»Aha! Unter dem Tisch ist ein Loch! Sieh mal, wie es funkelt!« Luan klappte die Tischdecke um.
Der Sumpfmann schob mit einem Fuß den Tisch beiseite. Ein kleines, violett funkelndes Loch war in einer Holzdiele zu sehen. Wo vorher ein Astloch war, flackerte jetzt ein winziges Portal. »Tatsächlich! Meinst du, darin ist Marv verschwunden?«
»Da er hier sonst nirgendwo ist: Ja.«
»Dann rein da!«
»Sind wir dafür nicht ein bisschen zu groß?«
»Steck den kleinen Finger rein und zieh es einfach größer! Ist ein alter Sumpftrick.«
Lu hob misstrauisch eine Augenbraue, kam aber mit sich überein, dass man es ja wenigstens ausprobieren könnte. Der Dachbalkenbewohner formte eine Faust, klappte den kleinen Finger aus und steckte ihn in das schimmernde Astloch. Bald darauf war das Loch so groß wie ein Weinfassdeckel und leuchtete die Taverne aus. Decke und Wände blitzten auf wie in einer Kinderdisco.
»Und? Siehst du was?«
»Nein, es funkelt einfach nur und ist hell.«
»Ach, was solls. Wenn Marv darin verschwunden ist, werden wir das auch überleben. Rein da!«
In einer fließenden Bewegung schlüpfte Lu durch das Loch. Der Sumpfmann wartete kurz, ob das Portal Rauch, Grillfleisch oder glühende Stofffetzen wieder ausspucken würde. Da es jedoch weiter vor sich hinfunkelte, hüpfte er ebenfalls elfengleich hindurch. Moment, Elfen gibts hier gar nicht! Wort reißen! Wort greifen! Wort streichen! Verdammte Sprachsoftware >:(
Von wiederkehrendem, schallenden Metallgeschepper überrascht, drehte sich der Wolf um und hielt seine Nase in den Herbstwind, gegen den er mit seinem dichten Fell bestens gewappnet war. Etwas Grünes rollte die kruden Steintreppen hinunter, welche in das Tal führten, in das er jüngst hinabgestiegen war. Ein gemütliches Tal, getaucht in Nachmittagssonne, beglückt mit zwitschernden, bunten Vögeln, einem plätschernden Bach und einigen Häusern mit roten Schrägdächern in der Ferne. Gemäß seiner Natur hielt sich der Wolf in der Nähe des angrenzenden Waldstücks auf, um sich bei aufkommenden Hunger ein Tofutier – nee, lass mal den Quatsch – ein saftiges Reh zu reißen oder vor anrückenden Jägern zu flüchten, die es auf ihn abgesehen hatten, nachdem er seine Nase im Dorf gezeigt hatte, um nach dem Weg zu fragen. Bevor er ein Wort sprechen konnte, waren Frauen und Kinder in den Häusern verschwunden. Heraus traten zottelige, grimmige Männer, gewandet in dicke Felle oder Lederwämser. Sie jagten ihm nach, feuerten Pfeile auf ihn oder warfen mit Speeren. Der Wolf ergriff die Flucht, sprintete durch hohes Gras und macht einen Satz über den Bach.
Stille. Passend zum Absatzende rollte der grüne Stamm die letzte Treppenstufe herunter. Endlich setzte der Wolf die linke Pfote wieder auf, die er seit dem Krach angewinkelt in der Luft hielt, uneins mit sich darüber, in welche Richtung er weiterziehen sollte. Mit gesenktem Haupt nahm er prüfend einige Schritte in die Richtung Treppe. Der Geruch kam ihm bekannt vor. Es roch nach feuchtem Moos, Erde und Bier.
»Sumpfmann?«
Die Rüstung setzte sich auf und drehte den Helm wieder nach vorn. »Autsch.«
»Du bist mir gefolgt! Ich wusste gar nicht, dass du in das kleine Loch passt. Ich bin das ja aus wolfsbautechnischen Statikgründen gewohnt – bei Menschen sollte das eher nicht der Fall sein.«
Quietschend rappelte sich die grüne Rüstung auf, drehte sich in alle Richtungen und gab metallene Knackgeräusche von sich. »Ich werd alt, Urdoggo.«
Der Wolf schaute zum Helm auf. »Was treibst du hier?«
»Wir.«
»Wie wir?«
»Ist Brokkoli nicht da?«
»Brokilu ist auch hier?! Wo?«
Die Rüstung schaute den steilen Treppenhang hinauf. »Also nochmal hoch gehe ich nicht.«
In Windeseile spurtete der Wolf den Treppenberg hinauf und wieder runter. In einer Sekunde, höchstens! »Keiner da.«
»Er ist auf jeden Fall vor mir durch das Loch.«
Der Wolf fummelte ein pfotentellergroßes Gerät aus seinem Fell. Ein kleines, mit ›BPS‹ beschriftetes, schwarzes Kästchen, auf dem eine grün gerasterte Karte zu sehen war.
»Was ist das denn?«
»Mein ›Bro Positioning System‹. Normalerweise blinkt ein grüner Punkt, wenn er in der Nähe ist. Aber es passiert nichts.« Der Wolf verstaute das Gerät wieder.
»Ist das sowas wie ein Überwachungsgerät?«
»Nein, nein.«
»Also alles freiwillig?«
»Ja, ja.«
»Dann ist er wohl im interdimensionalen Raum falsch abgebogen. Die Molekularsymplexion über trivialkomplexive Plasmakonvergenzen ist mehr oder weniger das Gleiche wie spezifische Kausalalgorithmen, die in Reihe gehen mit der Modularfrequenzsynthese.«
»So in etwa habe ich mir das auch schon gedacht. Ich werde ihn suchen. Hilfst du mir?«
»Von einer Suchmission zur nächsten oder wie? Na von mir aus. Ob ich jetzt den Wolf oder den Gebälksknabberer suche, ist mir eigentlich egal. Wo sollen wir anfangen? Vielleicht bei dem Dorf dort?«
»Ja, nein. Lieber nicht. Die haben mich schon mit Pfeilen und Speeren gejagt! Ich wollte nur nach dem Weg fragen.«
Der Sumpfmann holte ein Teleskopfernrohr hervor, zog es aus und setzte es an den Helm an.
»Hmmm, mal sehen. He!«
»Hallo!«
»Du stehst im Weg.«
»Huhu!«
»Marv! So seh ich nix!«
»Hier bin ich!«
»Also, wenn ich einen Weg für uns suchen soll, dann renn mir nicht dauernd vor die Linse. Außerdem ist es unnatürlich für nen Wolf, auf zwei Beinen zu stehen und seine Nase in die Luft zu halten, um anderen die Sicht zu versperren.«
»Ich kann reden und du bestehst nur aus Rüstung.«
Der Sumpfmann seufzte. Dann holte er einen roten Ball hervor. »Sieh mal hier, quietsch!«
»Oh ja, wirf den Ball! Wirf ihn! Los! Wirf ihn, los! Wirf ihn! Wirf ihn! Wirf den Ball!«
Die Rüstung holte zu einem Weitwurf aus, ließ den Arm nach vorn schnellen, täuschte den Wurf aber nur an. Der Wolf flitzte hechelnd ins hohe Gras hinein und verschwand gänzlich darin. In neugewonnener Ruhe schaute sich der Sumpfmann mit dem Fernrohr um. Das Dorf mit den roten Schrägdächern, viele Bäume, das weite Grasland und ein ewig langer Feldweg waren zu sehen. Auf diesem Feldweg lag eine Kutte, die farblich an Luans Überwurf erinnerte.
»Habs!« Der Wolf kam aus dem Gras geschossen, mit einer roten Kugel im Maul.
Der Sumpfmann packte das Fernrohr weg, holte noch einmal den Ball hervor und schaute prüfend von seinem Ball zum vollgesabberten Ball in Marvs Maul.
»Keine Ahnung, was du da hast, aber es ist nicht der Ball.«
Der Wolf öffnete das Maul und ließ den Ball einfach fallen. »Ja ... weiß ich.«
»Sicher?«
»Ja.«
»Na gut. Jedenfalls gibt es dort hinten einen Hinweis!«
»Ach! Wo?«
»Auf dem Feldweg weiter hinten liegt eine Kutte. Die sieht so aus, wie Luans Klamotte.«
»Dann los!«
Wolf und Rüstung wanderten den Feldweg entlang, vorbei an Dorf und Waldstück, bis hin zum Fuß einer Kuppe. Dünne Rauchsäulen im Dorf hoben sich in den Himmel. Der Herbstwind blies bunte Blätter auf den Wanderweg. Gras am Wegesrand wog sich sanft in kühlem Hauch.
»Da ist es! Fass!«
Der Wolf trabte los und blieb schnuppernd am Stoff stehen »Das ist definitiv seins!«
»Dann müssen wir nur noch herausfinden, wieso und weshalb.« Der Sumpfmann hob den dunkelblauen Stoff auf und prüfte die Taschen. »Auf der anderen Seite würde das ja ausgeklügelten Detektivplot erfordern. Dafür bin ich nicht schlau genug. Lass uns einfach mal weitergehen.«
Der Sumpfmann blieb plötzlich stehen.
»Was ist?«
Mit einem Panzerhandschuh klopfte er gegen die Luft.
»Oh toll, ich mag Pantomime!«
»Unsinn. Hier ist eine unsichtbare Wand! Das hab ich ja gern. Kann ich schon in Games nicht leiden und nun gibts sowas hier auch noch!«
»Was? Hier ist doch gar nichts.« Der Wolf wollte an der Rüstung vorbeilaufen und drückte sich seine Nase platt. »Au!«
»Darum ja auch ›unsichtbar‹.«
»Habs verstanden.«
»Nase noch dran?«
»So halb.«
»He ihr da! Was lungert ihr auf der Straße herum?«
Wolf und Rüstung wirbelten herum.
»Oh, das sind die Dorfbewohner, die mich gejagt haben.«
Zwei mit Fellen bedeckte Zottelkerle kamen die Straße entlang geschlendert. Bewaffnet mit Bogen und Speer schauten sie grimmig drein.
»Wir lungern nicht, wir werden an der Weiterreise gehindert«, stellte der Sumpfmann klar.
»Was soll das heißen?«
»Na, man kann hier nicht weitergehen!«
»Redet keinen Quatsch! Geht zur Seite.«
Wolf und Rüstung stellten sich an den Wegesrand.
»Unsichtbare Wand, dass ich nicht – autsch!«
Wolf und Rüstung kicherten dreckig.
»Moment mal, hat der Wolf gerade gelacht?«
»Er kann sogar reden.«
»Ich esse gern Brotchips!«
Die beiden Kerle machten große Augen. »Eine unsichtbare Wand und ein sprechender Wolf! Wenn der nicht Schuld daran ist, fresse ich einen Besen!«, rief der eine Kerl. Der andere tastete an der Wand herum.
»Oh, ich mag Pantomime!«
Plötzlich legte sich ein langer Schatten auf alle Beteiligte. »Hallo«, sagte die zum Schatten gehörige Kreatur bassig. Sie hatte grüne, ledrige Haut und war mindestens doppelt so groß wie der Sumpfmann. Ausladende, stinkende Plattfüße hievten den wankenden Körper über das Land. In seinen behaarten Unterarmen hatte sich von kleinen Ästen bis Mäusegerippen allerhand Zeug verfangen. Lianenähnliche Haare kräuselten sich bis auf Bauchhöhe.
Die Fellkerle machten vor Schreck einen Satz zurück und streckten der Kreatur Speer und Pfeil entgegen. »Ein Waldtroll!«
»Meine Herren, bitte beruhigt euch«, fand der Wolf. »Es scheint, als wäre es nur ein weiterer Reisender.«
»Fell hat recht. Schlau. Kann sprechen.«
»Ja, das ist angeboren.«
»Ein Waldtroll!«
»Ihr solltet ihn lieber nicht wütend machen. Entspannt euch mal.«
»Waldtroll nicht böse. Friedlich. Will nur wandern.«
Der Sumpfmann verschränkte quietschend die Arme. »Eigentlich wollen wir doch alle nur wandern, richtig?«
»Warum nicht gehen?«
»Die unsichtbare Wand versperrt uns den Weg.«
Der Troll hob seine Faust und kratzte sich mit einem Finger am Kopf. »Wo ist unsichtbar?«
»Nicht wo, was.«
»Was?«
»Ja, was. Die Wand ist unsichtbar.«
»Wo?«
»Überall! Keine Ahnung, wie groß die Wand ist.«
»Vorher war die noch nicht da! Wir gehen schon seit Jahren diesen Weg und das war nie ein Problem. Das ist bestimmt Hexenwerk.«
»Hier gibts Hexen?«
»Na, zumindest gibt es Trolle, nicht wahr?«
»Hexen sind aber keine Trolle.«
»Gibt es Trollhexen?«
»Wald.«
»Nicht Wald, Trollhexen!«
»Im Wald Troll.«
»Hexen!«
»Troll!«
»Meine Herren, beruhigt euch bitte. So kommen wir doch zu keiner Lösung. Streit hilft jetzt auch nicht weiter.«
»Vielleicht war es ja ein Zauberer.«
»Bei uns im Dorf gibt es nur Schamanen.«
»Können die eine unsichtbare Wand zaubern? Vielleicht zum Schutz des Dorfs?«
»Ich glaube nicht, dass die so stark sind. Es sind verehrte Geistesführer und genießen größten Respekt – aber unsichtbare Wände? Das klingt nach Hexenwerk.«
»Troll!«
»Ja, ist ja gut.«
Der Sumpfmann winkte ab. »Mal was anderes – habt ihr zufällig einen Kerl gesehen, der so eine Kutte trägt? Hängt dauernd in Dachgebälk rum und hält sich für nen Auftragsmörder?«
»Ach, da hamwa zich!«
»Wie jetzt?«
»Gebälksvolk.«
»Das ist ein eigenes Volk?«
»Ja. Die hängen bei uns ständig ab.«
»Ernsthaft?«
»Nein, ist nur spaß. Wäre ja auch vielleicht n bisschen eng, meinste nicht?«
»Verscheißern kann ich mich alleine! Kannst dich gleich mal mit meiner Schaufel unterhalten!«
Marv rief aus der Ferne: »Sumpfmann! Schau mal hier!«
Die Rüstung warf den Herren aus dem Dorf noch einen grimmigen Helmblick zu und stapfte zum Wolf. »Was ist denn?«
»Guck mal, ist das eine Tür?« Der Wolf sah auf eine Türklinke.
»Hängt die Türklinke etwa in der Luft?«
»Drück sie mal.«
Die Rüstung griff nach der Türklinke und rüttelte an der Tür. »Das verdammte Ding klemmt! Hilf mal mit!«
Der Wolf steckte seine Schnauze mit aller Kraft in den Türspalt, der Sumpfmann stemmte sein Gewicht gegen die Tür. Mit einem plötzlichen Ruck gab sie nach und beide fielen durch den Eingang! Nach unten!
Der Sumpfmann schlug hart auf Holzboden auf. Der Wolf segelte wenig später bequem an einem Fallschirm neben ihm hinab. Die Gerüche kamen ihnen bekannt vor. Es roch nach Kaffee, Brotchips und Kuchen. Im Kamin knisterte ein Feuer. Sie waren wieder in der Taverne.
»Ach, da seid ihr ja endlich«, bemerkte Luan, der mit angezogenen Beinen auf der Couch saß und Smoothie schlürfte.
Die Rüstung rappelte sich auf. »Wie bist du hierher gekommen?«
Der Wolf hüpfte auf die Couch zu Lu.
»Hab die Tür wohl vor euch gefunden. Der Mantel sollte die Stelle markieren. Wie ich sehe, habt ihr den mitgebracht, danke!«
»Der lag irgendwo auf dem Feldweg, aber nicht gerade auf Höhe der Tür.«
»Muss der Wind weggeweht haben.«
Mit einem Fuß schob der Sumpfmann den Tisch weg. »Das Loch ist verschwunden.«
»Komisch, oder? Wenn das hier ne richtige Story wäre, gäbe es bestimmt auch ein gescheites Ende, um irgendwie den Plot abzuschließen.«
»Was für'n Plot?«
»Ah – ja, stimmt auch wieder!«
»Also einfach Ende?«
»Ende!«