Zunächst schien es zu weit entfernt, um in irgendeiner Art und Weise gefährlich werden zu können. Dabei blieb es jedoch nicht. Das fremde Schiff hielt seinen Kurs und verringerte stetig den Abstand. Es hieß, dass sich Seeräuber immer wieder am Rande der Ejszo-Strömung auf die Lauer legten, um auf das Ryf hinaustreibende Schiffe abzufangen und zu kapern.
Die Besatzung tat, was in ihrer Macht stand. Jeder Fetzen Segeltuch wurde gesetzt. Überflüssiger Ballast über Bord geworfen. Hart am Wind gekreuzt. Doch war alle Mühe vergebens.
Als der Waldläufer sich anschickte, seinen Besitz an Deck zu bringen und über Bord zu werfen, wurde er mit Gewalt davon abgehalten. Von Seeräubern aufgebracht zu werden, war wenig erstrebenswert. Sie wissentlich um ihre Beute zu bringen, jedoch töricht und gefährlich.
Das Qárib war ein schneller Segler mit schlankem Rumpf. Mühelos holte es das schwerfällige Kraék ein. Die Entermannschaft stand hinter dem Schanzkleid bereit. Wie sie ihre Entermesser und -beile, vereinzelt sogar Kreuzbögen schwangen, aus voller Kehle brüllten und drohten! Welch wilde Gesellen. Ohne jeden Zweifel: Seeräuber!
Ein greller Blitz, gefolgt von rollendem Donner. Vor dem Bug des Küstenseglers schoss eine Fontäne aus dem Wasser. Sonderlich beeindruckend fand Vondel sie nicht. Dennoch beeilte sich der Kapitän, die Flagge zu streichen. Jenes einzelne Feuerrohr beendete den Konflikt, bevor er begann.
Enterdreggen brachten das Seeräuberschiff längsseits. Dutzende Männer enterten den Küstensegler. Trieben Besatzung und Passagiere zusammen. Durchsuchten das Schiff vom Kiel bis zu den Marsen.
Vondel duckte sich ans Schanzkleid und beobachtete das Treiben. Aus der Nähe schienen die Seeräuber weit weniger Furcht einflößend. Ohne ihre Waffen jedoch glichen sie den Seeleuten des Kraék. Hagere Kerle in zerschlissener Kleidung, drahtig und wieselflink in ihren Bewegungen. Ein ihm seltsam bekannter Seeräuber mit gewaltigem Enterhaken wies ihnen Wege zu Lasten und Kajüten. Aber natürlich! Rattengesicht. Jener merkwürdige Zeitgenosse, der in Grimstadt das Schiff verließ. Durch ihn erfuhren seine Kumpane alles Wissenswerte über den Küstensegler, seine Fracht und die Route. Welch durchtriebenes Diebespack, deren Begeisterung über ihren Fang sich in Grenzen hielt. Keine Reichtümer, die sie bis an das Ende ihrer Tage satt und zufrieden machten. Allerdings war wehrlose Beute stets willkommen. Ganz gleich, was und wieviel es war.
Die Besatzung des Küstenseglers wurden auf das Qárib verbracht und durch Seeräuber ersetzt. Ohne viel Federlesens trieben sie die Passagiere unter Deck und machten klar Schiff.
Vondel durchlebte ein Gefühlschaos. Während ihm der Verlust seines Vaters und der vertrauten Heimat den Boden unter den Füßen weg zog, befand er sich nun in einem psychischen Ausnahmezustand. Ihm entglitt die Kontrolle über seine Zukunft. Das spürte er. Doch sah er keinen Ausweg! Eine Zeit lang folgte er dem Beispiel seiner Leidensgenossen und übte sich in Selbstmitleid. Das brachte ihn nicht weiter.
So besann er sich auf vergangene Zeiten. Wie oft er seinem Vater selig in dessen Werkstatt zur Hand gegangen ist. Jawohl, er kannte sich aus im Handwerk eines Zimmermannes. Jenen Erfahrungsschatz nutzte er zu seinem Vorteil, als er sich der Räuberbande als Gehilfe für den Schiffszimmermann andiente. Da jede Hand benötigt wurde, um das Schiff auf Kurs zu halten, verzichteten die Seeräuber nicht auf sein handwerkliches Geschick und ließen ihn verschiedene Arbeiten ausführen.
Auf dem heruntergekommenen Schiff fand sich reichlich Arbeit, die Vondel Spaß machte. Sie lenkte ihn vom täglichen Einerlei, dem Wehklagen der anderen Gefangenen und der eigenen düsteren Zukunft ab.
Die Seeräuber derweil blieben distanziert, kühl und grob. Lediglich ein alter Haudegen versuchte in einem stillen Moment, ihm die Ängste zu nehmen. Sklaven, so meinte er, erarbeiten den Reichtum, auf dem die Macht und der Einfluss ihrer Herren ruht. Dies mache sie wertvoll. Vor allem Handwerker. Gehört habe er, dass besonders loyale und verdiente Meister, obgleich sie Sklaven seien, in unerhörtem Prunk lebten. Vondel konnte nicht sagen, ob ihm jenes Seemannsgarn beruhigte.
Mit südwestlichen Kurs entfernte sich die Kraék weiter und weiter von der Küste. Das Ryf war ruhig und die Sonne schien jeden Tag ein wenig heller und wärmer.
Eines Tages jedoch verfielen die Seeräuber in emsige Betriebsamkeit. Vondel unterbrach seine Arbeit und begab sich just zu jenem Augenblick an Deck, als die Sonne hinter einer monströsen nachtschwarzen Wetterwand verwand und die Welt in diffuses Halbdunkel tauchte.
Ein Ryfsturm!