Und manchmal kommt im Leben alles anders als geplant, einfach so, ohne, dass man es je hätte ahnen können.
Mit gerunzelter Stirn trug die Frau in dem weissen Kittel die Werte auf ihrem Klemmbrett ein. Nachdem bei der jungen Patientin Innere Blutungen festgestellt worden waren, hatte sofort eine notfallmässige Operation stattgefunden. Zuerst war alles gut gegangen, aber jetzt hatte das Mädchen erhöhte Temperaturen und alles wies auf eine Infektion hin.
«Sara,», rief sie einer Pflegerin zu, «kannst du für die Patientin auf Zimmer 236 bitte die Verlegung auf die Intensiv vorbereiten? Verdacht auf Infektion nach einer Nachoperation zu der Behebung einer Fallot’schen Tetralogie.»
Die dunkelhaarige Frau in der hellblauen Pflegeruniform nickte und eilte den Gang hinunter davon. Die Ärztin beobachtete das Mädchen noch einen Moment lang nachdenklich, bevor sie sich abwandte.
Das Mädchen war kaum bei Bewusstsein. Ein leichter Schweissfilm hatte sich über ihr Gesicht gelegt und selbst im Schlaf war ihre Miene schmerzverzerrt.
Neben ihr auf einem einfachen Plastikstuhl sass eine Frau und hielt die Hand ihrer Tochter. Sie hatte ihre Arbeit und sich selbst vernachlässigt, um stattdessen jede Sekunde bei ihrem Kind zu verbringen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass ihre kleine Viviane die Augen öffnen würde, dass sie wüsste, ihre Mutter war bei ihr.
Vielleicht war es Zufall, vielleicht war es Schicksal, aber für einen Moment hob das Mädchen tatsächlich die Lider und ein Lächeln leget sich auf ihre Züge, bevor sie erneut von der Dunkelheit übermannt wurde.
Strahlend war ihr Lächeln, als Viviane sich in dem hellen Raum wiederfand. Der Junge erwartete sie schon und glücklich warf sie sich ihm in die Arme. Finn wirbelte sie herum, vergrub sein Gesicht in ihrem Haar und küsste sie.
Hand in Hand spazierten sie durch das Museum, betrachteten die Bilder an den Wände, standen ein letztes Mal vor der grossen Scheibe im Café und liessen die Beine über die Dachkante baumeln. Viviane legte den Kopf an Finns Schulter und beobachtete wie die Sonne dem Horizont entgegenkroch. Sie spürte die wärmenden Strahlen auf ihrer Haut, Finns Arm, der sich um ihren Körper legte.
Alles hatte eine gewisse Endgültigkeit.
Es war das Ende.
Beide wussten, dass Dzana heute nicht auftauchen würde. Beide wussten, dass ihnen nur noch das jetzt blieb. Ein einziger Moment, der jede Sekunde zu Ende sein konnte.
Als es schliesslich soweit war, trat eine Frau in einem schwarzen Gewand aus den Schatten heraus. Ihr Gesicht war wie das ihrer Schwester Dzana makellos, doch sie war von einer dunklen Aura umgeben. Es war keine bedrohliche Finsternis, eher wie weicher Samt. Samt, der einem umhüllte und friedlich einschlafen liess.
Langsam schritt die Frau auf die beiden Jugendlichen zu.
«Es ist Zeit», flüsterte Viviane. Finn nickte bloss.
Ihre Hände fest ineinander verschränkt, standen sie sich gegenüber. Sie schwiegen, denn es gab nichts zu sagen. Sie genossen einfach nur ihren letzten gemeinsamen Moment.
Keine Worte der Welt hätten ausdrücken können, was ihr Schweigen sagte.
Schliesslich war es das Mädchen, die den Blickkontakt unterbrach. Sie liess den Arm sinken und entzog ihre Finger ganz behutsam Finns Griff. Dann ging sie zu der schwarzgekleideten Frau hinüber und gemeinsam traten sie zur der Türe am andern Ende des Raumes.
Sie drehte sich nicht um, sondern hielt den Blick starr geradeaus gerichtet. Auf den Weg, der vor ihr lag, auf die Reise, die ihr bevorstand.
Und zurück blieb ein Junge mit gebrochenem Herzen, das verzweifelt versuchte den Schmerz zu verkraften. Und eine einsame Seele, die dem Licht den Rücken zuwandte, als das Herz begriff, dass es verloren hatte.
Und Hand in Hand schritten sie dem Horizont entgegen und schauten nicht zurück, auf der Suche nach dem Reich hinter den Sternen.
Ende