Inspiriert von: https://youtu.be/LXjPnw6XAoA
Schwer atmend drückte ich die Tür des 'Cozy Café' auf, meines Zufluchtsortes. Wie immer huschte mein Blick durch den beinahe menschenleeren Raum und traf auf den Blick des Mannes hinter der Theke, der es jeden Tag schaffte meine Bemühungen, nicht in seine Augen sehen zu müssen, zunichte zu machen, als wolle er mir klar machen, dass er mich im Auge behalten würde. Vielleicht wirkte ich, da ich bisher jedes Mal Entschuldigungen stotternd aufgesprungen war, sobald er meinen Tisch am Fenster angesteuert hatte, auch einfach zwielichtig auf ihn - wer konnte es ihm auch verdenken.
Immerhin kehrte ich jeden Tag mit dem gleichen gehetzten Gesichtsausdruck hier ein, setzte mich an den selben Tisch, sprach nicht, bestellte nichts und breitete mit bebenden Fingern meine Sachen auf dem Tisch aus, als wolle ich klarmachen, dass hier auch wirklich kein anderer mehr Platz finden würde. Dieses Verhalten war lächerlich, das war mir bewusst, denn selbst ich hatte das 'Cozy Café' noch nie mit mehr als der Hälfte der Tische besetzt erlebt. Hier war nie etwas los und vielleicht hatte sich dieses kleine, in der Masse der bunten Fassaden untergehende Café deshalb in mein Herz geschlichen.
Meinen Laptop hochfahrend, den ich gleich als erstes aus meiner braunen Umhängetasche gezogen hatte, die mich nun schon seit viel zu vielen Jahren begleitete, riskierte ich einen Blick auf den lebendigen Platz auf der anderen Seite der Scheibe. Dort eilten hunderte Menschen in hundert verschiedene Richtungen davon - ich seufzte. Nach Monaten hatte sich noch immer nichts geändert, gestand ich mir ein. Meine Schultern fielen nach vorn während ich die Menschen beobachtete wie in einem Film, bei dem ich den Ton ausgeschaltet hatte.
Noch immer schlug mir das Herz bis zum Hals, sobald ich meine Wohnung verließ und beruhigte sich erst, wenn ich mich hinter diese sichere Scheibe in die Stille geflüchtet haben. Noch immer zitterten meine Hände und all die Gedanken wollten einfach nicht verschwinden, egal wie oft ich mir sagte, dass sie irrational waren. So eilte ich noch immer mit gesenktem Blick und hochgezogenen Schultern an den Massen vorbei und ließ mich von dieser Stimme in mir verrückt machen.
Ich schüttelte den Kopf, gab das Nachdenken auf und richtete meine Aufmerksamkeit auf etwas Sinnvolles. Ich loggte mich in mein e-Mail Postfach ein und began zu lesen. Mein Chef hatte mir neue Aufgaben zugeteilt - seine Ausdrucksweise wirkte, als wäre er schon wieder unzufrieden mit mir, als hielte er nicht viel von mir und den Ergebnissen, die ich lieferte. Ich brachte es nicht übers Herz, die verbleibenden Mails zu lesen und ließ meinen Blick erneut nach draußen schweifen. Der Hubertus-Platz hatte sich ein wenig gelehrt und wirkte entschleunigt. Die Leute stießen einander nicht mehr an, in der Bemühung, schneller voran zu kommen und ich beobachtete ein Pärchen, das Photos machend über die Pflastersteine schlenderte. Ich malte mir aus, wie es wäre, mit einem Menschen so vertraut zu sein, mit ihm seine Zeit zu verbringen.
Ail hatte mir damals, vor einigen Wochen davon vorgeschwärmt, wie schön es sei, Zeit mit jemandem zu verbringen, den man liebt. Sie und ihr Freund hatten geplant, für zwei Wochen nach Spanien zu fliegen und sie war schon Wochen davor für nichts anderes mehr zu begeistern. Ich fragte mich, wie sie Spanien wohl so fand, jetzt wo sie wirklich da war. Vielleicht sollte ich mich bei ihr melden, überlegte ich, doch dann wirkte der Gedanke schnell zu anhänglich. Ich wollte nicht zu bedürftig wirken, immerhin sollte sie nicht wissen, dass sie eine meiner einzigen Freundinnen - vielleicht sogar die einzige - war und mich bemitleiden.
Ich löste meinen Blick von meinem Zeichenblock, den ich häufig anstarrte, sobald ich mich in Gedanken verlor und bemerkte den Stift in meiner Hand erst, als er zwischen meinen Fingern zu kreisen begann. Wie von selbst hob sich mein Blick, als der Stift sich auf das weiße Papier senkte. Meine Augen blieben an Turnschuhen hängen, die nicht durch die Gegend hetzten, sondern sich an Ort und stelle umkreisten, als würde die Person etwas - oder jemanden - suchen. Ich fühlte wie die Bleistiftmine das verschlissene Logo des alten Stoffes für die Ewigkeit festhielt und ließ meinen Blick über ausgewaschene Jeans, die um dünne Beine schlackerte, weiter nach oben wandern. Der Mann trug eine dunkle Strickjacke, in dessen Taschen seine Hände verborgen waren und ein einfaches, weißes Shirt, das an ihm herunterhing, als hätte er es sich von seinem großen Bruder geborgt. Das Gesicht war mir mittlerweile zugewandt und die Haut besaß einen satten braun-goldenen Ton, der mich vermuten ließ, dass seine Wurzeln nicht in Europa lagen. Ich musterte das schmale Gesicht bis ich einem dunklen Augenpaar begegnete, das mich genauso interessiert betrachtete.
Bestürzt glitt mein Blick vom Unbekannten ab und landete auf dem Tisch, unter dem meine Hände zueinander gefunden hatten. Das Knacken der Gelenke hallte durch den Raum zusammen mit meinem panischen Herzschlag. Die Scham kämpfte gegen den Drang zu wissen, wie der Fremde reagierte - ob er sich einfach abwandte oder mit welchem Blick er mich mussterte. Bestimmt hielt er mich für einen Stalker oder noch schlimmer - einen Perversen, so wie ich ihn angestarrt hatte. Das kleine Glöckchen kündigte einen eintretenden Kunden an und mein Blick schoss nach oben, nur um erneut diesem dunklen Augenpaar zu begegnen. Ich ersrarrte und sank weiter in meinem Stuhl zusammen, betete im Stillen dafür, dass er mir nicht näher kommen würde.
Alles Betteln schien vergebens, als der Stuhl mir gegenüber knarzend über den Boden gezogen wurde und das Rascheln der Kleidung verkündete, dass der junge Mann sich niedergelassen hatte - ungeachtet meines deutlichen Besitzanspruches. Einige Zeit blieb es ruhig und ich fühlte den leichten Schweißfilm, der sich Aufgrund der Ungewissheit über seine Gedanken über mich immer weiter ausbreitete. Doch ich war zu schwach und zu feige um aufzusehen und der Abneigung, der Empörung oder der Wut zu begegnen, die mein Starren in ihm ausgelöst haben musste.
"Mein Name ist Eldad." Die dunkle, mit einem Akzent getränkte Stimme ließ sich meinen Magen zusammenziehen und ich traute mich nicht, aufzusehen - die Scham war zu groß.
"Weißt du, ich... will dich nicht stören, ich..." Ich versuchte mich damit abzulenken, seine Herkunft einzugrenzen, versuchte diesen Akzent zu bestimmen und registrierte seine Worte kaum.
Etwas berührte meinen Arm und ich schrag zurück, vergaß meinen Zwiespalt zwischen dem nordafrikanischen und arabischen Raum augenblicklich. Wieder begegneten sich unsere Blicke und dieses Mal überkam mich nicht der Drang, meine Augen sofort nieder zu schlagen. Denn statt der negativen Gefühle, die ich erwartet hatte zu sehen, fand ich in seinem Gesicht etwas anderes.
"Ich wollte nur..." Eldad suchte nach den richtigen Worten. Ob es daran lag, dass er nicht auf seine Muttersprache zurückgreifen konnte oder daran, dass er nicht wusste, was er sagen wollte, wusste ich nicht. Doch in seinen Augen fand ich eine Art Verständnis, die mich überraschte. Er schien mich nicht merkwürdig zu finden, mich nicht wegen meines Verhaltens zu verurteilen - mich so zu akzeptieren.
"Ich wollte fragen, ob es dir gut geht, ob alles in Ordnung ist." Er sah mich fragend an und der magische Moment war vorrüber - meine Instinkte übernahmen erneut.
"Ich wollte nur sehen, ob ich dir helfen kann." Ich merkte, wie seine Aufmerksamkeit sich auf etwas anderes legte als mich und wollte erleichtert aufatmen, doch irgendetwas versuchte sich in mein Bewusstsein zu kämpfen, irgendetwas, das ich vergessen hatte. Das Blut schoss mir zur selben Zeit ins Gesicht, wie meine Hand zu meinem Zeichenblock, auf den ich eine blinde Skizze von Eldad gekritzelt hatte. Meine Finger griffen ins Leere und meine geweiteten Augen suchten den Tisch danach ab, bis der Block vor mir auftauchte - fremde Finger schoben ihn zu mir.
"Entschuldigung, ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen..."
Stille kehrte zwischen uns ein, unangenehme Stille, die ich nicht plante zu unterbrechen und so hörte ich sein Seufzen klar und deutlich. Ich hatte es also fertig gebracht einen weiteren Menschen zu verschrecken - wie alle vor Eldad. Vielleicht war ich es einfach nicht wert seine Zeit mit mir zu verbringen, vielleicht war ich einfach zu langweilig oder merkwürdig oder feige, um es lange mit mir auszuhalten. Es gab einfach bessere Menschen als mich - welche, die besser aussahen, schlauer, sportlicher oder lustiger waren. Vielleicht waren auch einfach alle Menschen interessanter als ich...
"Weißt du, ich hatte nur das Gefühl... Ich kenne das Gefühl..." Eldad brach seinen Satz ab und ich meinte zu hören, wie etwas seine Haare durchfuhr - wahrscheinlich seine Hand. Dann holte er tief Luft und setzte erneut an.
"Weißt du, ich glaube ich weiß wie du dich fühlst - zumindest ein bisschen. Ich... habe auch Probleme und das ist nichts, wofür man sich schämen muss." Seine Stimme gewann mit jedem Wort an Kraft und die Überzeugung für seine letzten Worte waren unverkennbar.
Nervosität kontrollierte mein Denken, als ich doch wirklich in Erwägung zog, ihm von meiner Diagnose zu erzählen, die ich vor so vielen Jahren erhielt. Aber traf es denn überhaupt noch zu, nach all der Zeit? War ich einfach zu weinerlich unf machte aus der Mücke einen Elefanten? Ich stellte mich doch täglich meiner Angst - also musste sie doch längst schwächer geworden sein, oder?
Für eine Sekunde überkam mich Entschlossenheit und in diesem Moment traf ich meine Entscheidung, sah auf und brachte die Worte hinter mich.
"Ich bin Steff. Mir geht es nicht gut. Ich habe soziale Phobie." Meine Hände zitterten und ich schwitzte, als würde um mich herum gerade die Welt untergehen, doch das Lächeln, das sich auf seine Lippen schlich, ließ mein Herz stehenbleiben.
"Hallo Steff, schön dich kennen zu lernen. Danke, dass du mir das anvertraut hast."