein Monster in seinem Schrank lauerte. Natürlich hatte das Mädchen ihrem Kindheitsfreund keinen Glauben geschenkt und sich sogar über ihn lustig gemacht – ihr älterer Bruder hingegen hatte da mehr Verständnis aufgebracht. Er war sowieso immer der einfühlsamere der beiden Geschwister gewesen... Yukiko wusste nicht mehr, wann es geschehen war, doch irgendwann hatte Katsuya aufgehört, über 'Geister' und 'Monster' zu sprechen; wahrscheinlich hatte er an irgendeinem Punkt Sakuyas Unmut auf sich gezogen.
Ein wenig gereizt schlug sie die Decke beiseite und erhob sich aus ihrem Bett. Im Raum war es stockfinster, die Fenster waren bedeckt. Die junge Frau entzündete eine der Kerzen, die an einem Ständer angebracht auf einem der Tische stand, und starrte eine Weile lang in die kleine, helle Flamme.
Ihre Mutter hatte ihr beim gemeinsamen Abendessen mit den Gastgebern sehr deutlich gemacht, dass sie fest vorhatte, diese Verlobung offiziell zu machen. Selbstverständlich würde auch die Zustimmung Yukiterus von Nöten sein, doch das war gewiss das geringste Problem – letztendlich war Sakuya diejenige, die in der Familie das Regiment führte und stets ihren Willen durchsetzte.
Yukiko störte, wie sich ihre Hände verkrampften; wieso nur hatte sich ihre Mutter von Shougo so sehr blenden lassen? Warum konnte sie nicht sehen, dass mit diesem Mann etwas nicht ganz in Ordnung war? Yukiko hatte durchaus versucht, Sakuya diese Bedenken zu schildern, doch diese hatte selbstverständlich nichts davon hören wollen – der Sohn ihrer guten Freundin hatte einfach der Richtige zu sein.
Obwohl die junge Adelige noch immer hoffte, dass sie sich möglicherweise – geblendet durch ihre eigenen Vorurteile - in Shougo täuschte und er sich letzten Endes doch noch als ehrliche, gütige Person herausstellen würde, so glaubte sie nicht, dass sie soviel Glück haben würde...
Einen Ehemann, der ihren ihr lieben Kindheitsfreund wie ein Haustier behandelte, würde sie niemals akzeptieren oder gar respektieren können.
Mit einem lauten Poltern wurde die Türe ihres Quartiers gewaltsam aufgerissen.
Yukiko zuckte erschrocken zusammen und wandte sich sofort der Quelle des Geräusches zu; sie wollte sehen, wer da so rüde und unangekündigt in ihr Zimmer eingedrungen war.
Sie erblickte zwei Männer.
Ihre Uniform – ein dunkler Hakama mit passendem Hakamashita, über die sie eine leichte Panzerung aus hartem Leder trugen - zeichnete sie als Wachsoldaten der Amemiya-Familie aus. Die untere Gesichtshälfte war bedeckt, an ihren Gürteln baumelten Schwerter.
Yukiko wich furchtsam zurück; das plötzliche Hereinplatzen dieser Soldaten konnte nichts Gutes bedeuten! Trotzdem versuchte sie, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen und nahm eine gebieterische Haltung ein – zumindest soweit es in Nachtgewand und mit ungekämmten Haaren möglich war.
„Was hat das zu bedeuten?“, verlangte sie mit gezwungen ruhiger Stimme zu wissen. „Es ist inakzeptabel, inmitten der Nacht in das Gemach einer Dame einzudringen! Ist das die Vorstellung der Amemiya-Familie von Höflichkeit?“
Einer der Eindringlinge blieb im Türrahmen stehen, doch der andere schritt auf Yukiko zu und packte sie unsanft am Handgelenk.
„Ich an deiner Stelle würde aufpassen, was ich sage, kleines Mädchen! Mach' jetzt keinen Aufstand und komm' mit!“
Der Soldat setzte sich wieder in Bewegung und zog die vollkommen überrumpelte Adelige grob hinter sich her; Yukiko spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte, ihre Nervosität in Panik umschlug. Was hatte das zu bedeuten? Wieso wurde ihr nun solch eine Behandlung zuteil? Und noch wichtiger – was würde nun mit ihr geschehen?
...Nein, sie würde sich nicht einfach so geschlagen geben, nicht, solange sie nicht wusste, was hier überhaupt vor sich ging!
Sie blieb abrupt stehen, stemmte sich mit ihrem gesamten Gewicht gegen den Mann.
„Ich gehe nirgendwo hin, ehe ich nicht eine Erklärung für dieses ungehörige Verhalten bekommen habe!“
Der Soldat zischte gereizt; ehe es Yukiko wirklich registrieren konnte, hatte er auch schon sein Schwert gezogen und richtete es auf das Mädchen.
„Halte einfach deine Klappe und komm' ohne Anstalten mit! Ansonsten ziehen wir andere Saiten auf...“
Das Herz der jungen Adeligen setzte einen Moment lang aus, als sie die lange, blanke Klinge sah, die direkt auf ihre Kehle gerichtet war.
Sie traute diesem Mann durchaus zu, dass er seine Drohung wahrmachen würde; sie glaubte zwar nicht, dass er sie umbräche, aber zumindest würde er sie verletzen.
Yukiko wusste nicht, was sie nun tun sollte. Sich einfach folgsam mitnehmen zu lassen, ohne überhaupt die genauen Gründe zu kennen, erschien ihr kaum weise... Doch wäre es wirklich intelligent, noch weiterhin Widerstand zu leisten?
Ein widerliches, gurgelndes Geräusch nahm ihr die Entscheidung ab. Sowohl sie als auch der Soldat beendeten ihre Diskussion und wirbelten zur Türe um, aus deren Richtung es zu vernehmen war.
...Sie sah, wie der zweite Mann, der im Rahmen positioniert gewesen war, polternd zu Boden ging. Eine schnell größer werdende, dunkle Blutlache bildete sich im Bereich seines Halses.
Yukiko hatte noch nie zuvor einen Toten gesehen. Sie starrte die Leiche mit aufgerissenen Augen an, unfähig, in diesem Moment einen klaren Gedanken zu fassen.
„Schnell, junge Herrin!“
Rihos Stimme riss sie aus ihrer Starre.
Rasch und geradezu automatisch riss sie sich von dem anderen Soldaten, der mit dieser Entwicklung der Ereignisse nicht gerechnet hatte und vollkommen überrumpelt wirkte, los, und eilte zur Tür.
Unglücklicherweise erlangte auch ihr Verfolger schnell seine Fassung wieder.
„Stehen geblieben!“, zischte er und setzte dazu an, ihr hinterher zu eilen.
Riho reagierte sofort; sie stieß ihre jüngere Freundin auf den Flur hinaus, nahm hastig den Schlüssel ab, der noch von innen steckte, knallte die rote Holztüre zu und verriegelte sie gerade noch rechtzeitig. Da diese allerdings nicht sonderlich massiv war und es für einen trainierten Soldaten mit Sicherheit nicht allzu schwer sein würde, dieses Hindernis einzureißen, blieb den beiden Mädchen nicht sonderlich viel Zeit.
Riho zog ein blaues Tuch aus ihrem Kimono hervor, wischte mit ihm ihren blutigen Dolch ab und verstaute die Waffe rasch wieder.
Erst jetzt begriff Yukiko vollends, was geschehen war – Riho, ihr stets manierliches und damenhaftes Kammerfräulein, hatte gerade einen Menschen umgebracht.
Ihretwegen.
„W-Wieso...?“, brachte sie stammelnd hervor. „Warum... hast du ihn... getötet?“
Riho seufzte; anders als in Yukikos spiegelte sich in ihrem Gesicht ein geradezu unbekümmerter Ausdruck wider.
„Junge Herrin, wir sollten uns momentan lieber darauf konzentrieren, Euch in Sicherheit zu bringen; um die Details kümmern wir uns später.“
Wie konnte sie den Tod eines anderen nur als Detail abtun? Aber trotzdem, sie hatte Recht – die Flucht hatte vorerst einmal Vorrang.
Riho packte ihre Herrin am Arm und zerrte sie mit sich mit. Anders als das Anwesen der Asatsuyu-Familie besaß das Heim der Amemiya keine zum Garten hin geöffnete Korridore, weswegen die beiden Mädchen dazu gezwungen wurden, durch den relativ engen, geschlossenen Flur zu eilen; es gab zwar einige Fenster, die eine beschränkte Sicht nach außen gestatteten, doch die hölzernen, filigrane Vergitterung würde einen Ausbruch doch bedeutend behindern.
Das gesamte Anwesen befand sich in extremer Aufruhr. Der Lärm bildete einen kompletten Kontrast zur unheimlichen Stille, die noch kaum eine Stunde zuvor geherrscht hatte. In der Ferne sah Yukiko einige jener Wächter, die ihrer Familie und ihr Wegschutz geboten hatten; sie lieferten gewaltsame Auseinandersetzungen mit den Soldaten der Amemiya.
Das Mädchen war mit dieser Situation vollkommen überfordert... Wieso war es nur soweit gekommen? Aus welchem Grund fielen ihr Shougo und seine Familie auf einmal so in den Rücken? Die Verlobung war doch praktisch schon beschlossene Sache, es gab doch gar keinen Anlass für Konflikte!
Dann kam die nächste Erkenntnis, die Yukiko wie ein weiterer Schlag traf.
„Warte! Wir müssen Mutter und Katsuya suchen! Sie sind bestimmt in Gefahr...“
Riho wandte sich noch nicht einmal zu ihrer Freundin um, sondern strebte hastig auf einen dunklen Seitengang zu.
„Dafür haben wir keine Zeit; sie werden der Herrin mit Sicherheit kein Leid tun und ich bezweifle stark, dass sie ihre Energie auf einen Bediensteten verschwenden würden – vorausgesetzt, er ist intelligent genug, sich zu verstecken.“
Yukiko konnte nicht glauben, was sie da hörte; erwartete Riho ernsthaft, dass sie die anderen einfach so zurückließ, sich nur auf ihre eigene Sicherheit konzentrierte?
Nein, das konnte sie nicht tun... Es genügte, dass sie ihren Bruder verloren hatte. Sie würde nicht zulassen, dass ihrer Mutter oder Katsuya etwas zustieß!
Riho lotste ihre junge Herrin in eine kleine, dunkle Kammer; eilig verriegelte sie die Türe und wies Yukiko an, sich ruhig zu verhalten.
„...Wenn ich mich nicht vollkommen irre, müsste es hier irgendwo eine Passage zu einem der anderen Flügel geben“, wisperte sie, während sie vorsichtig die Wand abtastete.
„Und woher willst du das wissen?“, fragte Yukiko, die in einer Ecke kauerte, tonlos.
„Nun, die Architektur dieses Anwesens orientiert sich sehr stark an jener, die in Sumeragi üblich ist; dort ist es üblich, gewisse 'Fluchträume' zu schaffen, für den Fall der Fälle. Nach dem Abendessen habe ich die Gelegenheit genutzt, um mich ein wenig umzusehen und diese Kammer hier wäre zumindest typisch für einen...“
Leise schob sie einen der Wandschränke auf und untersuchte diesen.
Yukiko hingegen spürte, wie Misstrauen in ihr aufkeimte; wieso hatte es Riho für nötig gehalten, sich nach Fluchtmöglichkeiten umzusehen? Hatte sie womöglich etwas geahnt? Aber das konnte doch nicht sein...
Das Mädchen griff sich in seine Haare und schüttelte den Kopf.
Nein, sie durfte jetzt nicht zweifeln! Riho war eine gute Freundin, der sie vollkommen vertraute, zumal sie ohne sie den Soldaten ganz gewiss niemals entkommen wäre. Ihr Verhalten hatte mit Sicherheit einen guten Grund.
Diejenigen, die die ganze Schuld an dieser Situation trugen, waren die Amemiya.
„...Was ist hier eigentlich los?“, murmelte sie leise.
Riho schien dies gehört zu haben.
„Ich weiß zwar nichts genaueres, aber allem Anschein nach ist in der Kaiserstadt etwas vorgefallen. Momentan herrscht wohl überall Ausnahmesituation.“
Yukiko runzelte die Stirn. Was hatte sie denn mit den Ereignissen in der Kaiserstadt zu schaffen? Obwohl auch sie den Asatsuyu-Namen trug, hatten sowohl sie als auch ihre Eltern mit den politischen Intrigen und Verwicklungen ihrer höherrangigen Verwandten nichts zu tun... Im Gegenteil, ihr Vater war mehr als zufrieden damit, die Hino-Region zu verwalten! Obwohl Sakuya auf der anderen Seite durchaus ehrgeizigere Ziele verfolgte...
„Aber was wollen sie dann mit uns?“
Riho zuckte die Schultern.
„Ich weiß es nicht, junge Herrin. Aber ich bin mir sicher, dass sich alles klären wird, sobald wir es hier heraus geschafft haben... Ah! Sieh mal einer an...“
Das Kammerfräulein entfernte einen Teil der hinteren Wandverkleidung des Schrankes und legte so einen schmalen, dunklen Gang frei. Er schien wirklich ziemlich eng zu sein... Yukiko hoffte, dass sie nicht stecken blieb.
Riho winkte die Adelige zu sich her.
„Ich weiß, es wird gewiss nicht gerade einfach, aber wir müssen dort jetzt möglichst rasch hindurch! Ich bin mir nicht vollkommen sicher, aber ich glaube, dass uns diese Passage entweder in den Empfangsbereich oder in die Privatgemächer unserer werten Gastgeber führen wird... Wobei ersteres wahrlich vorzuziehen wäre.“
Yukiko zögerte und blickte nach hinten, zur verschlossenen Türe. Sie konnte noch immer den Kampflärm hören, auch wenn die Geräusche inzwischen ein wenig abgeflaut waren; mit Sicherheit waren die meisten der Asatsuyu-Soldaten inzwischen entweder tot oder zumindest kampfunfähig.
Auch laute, trampelnde Schritte waren zu hören – ein Zeichen dafür, dass die feindlichen Einheiten auf der Suche nach Yukiko waren.
Die Jugendliche musste wieder an ihre Mutter denken, deren Kammer ganz in der Nähe von ihrer eigenen gelegen war; ob sie gefangen genommen wurde? Yukiko hatte zwar nichts gehört, aber das musste nichts zu bedeuten haben... Und auch Katsuyas Sicherheit machte ihr große Sorgen. Die Amemiya mochten Sakuya und Yukiko am Leben lassen, doch sie hatten keinen Grund dazu, den Bediensteten ebenfalls zu verschonen, zumal er in ihren Augen sowieso nicht sonderlich viel wert zu sein schien...
Das Mädchen spürte Rihos Blick auf sich.
„Junge Herrin, bitte... Wir dürfen keine Zeit mehr verliere! Ich verspreche Euch, dass es Eurer Mutter und Katsuya gut geht, aber momentan müsst Ihr wirklich Eure eigene Sicherheit bedenken.“
Yukiko erwiderte ihn kühl; sie war doch kein kleines Mädchen mehr, das sich mit falschen Versprechungen abspeisen ließ!
„...Wie kannst du mir so etwas nur versprechen?“
Zu ihrer Überraschung lächelte das Kammerfräulein.
„Nennt es meinetwegen 'Intuition'. Außerdem habe ich Euch noch nie zuvor angelogen, oder irre ich mich da?“
Nein, das hatte Riho tatsächlich nicht; sie war die einzige, die immer ehrlich zu Yukiko gewesen ist. Zwar hatte sie die Dinge manchmal ein wenig geschönt oder schlichtweg weggelassen, doch gelogen hatte sie nie.
Die junge Adelige gab sich geschlagen und eilte zu Riho.
„Ich hoffe wirklich für dich, dass du Recht hast...“, murmelte sie, während sie sich duckte, um in sich in den engen Schacht zu quetschen.
Riho lachte leise.
„Junge Herrin, inzwischen solltet Ihr doch wirklich wissen, dass ich das immer habe...“