„Wohin gehen wir nun?“, Yalhan spielte nervös mit dem Griff seines Langdolches. Das Warten und die Ungewissheit, was als Nächstes passierte, nervten ihn. Er wollte die Kontrolle endlich wieder übernehmen, arbeitete doch Gwindor im Auftrag des Vermummten und dieser arbeitete wiederum zusammen mit seinem Volk. Gwindor schenkte ihm einen kurzen Blick von der Seite und schloss die Tür mit Nachdruck hinter sich. „Wir gehen zur Hohepriesterin“, kam es knapp von ihm. Yalhan zog eine verwunderte Grimasse: „Hat nicht der Alte da gemeint, dass alles schon geregelt sei und sie uns nicht empfangen wird?“
„Der 'Alte' war einmal mein Ausbilder, Yalhan!“, die Schärfe mit der Gwindor nun sprach, war so schneidend wie die Klinge seines Schwertes, „An den Punkt im Leben, an dem Thyram ist, müsstest du erst gelangen und wenn du so weitermachst, wirst du das nie.“
„Im Gegensatz zu dir, bin ich kein Söldner oder ein einfacher Soldat. Meine Familie ist reich und angesehen. Sie gehört zu den Obersten der Skalaner“, Yalhan stemmte die Fäuste an seine Seiten, bemüht seiner Stimme einen ruhigeren Klang beizugeben. Es war gefährlich, Gwindor zu provozieren an diesem Ort, seiner Heimat, wo er im Vorteil war. Einmal mehr wünschte er sich, in Skala hätte bleiben können. „Und trotzdem verscherbelten sie dich als Schoßhund und Assassine an den Vermummten“, Gwindors Lippen wurden von einem höhnischen Lächeln umspielt, „Was springt für dich dabei heraus? Geld? Macht?“
„Ein Bündnis“, seine Stimme war leiser geworden, „Ich bin dir mindestens gleichgestellt und bisher hattest du meine Dienste nicht nötig. Warum ich mitlaufen muss, weiß ich daher nicht. Ich wäre froh, wenn du wenigstens die Güte hättest, mich darüber aufzuklären.“
„Güte? Du, dem man nachsagt, dass sein Jähzorn und Blutdurst ihn leitet, sprichst von Güte?“, Gwindor lachte amüsiert auf, „Aber ich will mal nicht so sein, schließlich sollen wir gut zusammenarbeiten. Auch wenn Thyram der Meinung ist, wir können es uns ersparen, werden wir dennoch zur Hohepriesterin gehen. Es ist immer besser, persönlich Proviant, neue Pferde und die Gefangene für eine Reise zu erbitten. Besonders, wenn diese uns außerhalb der Reichsgrenzen in die Totenwalde Arborions führt. Der Vermummte hat gesagt, dass wir dort etwas finden, was deinem Volk im Kampf gegen die Fai von Nützen sein könnte. Ein altes Relikt, doch leider ist mein Volk etwas zu übereifrig gewesen in den letzten Jahrhunderten. Du musst wissen, die Gefangene ist eine Marionette des Puppenspielers und ihr Herr hätte uns besser helfen können, aber man hat ihn beseitigt, bevor unser Auftraggeber es verhindern konnte.“
„Ein Relikt?“, Yalhan löste seine Haltung ein wenig, „Wenn wir das alles schon wissen, warum gehen wir dennoch zu eurer Priesterin?“
„Der Segen der Götter sollte bei dieser Sache auf unserer Seite sein, Yalhan. Außerdem war ich lange nicht mehr hier und halte mich für nostalgisch, aber eine der Priesterinnen ist mir mal versprochen gewesen. Lang bevor sie zu einer geworden ist und ich den Dienst quittierte. Mit vollstem Einverständnis der Hohepriesterin im Übrigen, was die wenigsten wissen. Was du sicher auch nicht weißt ist, dass mein Herr nur wegen der Priesterin mit euch Skalanern paktieren konnte. Deine Leute haben ihn zuerst abgewiesen, aber durch mich konnte er hierherkommen und über Umwege dann zu euch.“
„Du sagtest mir, er habe Großes vor und du wärst ihm deshalb gefolgt. Wann hast du ihn überhaupt kennengelernt?“, fragte Yalhan mit unverhohlener Neugierde. Er brannte darauf, mehr über den Vermummten in Erfahrung bringen zu können.
„Das ist eine lange Geschichte und wir haben weder die Zeit, sie zu erzählen, noch ist dies der richtige Ort dafür“, antwortete Gwindor ausweichend und wandte sich zum Gehen.
Unbemerkt von den beiden, hatte ein Schatten Yalhan und Gwindor beobachtet, wie sie aus dem kleinen Gebäude traten. Gwindor, der noch einmal zurücksah, bevor er sich seinem Begleiter zuwandte und diesem zu folgen deutete. Ihre kurze Unterhaltung, als Yalhan stehen blieb. Sie schlugen den Weg zum Turm der Hohepriesterin ein. Dieses Geschehen verfolgte der Schatten mit seinen roten Augen.
Der kühle Stein der Mauer, gegen die sich der Schatten schmiegte, erwärmte sich langsam durch seine Berührung, während er, dagegen gepresst darauf wartete, dass sie außer Sichtweite waren und die Tür geschlossen blieb. Thyram würde nicht so bald wieder herauskommen. Langsam löste sich Furias aus seinem Versteck und betrat die offene Straße. Eigentlich hatte er Gwindor nachstellen wollen, um herauszufinden, was sein ehemaliger Vorgesetzter hier zu schaffen hatte. Er war lange nicht in den Düsterlanden gewesen und sein Begleiter war aus dem Schwesterland Skala. So viel hatte er im Kerker an den Symbolen auf dessen lederner Rüstung erkennen können. Das er aus diesem kurzen Gespräch so viel erfahren hatte, ließ ihn innerlich jubilieren. Noch hatte er Gwindor als eher lebensfreudigen, wenn auch etwas strengen, Ausbilder in Erinnerung. Er konnte sich nicht entsinnen, dass es einen Vorfall gegeben hätte, der zu seiner gedanklichen Wandlung geführt haben könnte. Jedenfalls nicht so lange Furias ihm unterstellt gewesen war. Kopfschüttelnd sah er in die Richtung, in der sie verschwunden waren. Gwindor war immer ehrgeizig gewesen, bei jeder Schlacht hatte er stets in der ersten Reihe gestanden und hatte seine Narben aus dieser mit Stolz getragen. Alte Sitten und Bräuche hielt er in Ehren und strafte diejenigen, die den alten Glauben oder die Hohepriesterin in Frage stellten, mit Grausamkeit. Er erinnerte sich gut an den Tag, an dem Gwindor plötzlich verschwunden war und seine Kameraden einen anderen Anführer vor sich hatten. Sie hatten sich lange gefragt, was passiert sei. Erst später erfuhren sie, dass Gwindor den Dienst quittiert hatte und sich für ein Leben als Söldner entschieden hatte. Sein neuer Herr paktiere mit den Skalanern, hieß es damals, aber wer er wirklich war, wusste niemand. Furias hatte während eines Wachdienstes im Turm der Hohepriesterin aufgeschnappt, dass sie ihn den "Mann ohne Gesicht" nannten. Kein Skalaner vom Blute, aber die Oberen Skalas schienen große Stücke auf ihn zu halten oder seine Existenz zumindest so weit zu schätzen, dass sie ihm Männer zur Verfügung stellten und schließlich war dieser Mann so überzeugend, dass Gwindor, der bisher allein der Hohepriesterin die Treue geschworen hatte, ihm blind folgte. Nun aber stellte sich heraus, dass es wohl umgekehrt war und seine Hohepriesterin derart große Stücke auf den geheimnisvollen Mann hielt und erst die Verbindung zu den Skalanern hergestellt hatte.
Furias fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Die Sache war derart kompliziert, dass er einen Anflug von Kopfschmerzen verspürte. Er selbst hatte andere Probleme, als dass er sich allzu lange mit solchen Gedanken aufhalten sollte. Gwindor würde schon wissen, was er tat. Sollte er doch auch ruhig die Gefangene zurück an den Ort schleppen, von dem aus Furias sie hergeholt hatte. Der verfluchte Bastard hatte vorhin doch tatsächlich einen wunden Punkt getroffen, als sie ihm vorwarf, nie frei gewesen zu sein. Es stimmte, er war immer jemandem gefolgt und hatte bisher das Glück gehabt, heil aus jeder Sache herausgekommen zu sein, während um ihn Kameraden starben. Die ersten, die starben, waren Freunde aus Kindertagen gewesen, die in den Wäldern zurückblieben, während Hunger und Stille ihn beinahe wahnsinnig gemacht hatte. Seither war er immer auf der Suche nach Licht und einer warmen Mahlzeit. Über die Grenzen der Düsterlande war er noch nicht oft hinausgekommen. Auch das Schwesterland hatte er selbst noch nie gesehen. Einzig Arborion hatte er bereist, um den Puppenspieler auszuschalten, der sein Unwesen lange genug getrieben hatte. Er wusste nicht einmal den genauen Grund, weshalb er den Bastard am Leben lassen musste und den Meister töten. Es war nur ein Auftrag gewesen. Nicht mehr und nicht weniger und dennoch hatte es ihm gefallen so weit entfernt der heimatlichen Städte zu sein. Erneut schweifte sein Blick zu der eisenbeschlagenen Tür. „Dieser Bastard...“, nachdenklich schüttelte Furias den Kopf. Er war zu sehr geprägt von seiner Erziehung, als dass er etwas Abscheuliches wie sie in lebendigen Zustand wertschätzen konnte. Er fand sie widerlich. Ein Fehltritt der Natur. Dennoch, sie hatte mit ihren Worten etwas in ihm angestoßen, was schon lange in ihm keimte. Seit dem Tag, an dem er einen seiner Kameraden verlor, da dieser sich einen Fehler erlaubte und daraufhin zum Opfer an die Gottheit wurde, bezweifelte er manche Wege der Hohepriesterin.
~*~
Während Furias noch in Gedanken versank und der Zweifel seine Wurzeln tiefer in sein Fleisch grub, kletterte Lad an Bord der ‚Aura‘ gerade die Takelage zum Mast hinauf. Der frische Seewind blies ihr ins Gesicht und ließ ihre Augen tränen.
Seit dem Abendessen bei Tanis verhielt sich die Mannschaft ihr gegenüber zuvorkommender. Sicher, sie verrichtete noch immer alle Dienste, aber sie wurde nicht mehr von Unmengen an Wäsche überhäuft, geschweige denn leistete sie alles allein. Plötzlich war der Küchenjunge stets anwesend und es war immer jemand in der Nähe, der sonst auch für Deck, Segel oder Tau zuständig gewesen war, und der ihr nun beiseite stand. Sie war dankbar, nicht mehr allein das Segeltuch flicken zu müssen oder das Deck zu schrubben. Eigentlich hatte sie sich nicht gedacht, dass das Leben an Bord noch viel angenehmer sein konnte, wenn man sie wirklich wie ein vollwertiges Mannschaftsmitglied behandelte und nicht wie eben die Frau, die sie war, die man scheute und zugleich mit Arbeit überhäufte, weil man nicht wusste, wie man mit ihr umgehen solle.
„Auch wieder da?“, der junge Fai vom Krähennest warf ihr die Leine zu, die sie im Nu um ihre Hüfte schlang, bevor sie sich neben ihm niederließ und einen Korb abstellte. „Ich hab dir Essen mitgebracht“, erklärte sie mit einem Lächeln, „Der Koch meinte, du hättest heute noch nichts gehabt und ich bot mich an, es raufzubringen.“
Der Fai hob das Tuch, das den Korb abdeckte an und schmunzelte: „Wie bescheiden. Wasser und belegte Brote. Willst du auch eines?“
Er reichte Lad eines der Brote mit Salat und Käse hinüber. Sie nahm es dankend an und lehnte sich mit dem Rücken an die oberste Spitze des Mastes. Seit ihrem ersten Tag liebte sie diese Höhe. Es gab ihr ein Gefühl von Freiheit, wenn der Wind ihr Haar zerzauste und sie in die Weite sehen konnte.
„In drei Tagen sollten wir die Küste von Aurenien erreichen“, erklärte der Fai zwischen zwei gierigen Bissen.
Lad drehte den Kopf erstaunt zu ihm: „So bald schon? Ich denke mir noch immer, dass ich gerade erst an Bord gegangen bin.“
„Die Winde sind günstig um diese Jahreszeit, aber auch die letzten, die man riskieren sollte mit der ‚Aura‘. Sie eignet sich nicht für die Wintermonde. Andere Schiffe sind da besser gerüstet. Wir aber nicht. Wir werden entweder in Akendi bleiben, was viele freuen würde, denn dann sehen sie ihre Familien wieder, oder aber wir fahren noch mal nach Astila und verbringen dort den Winter“, erklärte er und schlang den Rest seines Brotes hinab.
„Und was würdest du wollen?“, sie hielt sich mit einer Hand die Haare zurück, um selbst essen zu können.
Der Seemann zuckte leicht mit den Achseln: „Mir ist es gleich. Ich habe meinen Schatz immer in meiner Nähe und ich liebe die See. Von meinen Eltern lebt nur mehr meine Mutter und die ist schon glücklich mit meinem Bruder und den Tieren, die sie hüten.“
„Sie sind Bauern?“, Lad griff nach einem zweiten Brot, während sie neugierig zuhörte, „Und wer hier ist dein Schatz? Oder meinst du damit auch die See?“
„Zusammen mit der Frau meines Bruders und deren fünf Kindern. Zwei davon schon ins reife Alter gekommen. Einer möchte zur See gehen wie ich. Ich würde mich freuen, wenn er vielleicht an der ‚Aura‘ anheuern könnte“, der Fai errötete bei ihrer zweiten Frage leicht, „Du kennst ihn. Den Küchenjungen, Finris.“
Lad schmunzelte ob seines roten Gesichtes: „Finris... Ich wollte ihm schon die Ohren noch mehr in die Länge ziehen, weil er mich immer allein abwaschen ließ. Ist doch aber sehr schön, dass ihr zusammen am gleichen Schiff seid.“
„Er hat Angst vor Frauen. Aber er meinte, du wärst ganz in Ordnung“, er zwinkerte ihr zu, „Ja, es ist wahrlich eine Freude. Ich habe meinen Liebsten hier und wir haben beide Salzwasser in den Adern. Er fuhr, wie ich, schon sehr früh zur See.“
Lad legte den Kopf in den Nacken. „Ich möchte das auch gerne tun. Länger, meine ich“, flüsterte sie und sah wehmütig zum Horizont. Es würde ihr fehlen, diese Weite und der Reiz der Unsicherheit. Schließlich war man an Bord eines Schiffes ganz dem Spiel von Wellen und Wind ausgesetzt. Man konnte nicht sagen, wie der nächste Tag würde. Ob es stürmte und die Wellen hochschlugen, eine Flaute eintraf oder es wie am heutigen Tage ruhig und sonnig dahinging.
Aus weiter Ferne, durch den Wind zerrissen, hörte sie, wie jemand ihren Namen rief. Sogleich wandte sie den Blick hinab in die Tiefe und sah Dolos unten am Mast stehen, die Hände zu einem Sprachrohr um den Mund gelegt.
„Ich fürchte, du musst schon wieder gehen. Dolos braucht wohl ein Paar helfende Hände“, kicherte der Fai.
„Ich fürchte es auch. Dabei habe ich es mir gerade gemütlich gemacht. Nun gut, für die letzten Tage brauche ich mir auch kein Versteck mehr suchen, um dem Nähzeug zu entkommen“, zwinkerte sie ihm zu und löste die Leine, um wieder hinunter zu klettern.
Der Himmel war klar und wenn es so blieb, würden ihre letzten drei Tage an Bord ruhig vergehen. Mit den üblichen Diensten natürlich.