Du hast mich mal gefragt, warum ich so gemein zu dir geworden bin. Ausgerechnet zu dir, meiner einzigen wirklichen Freundin. Damals habe ich dir keine Antwort gegeben, ich konnte lange nicht darüber reden. Doch jetzt bin ich bereit, dir die ganze Geschichte zu erzählen. Ich fange am besten ganz von vorne an…
Wenn ich darüber nachdenke wie meine Kindheit war würde ich am ehesten dazu sagen, dass ich sehr behütet aufgewachsen bin. Meine Eltern haben mich immer vor allem Bösen in der Welt beschützt und aufgepasst, dass es mir gut geht. Doch das konnten sich nicht mehr, als ich in die Schule gekommen bin. Die ersten Jahre liefen gut, bis der Wechsel auf eine weiterführende Schule anstand und ich von all meinen alten Freunden getrennt wurde.
Ich hatte von Anfang an einen etwas schlechten Start in die fünfte Klasse, da ich gleich zu Beginn des Schuljahrs krank wurde und so erst nach vier Wochen dazu in die Klasse kam. Natürlich haben mich alle nett begrüßt, aber wirklich aufgenommen fühlte ich mich auch nach mehreren Wochen in der Schule immer noch nicht. Es hatten sich während meiner langen Fehlzeit am Anfang schon längst kleine Freundesgruppen gebildet, die sich immer mehr festigten. Ich war irgendwo dazwischen und wusste nicht, wohin mit mir. Ich wollte mich nicht einfach irgendwo dazustellen oder dazwischendrängen aus Angst, andere mit meiner Anwesenheit zu nerven. Es ist aber auch niemand wirklich auf mich zugekommen und so hat es sich ergeben, dass ich eben immer alleine war.
Doch ich hatte Glück, denn plötzlich warst du für mich da. Dir fiel auf, dass ich keinen Anschluss fand und du kamst zu mir, um eine Freundschaft beginnen lassen. Du warst die erste, die sich nach einigen Wochen nicht nur aus formaler Höflichkeit für mich interessiert hat und ab da an war ich nicht mehr alleine.
Leider konnte das mich und unsere Freundschaft trotzdem nicht vor all dem schützen, was kurze Zeit später passiert ist.
Dazu muss ich sagen, dass ich mich schon immer unsicher unter Leuten gefühlt habe. Ich habe mich weniger Wert als andere gesehen. Ich wollte es immer allen Recht machen und kam nicht damit klar, wenn mich jemand nicht mochte. Wenn du willst, kannst du mich dafür anklagen und fragen, warum ich so einen Blödsinn denke und wo mein Selbstbewusstsein hin ist. Die traurige Wahrheit ist aber, ich kann dir das nicht beantworten. Denn ich weiß auch nicht, warum ich nicht etwas besser über mich selbst denken kann. Mit dir habe ich mich besser gefühlt, aber jedes Mal wenn du nicht in der Schule warst, kamen alle negativen Gefühle sofort mit aller Wucht zurück und ich hatte Angst, etwas falsches zu machen oder zu sagen und mich vor dem Rest der Klasse noch unbeliebter zu machen. Ich habe damals schon trotz all meiner Bemühungen feststellen müssen, dass ich es, egal wie sehr ich mich auch anstrenge, doch nicht allen Recht machen kann. Nun, diese Erkenntnis hat mir erstmal trotzdem nicht viel weitergeholfen.
Mit so wenig Selbstbewusstsein wie ich es habe, rutscht man dann eben schnell an die Position einer Zielscheibe. Bestimmt erinnerst du dich, wie in jeder Klasse gab es bei uns auch die „coolen“ und die „uncoolen“ Kinder. Soweit ich mich an meine Schulzeit erinnern kann, gehörte ich schon immer zu den uncoolen Losern. manchmal frage ich mich, was bei mir falsch gelaufen ist. Ich verstehe nicht, warum ich bei anderen nie richtig Anschluss finde. Ich weiß nicht, warum ich so ein Mensch sein muss, dem andere lieber aus dem Weg gehen, mit dem sie sich nicht verabreden wollen. Aber ich wüsste es gerne.
Ja ich weiß, ich könnte mal zur Abwechslung versuchen mich selbst mehr zu akzeptieren, anstatt in Selbstmitleid zu schwimmen. Aber ich kann es einfach nicht und hasse mich selbst dafür umso mehr. Ich wünschte mir, ich wäre anders. Dann wäre die ganze Geschichte hier bestimmt niemals passiert.
Alles hat ganz klein und harmlos begonnen. Jemand hat einen blöden Kommentar über mich losgelassen. Nur eine kleine Stichelei, nichts arges. Doch dann wurden es immer mehr gemeine Kommentare und Sticheleien, im Unterricht, in der Pause und auf dem Weg nach Hause. Wahrscheinlich war so einiges davon anfangs gar nicht mal so böse gemeint. Ich habe ja auch immer mitgelacht und so getan, als würde es mir nichts ausmachen. Aber in Wahrheit hat jede noch so kleine Stichelei verdammt wehgetan, sodass ich irgendwann fast jeden Abend unterdrückt in mein Kopfkissen geheult habe. Trotzdem habe ich mich nicht gewehrt oder jemanden anvertraut. Alle die Leute, die mich ansprachen und fragten ob alles in Ordnung sei, habe ich sofort lächelnd mit einem „alles okay“ abgewiesen. Es sollte keiner mitbekommen, wie sehr mich auch nur ein einfaches „du nervst“ oder „wir wollen lieber ohne dich was machen“ verletzt. Dazu kamen immer mehr Beleidigungen und falsche Gerüchte über mich auf. Ich kann das alles, was um mich und mit mir damals passiert ist immer noch nicht ganz erklären. Ich weiß nur, dass es mich damals unglaublich traurig und wütend gemacht hat. Ich wollte, dass es aufhört. Ich wollte nicht mehr die Unbeliebte sein, sondern zu den Beliebten gehören, die scheinbar ein einfach nur tolles Leben hatten.
Und dann bekam ich endlich die lang ersehnte Chance, aus der ganzen Sache raus zu kommen. Eine verdammt schäbige Chance. Jedoch hätte ich zu dem Zeitpunkt alles dafür getan, um meiner Opferrolle zu entfliehen.
Es war ein Tag in der Schule, an dem du gefehlt hast. Ich saß in der Mittagspause neben dem Rest der Klasse alleine für mich herum. Wie es so meistens unter Schülern den Schülern unserer Klasse war, wurde gelästert, weil es sonst nichts Wichtigeres zu besprechen gab. So fingen einige an, auch über dich zu lästern. Um ein wenig Aufmerksamkeit zu erhaschen, habe ich plötzlich ohne groß nachzudenken eins deiner im Vertrauen erzählten Geheimnisse preisgegeben. Ich entschuldigte es damit, dass wir zu dem Zeitpunkt sowieso grad zerstritten waren. Was ich genau weitererzählt habe weiß ich nicht mehr. Warum auch immer ich so ein Arschloch war, aber ich konnte es einfach nicht lassen. Ab da war auf einmal das Interesse unsrer Mitschüler auf mich gerichtet und sie fingen an, mich von allen Seiten über dich auszuquetschen. Ich Idiot war glücklich über die Interesse und habe immer mehr von deinen Geheimnissen und anderen peinlichen Pannengeschichten erzählt. Dafür gibt es kein gut reden, ich habe dich schlecht gemacht wie sonst was, um selbst besser vor den anderen da zu stehen. Ich habe dich in den Dreck geschubst, um dich als Sprungbrett nach oben zu den Beliebten zu benutzen, ohne auch nur einmal an deine Gefühle zu denken. Aber der nächsten Pause war ich auch ohne dich nicht mehr allein. Die Klasse hatte mich plötzlich aufgenommen. Ich hatte dabei nicht einmal ein schlechtes Gewissen, ich war einfach nur glücklich, endlich mal dazu zu gehören.
Einige Tage später bist du wieder zurück in die Schule gekommen. Ich habe dich angesehen, konnte mich aber nicht dazu überwinden, zu dir zu gehen und dich zu begrüßen. Zu groß war meine Angst, wieder selbst das Opfer zu sein. Deswegen habe ich dich ohne Erklärung stehen gelassen und zu den anderen Mitschülern zugewandt. Wie sollte es auch anders kommen, ich wurde weiterhin angestachelt dich zu ärgern und wurde für meine Gemeinheit gefeiert. Nach und nach habe ich angefangen auch andere Kinder, alle die Schwächer als ich schienen, runterzumachen und zu verspotten. Es brannten wie ein loderndes Feuer aufgestaute Wut, Hass und Trauer in mir, die alle anderen Gefühle zu ersticken drohten und ich fing an, sie immer mehr an anderen rauszulassen. Dabei verletzte ich selbst immer mehr unschuldige Personen anstatt mich gegen die Gruppe zu wenden, die eigentlich Auslöser für alle meine negativen Gefühle war. Je gemeiner ich mich benommen habe, desto mehr Anerkennung bekam ich von denen, die mich noch vor kurzer Zeit selbst fertig gemacht haben.
Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte ich mich endlich Selbstbewusst und Überlegen. Dabei bekam ich gar nicht mit, wie sehr ich andere verletzte. Ich habe mich nur um mein eigenes Wohlergehen gekümmert und fühlte mich gut, wenn andere wegen mir zu weinen anfingen. Mein einziges Glück lag darin, anderen weh zu tun und ich stieß alle weg die mich liebten, nur um zur Gruppe der Beliebten zu gehören. Ich habe nicht erkannt, wie falsch es ist. was ich da gemacht habe. Ich glaubte, ich wäre endlich der tolle Mensch geworden, der ich immer sein wollte. Ich habe in den falschen Leuten ein Vorbild gesehen und andere schlecht zu machen war der einzige Weg dabei, mit mir selbst und mit ihnen klar zu kommen. Ich wurde zu dem, was ich früher selbst gehasst habe. Ich schickte andere in die gleiche Hölle, durch die ich früher musste. Alles nur weil ich Angst hatte, wieder selbst das Opfer zu werden. Alles nur, weil ich die Flamme des Hasses in mir nicht ersticken konnte.
Dass ich meine Taten jetzt bereue, macht die ganze Aktion auch nicht besser. Was ich anderen angetan habe, kann ich nicht mehr zurück nehmen. Vor allem was ich dir angetan habe, lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Ich habe ein Monster in mir erweckt, das ich nicht mehr bändigen konnte. Jetzt sitze ich hier und habe Angst, meinen Mund zu öffnen. Denn ein Teil des Monsters ist immernoch tief in mir drin und ich weiß, dass es immer wieder erneut rausbrechen kann. Etwas in mir hat sich grundlegen geändert, ich bin nicht mehr das liebe Mädchen, welches ich einmal war. Ich bin zwar aufgewacht und habe aufgehört, Scheiße zu bauen. Trotzdem lauert die Gefahr, dass ich aus Unsicherheit in mein altes Verhalten zurückfalle. Von meinen ganzen Aktionen ist ein nicht zu füllendes Gefühl von Leere geblieben. Ich hoffe, dass es irgendwann aufhört. Vielleicht wenn ich es eines Tages schaffe, mich selbst mehr zu lieben. Aber bis dahin ist es noch ein sehr weiter weg.
Du sollst diesen Brief nicht als Entschuldigung sehen. Denn ich weiß, dass ich mein Verhalten mit nichts auf dieser Welt rechtfertigen oder entschuldigen kann. Sieh es einfach als kläglichen Versuch einer Erklärung. Ich habe in meinen Hintergedanken immer versucht, das Monster zu vertreiben. Aber ich konnte es nicht, denn das Monster war schon ein Teil von mir, das Monster war ich und ich hatte schon längst den richtigen Weg verloren. Ich wollte fliegen und als ich endlich flog, war es doch nicht real.
Ich hoffe, dass es dir gut geht und du ein besseres Leben führst. Ich wünsche mir nurnoch das Beste für dich, nach allem, was ich zerstört habe.
Ich hoffe, du hasst mich nicht dafür.