Nach nur drei Wochen
Nur drei Wochen liegen nun diese ereignisreichen Stunden zurück.
Stunden die Hawe, man kann sagen, beglückten. Es war nicht nur das Zusammentreffen mit der charmanten redegewandten Frau allein, es war der gesamte Tag, der sich in der Rückschau als einer der unbeschwertesten Tage der letzten Jahre darstellt. Dabei, und das weiß er ganz genau, liegt es oft an Ihm selbst. Aber er kann eben nicht aus seiner Haut. Wer einmal schnörkellos veranlagt ist, wer einmal mustergültig nach Effizienz suchend erzogen ist, der kann nicht locker und entspannt zum Conferencier des Abends, zum Salonlöwen, zum eloquenten Unterhalter auf Knopfdruck mutieren.
Dennoch, er hat die Schlacht des Nachmittags gut geschlagen und ohne sichtbare Verletzungen überstanden. Mehr noch, Hawe ist sich sicher, dass er seine Gegenüber nicht gelangweilt hat.
Marianne ist in der letzten Tagen sehr beschäftigt gewesen. Der Krankenstand in der Gemeindeverwaltung ist sehr hoch und so musste sie durch gezielte Überstunden den öffentlichen Betrieb des Amtes am leben erhalten. Das brachte naturgemäß den ganzen Wochenplan durcheinander. So musste schon das zweite mal in Folge, Mittwochs das Pilates ohne sie stattfinden.
Die häuslichen Pflichten verschoben sich auf die Wochenenden, sodass Sie beide Sonntage im Schlafgewand in der Wohnung herum wuselte, putzte, das Essen zubereitete (Bulgursalat mit Paprika, Koriander, und Kleinkram von hinten links im Kühlschrank), Tee bereitete, las und Briefe verfasste.
Carola war jetzt zwar nicht in allen Einzelheiten unterrichtet worden, aber in groben Zügen hat Marianne den Grund des nicht stattgefundenen Besuch mitgeteilt. Das schreiben des Briefes war für Sie eine Art seelische Verarbeitung des Erlebten. Denn so ganz glauben konnte sie sich selber nicht, was sie da gemacht hatte. Nicht, dass sie etwas bereute, nein, im Gegenteil, war es doch in Gänze gegen ihre lange antrainierten Verhaltensmuster. Grund zur Scharm gab es nicht, hat sie sich doch gebührlich Veralten und keines Wegs die ihr ohnehin fremde Tendenzen eines Männermordenden Vamps gezeigt. Gefallen hat ihr dieser Nachmittag sehr, trotz oder gerade wegen der unerwarteten Entwicklung.
Hawe hatte nach seiner Kur, seinem Hause wieder Leben eingehaucht. Grundputz, Vorräte in Kühlschrank, Keller und Kammer aufgefüllt. Hat mit dem niegelnagelneuen Aufsitzrasentraktor mit automatischem Vor-Zurück-Zur-Seite-Ran und allen erdenklichen und zugegebener Massen nützlichen Zusatzausstattungen, den Garten auf Vordermann gebracht. Gemäht, gegrubbert, gehäckselt, vertikutiert, zerkleinert, eingesammelt und weg geschafft. Das gesamte Grundstück sah nun aus, wie aus dem Werbeprospekt von einer Bausparkasse in den siebzigern Jahren. Das Haus, innen wie außen, von unbeschränktem Fortschrittsglauben der Entstehungszeit getränkt. Klare Konturen, dezentes grau in vielen Schattierungen, schnörkellos, großzügig, glatte Oberflächen, moderne Baustoffe, geschickt thronend auf der kleinen künstlich angelegten Erhöhung auf dem Grundstück. Kein Objekt könnte besser zu Hawe passen als dieses Haus! Nach dem er nun die Garage gewischt, das Klingelschild poliert und selbst das Scharnier der Tür (die er nie benutzte) von der Essensdurchreiche zwischen Küche und Essplatz im Wohnzimmer zwei mal geölt hatte, setzte er sich in den Designer-Freischwingersessel und nahm die zweite Tasse Kaffee des Tages zu sich. Gedanken versonnen nahm er nun das Telefon in seine Hand. Er beglückwünschte sich zu seinem im letztem Jahr umgesetzten Beschluss, das alte Festnetztelefon mit 75 cm Telefonkabel und Wählscheibe komplett gegen eine von drei Technikern in zwei Tagen installierte Anlage, die zwar einen Teilbereich in der Tiefgarage unnutzbar macht, zu tauschen. Jetzt konnte er alle nützlichen Funktionen, die ein Haus heutzutage können sollte, von seinem kleinen Taschencomputer aus überwachen und steuern. Und anrufen konnte er damit sogar auch noch! Bei der Suche im Kontakte-Ordner setzte er sich automatisch grade hin und als er die Telefonnummer von Marianne gefunden hatte, zog er unwillkürlich den Bauch ein und scheitelte sein Haar. Samstag 10.52 Uhr!
Samstag 9.52 Uhr in dem 153,2 Kilometer entferntem Schlafzimmer im dritten Stock, andere sagen, unterm Dach, des Reihenmittelhauses bewegt sich die Bettdecke zögerlich. Es ist der erste Tag der Woche ohne konkreten Plan. Für Marianne ein Festtag! Nach einer ganzen Weile wandert der linke Fuß auf der Suche nach dem Hausschuh unter Decke hervor. Dann gehen gleichzeitig die Augen auf und der übrige Körper schlägt ruckartig die Bettdecke zur Seite. Dinge die Marianne nicht sonderlich gerne erledigt, macht sie schnell und aufstehen gehört ziemlich weit oben auf diese Liste.
Jetzt langsam die halsbrecherische Wendeltreppe nach unten. Zur Toilette, was sonst?! Eigentlich hätte sie noch ein bisschen im Bett liegen wollen, aber der Drang war stärker. Dann Teewasser aufsetzen, die letzte Veröffentlichung von Enya in die Kompaktanlage einlegen und die Fernbedienung suchen.
In der Zwischenzeit kocht das Wasser und von der Türschwelle der Küche aus, sieht sie auch schon die Fernbedienung neben dem Kühlschrank warten. Bestens ausgestattet für ein Larifarivormittag wackelt Marianne mit dem Tablett zum Sofa. Gerade als sie sich wunderbar gemütlich installiert hatte, klingelt das Telefon. Ihr erster Gedanke ist nicht – Wer zum Henker ruft mich jetzt an-, der erste Gedanke ist -oh, wo ist es-. Gott sei Dank, kann Sie die Schallquelle lokalisieren. Beim erreichen des Telefons sieht sie auf dem Display, wer sie anruft. Das löst in ihr eine ungewollte Kettenreaktion. Umgehend und in Windes Eile stellt sie eine „to talk Liste“ auf, nimmt sich während des Setzens in ihren Lieblingssessel das Telefon in die Hand, verringert mit dem großen Zeh des rechten unbeschuhtem Fußes die Lautstärke der Klänge aus der Anlage auf nicht störende Lautstärke. Und schon nach dem zwölften Klingeln, drückt sie auf den grünen Hörer der leuchtenden Scheibe in ihrer Hand.
Gerade als die Körperspannung von Hawe nachlässt und er auflegen möchte, hört er ein freundliches „ Guten Morgen Hanswerner“ an seinem rechten Ohr. Schockiert, über seine eigene Tollkühnheit, einen Anruf gewagt zu haben, verfällt er in einen emotionalen Ausnahmemodus. Dieser erlaubt es ihm, locker flockige Konversation zu betreiben, die keine berufliche oder finanzielle Motivation hat. Das Telefonat dient rein weg dem Vergnügen, wer hätte das gedacht! Nach fünfunddreißig Minuten lebhaften Gespräches und gegenseitiger Beteuerung, dass man sich freue und das demnächst wieder einmal machen sollte, wird das Telefonat beendet. Völlig ermattet bricht Hawe fast zusammen. Sich selbst auf die Schulter klopfend, robbt er sich zur Anrichte, zieht das oberste Schubfach auf und gönnt sich eine viertel Tafel „RitterSport nugat“. Es ist nicht nur seelische Belohnung, sondern körperliche First Aid Behandlung! Sein Zuckerspiegel ist bedrohlich gesunken, in der letzten Stunde.
Für Marianne war Hawes Anruf eine großartige Überraschung! Selten hat sie sich so gern in ihren Tagesabläufen stören lassen, wie heute. Während des Gespräches hatte sie zwei Tassen Tee getrunken, endlich Ihren zweiten Hausschuh gefunden, Basilikum geerntet und ein wenig Staub gewischt. Die CD hört sie sich jetzt noch einmal an. Herrlich (im doppelten Wortsinn) wachgerüttelt, geht sie nun in den Tag, ganz egal was da noch kommen mag.