Er fiel. Und das rasend schnell. Dann prallte er gegen die Felswand. Schmerzen durchzogen seinen Körper, der Karabiner glitt das Seil herab und er ebenfalls, bis es ihm gelang, das Seil zu fassen zu kriegen. Der Griff schmerzte. Er wagte es nicht, an sich herabzusehen, aber er fühlte die Schmerzen, spürte sie ihn zu übermannen drohten und sich seiner Konzentration bemächtigten.
31101517 aktivieren, murmelte er, während er versuchte sich hochzuziehen. Er bemerkte die Besorgnis des Systems. Sofort eine Dosis Hikur.
Das System widersprach nicht und er war dankbar dafür. Zunächst zitterten nur seine Hände, dann zuckte sein ganzer Körper, als die Blutbahnen von der Droge überschüttert wurden. Er schrie auf, als er das Seil ein Stück hinab glitt und ihm die Haut von den Händen abgerieben wurde. Blut ließ seinen Griff rutschig werden, doch gelang es ihm, sich ein Stück heraufzuziehen, bis er einen kleinen Felsvorsprung erreichte, auf dem er die Füße zumindest abstützen konnte. Dort harrte er aus, bis die Droge vollständig wirkte. Nun musste er sich einreden, dass die Schmerzen noch da waren, weil er sie nicht länger spürte und den Übermut bremsen. Auf einmal schien der Weg nach oben nur noch halb so hoch zu sein. Vorsichtig wischte er das Blut von seinen Händen an seiner Hose ab, dann umfasste er das Seil erneut mit beiden Händen.
„Ihr müsst mir helfen“, schrie Layiel über ihm, „Alleine kann ich Euch nicht hinaufziehen.“
Was dachte der Kerl eigentlich über ihn? Nantwin hatte schon viel schwierigere Situationen überwunden und dabei keine Hilfe von einem halbstarken Weltverbesserer benötigt. Ohne eine Antwort zu geben, umfasste er das Seil erneut mit beiden Händen und begann sich heraufzuziehen. Neben ihm krachte ein Schuss und Felsbrocken fielen herab, aber sie waren für ihn ungefährlich. Einmal verschätze er sich in der Höhe und der Fuß, den er auf einen Absprung hatte stehen wollen, rutsche ab, doch gelang es ihm, den Sturz zu verzögern. Dieses Mal spürte er den Schmerz der aufgeriebenen Hände nicht mehr, auch wenn das Blut seinen Griff rutschig werden ließ. Endlich war es geschafft.
Die Hand, die Layiel ihm reichte, als er sich hinaufzog, ergriff er dennoch nicht. Mühsam richtete er sich auf und verzog das Gesicht, als sich dabei Steine in seine Handfläche bohrten. Die Wirkung der Droge hielt nur kurz an und schien bereits nachzulassen. Der Rahosi stand vor ihm, hielt immer noch das Seil in der Hand, das er anscheinend gesichert und mit hochgezogen hatte. Wenn er nicht so erschöpft wäre, hätte Nantwin nun über diesen Narren geflucht. Dass dieser ihm geholfen hatte, verursachte ihm mehr Schmerzen als die körperlichen Verletzungen, die er sich zugezogen hatte. Verletzter Stolz war etwas Grausames und Nantwin hatte reichlich viel davon.
„Ihr hättet loslassen können“, stellte er schließlich fest und starrte den Rahosi verdrossen an.
„Das hätte ich“, stimmte Layiel zu, der sich in der Zwischenzeit auf einem Stein niedergelassen hatte und sein Bein untersuchte.
Nantwin nickte ruckartig. „Glaubt aber nicht, dass ich Euch deshalb verschone“, knurrte er.
Ein sanftes Lächeln zog sich über das Gesicht seines Feindes.
„Urteilt nicht zu voreilig. Vielleicht bin ich es auch, der Euch tötet.“
Sein Gesprächspartner schnaubte nur auf.
Stille.
„Wir sollten weiter“, erklärte Nantwin schließlich, während er Stoff von seinem Hemd abriss und sich einen notdürftigen Verband um die rechte Hand wickelte. Die linke war weniger stark betroffen und auch wenn es schmerzte, musste er weiterhin in der Lage sein, eine Waffe zu führen.
„Warum habt Ihr mir Eure Ersatzmunition nicht gegeben?“, fragte der Rahosi, ohne von seiner Wunde aufzusehen, die er nun von Stoff befreit hatte.
„Weil ich unerfahrene Schützen kenne“, entgegnete der Pilot ohne Schiff und stellte sich direkt vor Layiel. „Wenn sie das Gefühl haben, zu wenig zu haben, haushalten sie eher, als wenn sie mehr Kugeln haben.“ Die Wahrheit, dass er mindestens zwei Kugeln im Lauf hatte übrig haben wollen, um Layiel abzuknallen, falls er es gewagt hätte, das Messer an das Seil zu halten, verschwieg er, auch wenn er nicht wusste wieso. Statt ihn einfach in den Fluss stürzen zu lassen, wie Nantwin es getan hätte, hatte Layiel ihn hinaufgezogen. Diese Tatsache verwirrte ihn mehr als er geglaubt hätte.
„So“, spottete er, „Ihr glaubt mich also zu kennen.“
„Das habe ich nicht gesagt“, widersprach Nantwin, derweil er zum Himmel empor sah, der rasch dunkler wurde, „Ich kenne nur unerfahrene Schützen.“
„Ihr kennt menschliche Schützen“, verbesserte der Sitzende ihn, „Über mich und mein Volk wisst ihr rein gar nichts.“ Der Ton seiner Stimme war bissig.
Der Andere zuckte nur mit den Schultern. „Wenn Ihr meint“, entgegnete er gleichgültig. „Wir sollten dennoch jetzt weiter.“
„Ihr wollt einen Nachtmarsch bei unbekanntem Gelände wagen?“, fragte Layiel ungläubig.
„Ich mag Euer Volk nicht kennen, aber ich kenne Schmuggler und ich weiß, dass sie wiederkommen werden.“
Nantwin griff nach seinem Rucksack und setzte ihn sich auf.
„Einen Moment noch“, bat Layiel.
„Einen Moment“, stimmte Nantwin knurrend zu, bevor er zu der Felsnadel ging, das Seil löste und wiederaufrollte.
Als er zurücksah, konnte er nicht anders als die Augen zu verdrehen. Da saß dieses egoistische, merkwürdige Wesen und hatte nichts Besseres zu tun, als in seinem Buch zu lesen, von dem ein leichtes Licht ausging.
Er bemerkte Nantwins Blick und sah auf.
„Wir sollten uns einen Ruheplatz suchen und schlafen. Diese Nacht werden sie nicht kommen“, meinte er mit einer Endgültigkeit in seiner Stimme, die sein Gegenüber die Stirn runzeln ließ. Layiel erhob sich, humpelte zu seinem Bündel und setzte es auf, um sich kurz darauf in Bewegung zu setzen.
Was dachte dieser unverschämte Flegel sich eigentlich? Nicht im Geringsten bereit, dem Kleinen die Führung zu überlassen, huschte Nantwin an ihm vorbei und setzte sich an die Spitze.
„Habt Ihr das etwa in Eurem Buch gelesen?“, fragte er schließlich.
„Ja“, entgegnete dieser.
„Wirklich?“ Nantwin gluckste leise. „Dieses Wunderwerk müsst Ihr mir einmal ausleihen. Vielleicht verrät es uns ja auch den Weg nach Hause.“
„Nein.“
„Nein?“, verblüfft blickte der Mensch ihn an.
„Nein“, bestätigte der Rahosi, „Es ist weder verleihbar, noch wird es uns den Weg nach Hause offenbaren.“
„Das enttäuscht mich jetzt aber“, gab Nantwin zu, „Ich hätte mir jetzt ein Märchen über einen Baum, der besondere Kräfte beherbergt und aus dessen Holz das Buch gefertigt ist, wundersame Wesen, die auf Eurem Planeten herumgammeln und was Euer Volk sich sonst noch so an Geschichten erzählt.“
Ruckartig schoss Layiels Hand vor und erfasste ein Wams.
„Seid Ihr eigentlich immer so arrogant?“, zischte er, „Aber das ist bei Eurem Volk ja nichts Neues.“ Seine Augen blitzten, als er Nantwin losließ.
„Diese Arroganz wie Ihr sie nennt“, erklärte der Mann, während er seine Kleidung gerade strich, „Hat mir schon allzu oft das Leben gerettet“
Layiel schüttelte nur den Kopf, dann setzte er sich erneut an die Spitze. Dieses Mal war es Nantwin, der an seiner Seite ging und ihn zurückhielt.
„Ihr habt keine Ahnung, was mein Leben bedeutet, also hört auf mich zu beurteilen“, wisperte er leise.
„Was haltet Ihr davon, wenn wir einfach aufhören, uns gegenseitig zu beurteilen“, schlug Layiel vollkommen gelassen vor.
Machte der Rahosi sich die Welt immer so einfach? Kein Wunder, dass er sich jetzt auf diesem verfluchten Planeten feststeckte. Wobei er selbst ja auch nicht viel besser dran war.
Nantwin kicherte leise. Was für eine verdammte Situation.
Als sie noch einige Zeit still nebeneinander her gewandert waren, gab Nantwin Layiel Recht: Sie benötigten eine Pause, sonst würde keiner von ihnen am nächsten Tag fähig sein zu kämpfen.
„Also gut“, willigte er ein, „Aber nur ein paar Stunden. Vor Sonnenaufgang müssen wir wieder auf den Beinen sein.“
Layiel nickte nur. Wahrscheinlich war er zu müde um zu reden.
Sie fanden eine Kuhle, die von allen Seiten von Fels umgeben war und kaum einsehbar war, wenn man nicht über sie stolperte. Hier sollten sie vorerst sicher sein.
Zwar nahm Nantwin sich vor, wach zu bleiben, doch nur nach wenigen Minuten war er ebenso eingeschlafen wie Layiel.
Als er am nächsten Morgen erwachte, wusste er zunächst nicht, wo er sich befand. Erst als er den Knauf seines Dolches neben sich und den Felsboden unter sich erspürte, erinnerte er sich. Zu seinem Erstaunen und Erschrecken erblickte er Layiel nirgendwo. Das Lager, das dieser am Abend errichtet hatte, war verlassen. Nantwin griff nach seinem Schwert, sprang auf und beobachtete misstrauisch die Gegend. Wo war sein merkwürdiger Begleiter? Weit weg konnte er nicht sein, denn sein Lager war noch nicht aufgeräumt.
Dann erblickte er die kleine Gestalt oberhalb der Kuhle auf einem Felsen sitzend. Die Sonne war bereits aufgegangen und Nantwin verfluchte den Schlaf, der ihm Zeit gestohlen hatte, die er dringend benötigt hätte.
Noch mehr jedoch verfluchte er jenen Rahosi, der ihn jetzt anblickte. Es war seltsam, sich so zu betrachten. Am vorigen Tag waren sie aus der Not heraus Verbündete gewesen und nach der Schluchtüberquerung waren sie zu müde gewesen, um an irgendetwas anderes als Ruhe zu denken. Aber jetzt, wo sie beide ausgeschlafen, erholt und kampfbereit waren, bestand eine völlig andere Situation. So lag Nantwins linke Hand auf dem Knauf seines Schwertes, sicher war sicher.
Layiels linke Hand hielt dagegen ein Buch, jedes Buch, in dem er auch in den Tagen zuvor so eifrig geblättert habe.
„Ihr könnt die Waffe loslassen“, meinte der Rahosi und vollführte eine einladende Geste, dass der Andere sich neben ihn setzen sollte.
Nantwin blieb stehen, trat aber noch einen Schritt näher heran. Die Hand lag weiterhin auf den Knauf der Waffe.
Sicherlich bemerkte es sein Gegenüber, doch ging er nicht darauf ein.
„Heute ist nicht der Tag, an dem ich Euch töten werde.“ Wenn man ihn jetzt so sah, mochte man kaum glauben, dass diese kleine Gestalt ein Krieger und Mörder war. Die Hände nach hinten auf den Fels gestützt, das Gesicht den wärmenden Sonnenstrahlen entgegen gedreht und das Buch in seinem Schoss saß er da, ohne eine sichtbare Waffe in der Nähe.
„An dem Ihr mich töten werdet?“, fragte Nantwin spöttisch, „Ich glaube kaum, dass Euch das gelingen wird.“
Layiel drehte sein Gesicht von der Sonne weg und ihm zu, dann erklärte er ernst: „Ihr solltet mein Volk nicht unterschätzen, Soariw. Diesen Fehler haben schon viele begangen und wenige überlebten ihn.“
Den Begriff, den er soeben verwendet hatte, kannte der Mensch nicht. Was er jedoch wusste, war dass der Ton, in dem Layiel ihn ausgesprochen hatte, kein freundlicher gewesen war.
„Wenn das die Wahrheit ist“, entgegnete Nantwin und hob die rechte Hand, um den Verband zu überprüfen. Noch immer schmerzte sie. „Warum fiel mir dann so leicht, Euren Bruder zu töten?“
Alle Gelassenheit schwand aus Layiels Zügen, er ergriff das Buch mit der einen Hand und sprang auf.
„Lasst meinen Bruder aus dem Spiel“, zischte er, seine Augen zu Schlitzen verzogen, „Es war eine feige Handlung, ihn zu töten.“
„Eine feige Handlung, ja?“ Nantwins Stimme war leise und ruhig. „Das, mein lieber Freund, nennt man Rache.“ Er fing an, auf dem Gras auf und ab zu wandern. „Ihr wart nicht aufzufinden, wart geflohen und es ist mein Recht gewesen, sein Leben einzufordern für jenes, das Ihr genommen habt.“
Die Verzweiflung, mit der Layiel versuchte, sich zu beherrschen, wäre fast amüsant gewesen, wenn der Diskussionsgegenstand nicht so ernst gemeint wäre.
„Und warum willst du mich noch töten, wenn sein Leben das von Eurem Toten beglichen hat?“
Immer noch betrachtete Nantwin seine Hand und überlegte, ob er den Verband abnehmen sollte. „Weil das Leben eines Bauern das einen erfahrenen Soldaten nicht aufwiegen kann“, erklärte er gleichgültig.
Dieses Mal konnte der Rahosi sich nicht länger zurückhalten.
„Ihr seid solche Egoisten“, fauchte er und stand auf einmal vor dem Anderen, „Ihr habt keine Ahnung, was ein Leben für uns bedeutet! Ihr Menschen zeugt ein Dutzend Kinder, ohne euch groß darum zu kümmern, was aus ihnen wird, während wir…“
Abrupt ließ Nantwin seine Hand sinken.
„Wir kümmern uns um unsere Kinder.“ Dieses Mal zitterte seine Stimme. „Ich kümmere mich um…“ Er brach ab. Was ging es den Rahosi an, dass er seine Familie vermisste?
Aber dieser war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um dieses Eingeständnis von Schwäche zu beachten.
„Mein Bruder…Im nächsten Jahr hätte seine Frau ein Kind empfangen, das die Traditionen unseres Volkes weitergelebt hätte.“
Überrascht merkte Nantwin, dass seinem Gegenüber Tränen über die Wangen liefen. Dieses Mal entgegnete er nichts, sondern schwieg. Freilich nicht aus Respekt, sondern weil es für seinen Kommandanten interessant wäre, mehr über das kaum erforschte Volk der Rahosi und ihre Schwächen zu erfahren.
Layiel schien das Schweigen jedoch anders zu interpretieren, denn quasselte er ungehindert weiter.
„In Eurem Volk mag ein Krieger mehr wert sein als ein Bauer, doch bei uns sind die Wichtigsten die Laoja, die Erwählten. Sie sind die Einzigen, die fähig sind, Kinder zu zeugen.“
„Wer erwählt sie?“, fragte Nantwin leise.
„Die Bäume, deren Namen ich nicht aussprechen darf, weil Ihr nicht meinem Volk angehört.“
Nantwin schluckte die respektlose Antwort, die ihm auf der Zunge lag, eben noch hinunter, stattdessen nickte er.
„Mein Volk lebt mit ihnen in Symbiose. Wir beschützen sie vor Fressfeinden und anderen Gefahren, sie schenken uns Leben. Es gibt wenige von ihnen und jeder Baum erwählt nur einmal in seinem Leben ein Paar, das im nächsten Jahr bei der Vereinigung unter seinen Wurzeln ein Kind empfangen wird. Wenn das Kind geboren ist, stirbt der Baum und aus seinem Holz wird das Buch angefertigt, das jedes Mitglied meines Volkes besitzt.
Nantwin deutete auf jenes, das Layiel noch immer in der Hand hielt. „Ist es das?“
„Ja, dies ist mein Exemplar.“
„Was steht dort geschrieben?“
„Meine Geschichte.“
Nantwin runzelte die Stirn. „Ihr führt eine Art Tagebuch darin und schreibt Eure Geschichte auf?“, wiederholte er.
„Nein, ich habe nur geringfügigen Einfluss auf das, was dort geschrieben wird. Das Buch schreibt sich von selbst und ich lese nur, was mir geschehen ist, geschieht und teilweise auch was geschehen wird.“
„Ihr könnt lesen, was geschehen wird?“ Die Verblüffung auf seinem Gesicht war echt.
„Um genau fünf Minuten“, bestätigte Layiel.
Nantwin nahm es mit einem Nicken hin.
„Was geschieht, wenn alle Seiten gefüllt sind und das Buch zu Ende ist?“
„Dann ist mein Leben zu Ende und ich erfahre meinen Namen.“
„E-Euren Namen?“ Wie der Rahosi, den Nantwin Layiel nannte, in Wirklichkeit hieß, hatte ihn nie sonderlich interessiert. Dass er seinen eigenen Namen nicht kannte, überraschte ihn.
„Haben deine Eltern dich nie benannt?“
„Natürlich nicht“, entgegnete der Namenlose entrüstet, „Sie hätten nie gewagt, mich zu benennen und so zu riskieren, dass mein wirklicher Name und mit ihm mein Ziel, meine Identität verloren geht.“
„Aber wie haben sie dich dann gerufen?“
„Leser“, erklärte dieser mit einer Selbstverständlichkeit, als ob dieser Name bekannt und alltäglich wäre.
„Leser“, wiederholte Nantwin und versuchte dabei den spöttischen Unterton wegzulassen.
„Ihr dürft mich so nennen“, bot er an und fügte dann hinzu: „Euren Namen kenne ich ja bereits.“
Es hätte Nantwin nicht gewundert, wenn der Rahosi nun auch beginnen würde, zu pfeifen. Für ihn schien mit dieser kleinen Geschichte alles in Ordnung zu sein, so als ob das irgendetwas verändert hatte. Vielleicht war es aus seiner Sicht ein Vertrauensbeweis? Ihm war es gleich. Sein Volk hatte andere Traditionen als Sex zwischen den Wurzeln eines Baumes und diese verlangten, dass er sie erfüllte. Und er würde sie erfüllen, das hatte er vor sieben Jahren geschworen. Es hatte einen Grund, weshalb er ihn Layiel nannte, nach dem Mann, der Nantwins bester Freund gewesen war und den der Rahosi getötet hatte. Erst wenn er ihn tötete, würde die Seele seines Freundes Frieden finden und sein Name zurückerobert sein und dann könnte auch Nantwin ruhen. Aber das musste sein reizender Gesprächspartner nicht wissen.
„Also gut, Leser, was tun wir als Nächstes?“ Seinen Namen mochte ihn nicht interessieren, aber das Wissen über das strategische und logische Denken einer Person konnte sehr hilfreich sein, wenn man diese töten wollte.
„Wir kennen dieses Land nicht“, begann dieser ohne zu zögern, „Unsere Gegner, die sicherlich wiederkommen werden, jedoch schon. Ebenfalls sind wir in der Unterzahl, was bedeutet, dass wir entweder Verbündete suchen oder uns Hilfe rufen müssen. Ersteres wird, da wir den Planeten und seine Bewohner nicht kennen, eine sehr unsichere Sache. Das Zweite könnten wir schaffen.“
„Wodurch?“ Jetzt wanderten Nantwins Gedanken nicht, stattdessen fokussierte er sich voll und ganz auf sein Gegenüber, dessen Aussagen und Körperhaltung, um zu prüfen, ob er die Wahrheit sagte.
„Durch mein Buch bin ich mit meinem Clan verbunden, um in Kontakt mit ihnen treten zu können, benötige ich eine Feder. Mit dieser kann ich einen Hilferuf absenden.“
„Euer Clan, Leser, ist meinem Volk feindlich gesinnt.“ Seine sturmgrauen Augen musterten den Rahosi prüfend.
„Das ist richtig“, erklärte dieser. „Doch kennt mein Volk ein Konzept wie die Blutschuld nicht. Ihr wäret unser Gefangener, das ist ohne jeden Zweifel richtig, und müsstet solange warten, bis Ihr ausgetauscht werden würdest. Aber wir wollen Euch nicht töten wie unsere Verfolger.“
Nantwin konnte nicht verhindern, dass ein kleines Grinsen über sein Gesicht huschte. Layiel verwendete Argumente, die er selbst ebenso gehandhabt hätte. Das gefiel ihm.
„Da habt Ihr ohne jeden Zweifel Recht“, gestand er, dann fügte er hinzu:„Wo finden wir solch eine Feder?“
„In meinem Schiff, das in demselben See untergegangen ist wie die Manduchai.“
„Na wunderbar!“ Nantwin klatschte in die Hände. „Direkt in die Höhle des Löwen.“
„Ich mag es nicht, wenn man mich beleidigt“, erklärte Layiel, der sich selbst Leser nannte, steif.
„Das, Leser, nennt man Sarkasmus.“ Er schüttelte den Kopf.
„Aber wenn diese Feder einen Hilferuf absenden kann, bin ich bereit, das Risiko einzugehen noch mehr Zeit, mit deiner reizenden Sippe verbringen zu müssen.“ Erneut grinste er, dann wurde er plötzlich ernst.
„Sie kamen aus der Nähe, das heißt wir müssen sehr vorsichtig vorgehen und so dass sie uns nicht bemerkten.“ Wenn er alleine gewesen wäre, hätte er das Gesicht verzogen. Nichts hasste er mehr, als einen Gegner nicht einschätzen zu können. Er wusste, dass sie Schmuggler waren und ihn töten wollten, aber nicht wie sie kämpften, wo ihre Basen lagen und wie viele Männer sie zur Verfügung hatten.
„Wir könnten über den Fluss“, murmelte Layiel zunächst leise, aber dann sah er auf. „Ihre Gleiter brauchen Kontakt zur Erdoberfläche, was bedeutet, dass sie uns auf dem Fluss nicht folgen können. Wenn wir ein Floß bauen, können wir ihnen so entgehen. Laut der Karte meines Systems führt er in den See.“
„Wir wissen nicht, wie es weiter vorne aussieht“, gab Nantwin zu bedenken, „Außerdem können sie weiterhin auf uns schießen.“ Dennoch war dieser Plan gut und konnte funktionieren.
Er überwand die paar Schritte Distanz, die sie trennten.
„Okay“, erklärte er und lächelte freundlich, auch wenn sich dabei sein Magen umdrehen wollte, „So machen wir es und solange wir diesen Plan verfolgen, sind wir Verbündete.“
Die Hand, die Layiel ihm entgegen reichte, kam dennoch überraschend. Schweißtropfen rannen seinen Nacken herab, als er jene Hand ergriff, an der immer noch das Blut seines besten Freundes klebte.
„Hayachar“, meinte der Rahosi und auch wenn Nantwin dessen Sprache nicht verstand, wusste er instinktiv, dass es ‚Freund’ bedeutete.
Freund. In seinem Inneren formte er in seiner Sprache das Wort ‚Feind’, aber er sprach es nicht laut aus. Er wollte Layiel töten, aber noch mehr wollte er zu seiner Frau und seinen Kindern zurück. Wenn diese Lüge der Preis war, so war er bereit sie zu zahlen.
„Hayachar“, bestätigte er und lächelte.