Tagelang stand ich vor dem Spiegel und habe den Tanz eingeübt, den ich am heiligen Abend dem Weihnachtsmann vorführen wollte. Lautmalerische Bewegungen formten sich zu dem englischen Weihnachtslied "Santa Claus is coming to town", zu dem wir gerade auch in der Schule sangen und tanzten. Ich hielt es für eine großartige Idee und bereits am 1. Dezember war ich dermaßen aufgeregt. Aber es war eine positive Aufregung. Eine Aufregung, die mich zum Leuchten brachte. Eine Aufregung, die die Zeit des Wartens wahnsinnig schnell verstreichen ließ. Und dann der Schock: Ein Brief vom Weihnachtsmann erreichte unseren Briefkasten. Als ich ihn in den Händen hielt, war ich ähnlich aufgeregt, als wenn der Weihnachtsmann direkt vor mir stünde. Ich hatte das Gefühl, ich hielte etwas Heiliges zwischen den Fingern. Es war eine Heiligkeit, die meinen ganzen Körper umfasste und mich faszinierte. Erwartungsvoll öffnete ich den Brief. Die stille Hoffnung in mir, der Weihnachtsmann hätte mich vielleicht bereits beim Proben beobachtet und würde jetzt wollen, dass ich mit ihm am Weihnachtsabend von Haus zu Haus ziehe und meinen Tanz vor jedem ebenso aufgeregten Kind vorführe, ließ mein Herz schneller schlagen. Aber würde ich wirklich ohne meine Familie Weihnachten feiern wollen? Würde ich mich denn überhaupt trauen, vor allen Kindern der Welt meinen Tanz zu präsentieren, der doch eigentlich nur für den Weihnachtsmann bestimmt war? War ich doch schon aufgeregt, es nur einer einzigen Person zu zeigen, nämlich mir selbst vor dem Spiegel. Mit dieser mystischen Hoffnung also öffnete ich den Brief. Ich las. Ich las ihn, und mit ihm kamen die Tränen. Ich las ihn, und mit dem Lesen kam die Enttäuschung. Nach etwa zwei Minuten staute sich sogar eine gewisse Wut an.
Und das stand in dem Brief:
Liebe Emily,
ich bin der Weihnachtsmann. Du bist wie jedes Jahr ein sehr braves Mädchen gewesen. Nur habe ich dieses Jahr so viel zu tun. Und du bist ja jetzt schon so groß, dass ich dich dieses Jahr leider nicht besuchen kann. In Gedanken bin ich natürlich trotzdem bei dir und die Geschenke, die schicke ich alle durch den Schornstein.
Hab ein besinnliches Weihnachtsfest.
Alles Liebe
Der Weihnachtsmann.
Alles umsonst. Jede Arbeit - umsonst. Alle Mühe - umsonst. Die ganze Aufregung - umsonst. Es war alles umsonst. Der Weihnachtsmann würde nicht kommen, um meinen Tanzauftritt zu sehen. Er schrieb auch nicht, um mich zu fragen, ob ich nicht mit ihm zusammen zu allen Kindern nach Hause kommen würde. Meine positive Aufregung wurde zu großer Enttäuschung. Ich konnte es überhaupt nicht verstehen. Warum kann er denn ausgerechnet dieses Jahr nicht zu mir kommen? Ich verstand es nicht. Und ich wollte es nicht verstehen. Voll von Tränen rannte ich zu meiner Mama. Sie jedoch verstand wiederum mich nicht. "Kannst du nicht verstehen, dass der Weihnachtsmann auch zu sooo vielen anderen Kindern auf der ganzen Welt muss?", hatte sie mich gefragt. Ich schüttelte nur den Kopf. "Vielleicht kannst du ihm ja schreiben, dass er eventuell doch noch Zeit für dich hat und ganz kurz kommen kann.", schlug Mama vor. Meine Augen fingen tatsächlich ein wenig zu leuchten an. Ich fand die Idee wundervoll, und plötzlich, da flammte auch meine Aufregung wieder auf. Sofort setzte ich mich an meinen Schreibtisch und verfasste einen Brief an den Weihnachtsmann:
Lieber Weihnachtsmann,
du hast ja geschrieben, dass du leider nicht zu mir kommen kannst dieses Jahr. Ich bin aber so traurig. Ich würde mich so freuen, wenn du doch noch kommen kannst. Bitte bitte komm an Weihnachten zu mir nach Hause. Ich habe auch eine Überraschung für dich.
Alles Liebe
Deine Emily.
Wir klebten eine Briefmarke darauf. Mama würde ihn gleich am nächsten Tag in den Briefkasten stecken. Und jetzt begann die Zeit des Wartens. Am nächsten Tag kam noch immer keine Antwort. Am Tag danach auch nicht. Der Weihnachtsmann musste ja sicherlich viele Briefe beantworten und dann ja auch noch die ganzen Geschenke einpacken. Aber trotzdem hielt ich das Warten nicht aus. Am dritten Tag schließlich lag auf meinem Schreibtisch ein blauer Briefumschlag. Ich konnte es gar nicht glauben. Ohne blühender Fantasie, dafür mit angespannter Neugier, öffnete ich den Brief mit einem Ruck.
Liebe Emily,
ich habe deinen Brief bekommen. Ich wusste ja nicht, dass du mich so gespannt erwarten würdest. Wenn das so ist, komme ich natürlich zu dir und deiner Familie. Dann kann ich mich ja ganz doll auf deine Überraschung freuen.
Alles Liebe
Der Weihnachtsmann.
Augenblicklich stellte sich in mir eine besinnliche Glückseligkeit ein. Meine Augen leuchteten, mein Lächeln wurde immer größer. Ich war nun weder wütend, noch enttäuscht, sondern einfach nur glücklich.